Demokratiediskurs 1918-1925

Demokratiediskurs 1918–1925

Die sprachliche Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte der sprachlichen Demokratisierung, genauer: der Entwicklung von in weitestem Sinn demokratiebezogenen Wortschätzen, Konzepten und Kommunikationsformen, sowie der entsprechenden semantischen und kommunikativen Kämpfe. (s. Sprachliche Umbrüche).

Mit dem Diskurswörterbuch zur frühen Weimarer Republik markieren wir den Beginn einer sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts, deren Darstellung wir mit dem Diskurswörterbuch zum   Schulddiskurs 1945–1955 begonnen und mit dem   Diskurswörterbuch zum Protestdiskurs 1967/68 fortgeführt haben.

Die nachfolgenden Artikel bilden die Basis eines weiter auszuarbeitenden Diskurswörterbuchs zur frühen Weimarer Zeit, die eine zentrale Epoche der sprachlichen Demokratiegeschichte war. Sie sind aus Befunden erarbeitet, die in Kämper (2014) beschrieben werden.

Die für diese erste Stufe der Veröffentlichung ausgewählten Artikel repräsentieren den Demokratiediskurs 1918 bis 1925. Er ist – wie alle Umbruchprojekte – nach Diskursbeteiligten unterschieden. 'Diskursbeteiligte' sind diejenigen Personengruppen, die spezifischen, zeittypischen Diskursen Thema, Dichte und Dynamik geben. Sie bilden eine aus heterogenen Teil-Gemeinschaften bestehende komplexe Formation, die gekennzeichnet ist durch unterschiedliche Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte und ein je spezifisches Selbstverständnis der Beteiligten.

Die Instanz ‚Demokratie‘ und der Prozess der Demokratisierung werden im Kontext unterschiedlichster Aspekte des politischen Diskurses der frühen Weimarer Republik weltsichtabhängig-ideologisch konstituiert. Die Beteiligten der Weimarer Diskurse stellen die politische Mitte (die "Weimarer Koalition") dar, die den Diskurs der parlamentarischen Demokratie führen. Ihnen stehen gegenüber die hochideologisierten politischen Extreme der Rechten und Linken. Frauen und Jugendliche bestimmen als neue Akteurinnen und Akteure den Diskurs mit und fordern Partizipation, Artikulation, Teilhabe in der Demokratie ein.

Mit dem Zentralartikel Demokratie wird das Konzept ‚Demokratie‘ repräsentiert. Ein Konzept setzt sich aus einer Vielzahl von netzartig miteinander verbundenen semantischen Einheiten zusammen. In dem vorliegenden Wörterbuch wird es mit seinen relevanten wertebezogenen (Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Öffentlichkeit) und organisationsbezogenen Elementen (Beteiligung) ebenso rekonstruiert, wie mit der semantischen Analyse eines, die Demokratiebestrebungen auslösenden Motivs (Obrigkeit). Zudem ist es hinsichtlich einer kennzeichnenden Textsorte (Abdankung) sowie in Bezug auf die neue Akteurin (Frau) repräsentiert.

Hinzu kommen Repräsentationen eines Menschenbildes (Führer, Persönlichkeit), das im Verlauf der Weimarer Republik immer größere politische Bedeutung gewinnt. Auch die beiden Einträge zu Gemeinschaft und Kampf rekonstruieren die semantische Struktur zweier Schlüsselwörter im Sinn einer Vorgeschichte, die ab 1933 diskursprägend waren. Gemeinschaft ist die zentrale Legitimations- und Zielvokabel des NS, so dass der Eintrag für die Weimarer Zeit deutlich macht, eine wie weitgehende Disposition bereits vorhanden war. Mit Kampf wird eine diskursive Grundfigur des NS rekonstruiert, deren Gebrauch in der Weimarer Zeit verdeutlicht, dass Kampf eine politiksprachliche Universalie ist.

Mit deutsch, Fortschritt, Friede(n), Gesellschaft, Kultur und Stamm schließlich haben wir Diskursverdichtungen ausgewählt, die in einem allgemeineren Sinn das Denken, Fühlen und Wollen der Zeitgenossen auf je spezifische und diskursverdichtende Weise repräsentieren.

Insgesamt können die nachfolgenden Einträge als Markierungen eines demokratiegeschichtlichen Meilensteins ebenso wie als die einer Vorgeschichte des NS gelesen werden. Vor allem die akteursspezifizierende Darstellung, die u.a. die politischen Grundrichtungen (links, rechts, Mitte) berücksichtigt, erlaubt diese Interpretation, die an ausgewählten Beispielen deutlich macht, wie weit in der Gesellschaft verbreitet Semantiken zeittypischer lexikalischer Diskursverdichtungen waren.

Heidrun Kämper (2014): Demokratisches Wissen in der frühen Weimarer Republik. Historizität, Agonalität, Institutionalisierung. In: Kämper, Heidrun / Peter Haslinger / Thomas Raithel (Hgg.): Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik. Berlin, Boston. S. 19-96.