Handelsnation Schweiz
Von Lea Haller
Heute wird schätzungsweise ein Fünftel des weltweiten
Rohstoffhandels über die Schweiz abgewickelt. Wie wurde der
kleine Binnenstaat zur globalen Handelsdrehscheibe?
Ankunft von japanischer Rohseide der Handelsfirma Desco
von Schulthess im Hafen von Genua, 1954.
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D
ie Geschichte des Schweizer Welthandels
ist ein blinder Fleck. Wer über die Schweizer
Wirtschaftsgeschichte spricht, spricht in der Regel über Unternehmer und Fabriken, über die
Textil-, Maschinen- und Pharmaindustrie, vielleicht noch über den Tourismus – und schliesslich über den Bankenplatz. Wir sollten aber auch
über die Kaufleute reden.
Kein Land auf dem europäischen Kontinent
war früher industrialisiert als die Schweiz. 1801
nahm in St. Gallen die erste mechanische Baumwollspinnerei ihren Betrieb auf, zahlreiche
Handspinner verloren ihre Arbeit, wanderten
aus oder gingen in die neuen Fabriken. Die Textilindustrie erschloss Märkte in Übersee, von
denen andere Industriezweige später profitierten, allen voran die Maschinenindustrie. Die
Schweiz wurde zu einem starken Exportland –
und importierte dennoch ab Mitte der 1880er
Jahre deutlich mehr Güter, als sie exportierte.
Bereits damals stellte sich die Frage, wie die
negative Handelsbilanz ausgeglichen wurde,
woher also das Geld stammte, mit dem der
Importüberschuss bezahlt wurde. Traugott Geering, einer der Pioniere der Schweizer Wirtschaftsgeschichte, war Anfang des 20. Jahrhunderts der Meinung, dass die Zinsen für im Ausland angelegtes Kapital, der Tourismus und unsichtbare Einnahmen aus Patenten, Lizenzen
und Markenrechten den Ausgleich herbeiführten. Nach dem Ersten Weltkrieg lieferte auch der
wachsende Finanzsektor mit seinem Auslandgeschäft Einnahmen an die Zahlungsbilanz. Was
bis heute allerdings gern vergessen geht: Namhafte unsichtbare Einnahmen stammten aus
dem Handel.
Nur ein Teil des von Schweizer Kaufleuten
getätigten Handels war Import und Export. Über
ihn sind wir relativ gut informiert. Die Aussenhandelsstatistiken gehen bis ins Jahr 1884 zurück, sie gehören zu den wenigen lückenlos geführten nationalen Statistiken und belegen die
enge wirtschaftliche Verflechtung der Schweiz
mit Europa und mit entfernten Weltgegenden.
Der grösste Teil des Handels, der von der Schweiz
aus getätigt wurde, war aber Transithandel. Und
der blieb in der Statistik unsichtbar. Entsprechend tauchte er auch in der Geschichtsschreibung nicht auf.
Transithandel ist internationaler Zwischenhandel. Im Gegensatz zum Transitverkehr kommen die Waren beim Transithandel nicht in das
Land, in dem der Transithändler seinen Sitz hat;
Transithandel ist also zu unterscheiden von der
Wiederausfuhr. Als Vermittler zwischen Produzenten und Abnehmern in verschiedenen Weltregionen organisierten Schweizer Handelshäuser diesen Warenhandel völlig unabhängig
von ihrem Domizil: Sie exportierten Seide aus
Japan, Baumwolle aus Indien, Kakao aus Westafrika und Zucker aus Kuba in alle Welt – nach
Europa, Russland, Amerika und Asien. «Die Rohstoffe werden über die Welthandelsplätze London, Amsterdam, Hamburg, Bremen, Antwerpen, Genua, Triest gehandelt und lediglich der
Kopf dieser Unternehmen ist schweizerisch»,
schrieben die Transithändler 1938 erklärend ans
Handelsregister in Bern. «Ihre Ware transitiert
nicht durch die Schweiz, sondern ihre Ware wird
im Welthandel verschifft und verkauft.» In die
Schweiz floss lediglich der Gewinn.
Aus Sicht der Schweiz handelte es sich also
um einen Dienstleistungsexport – und damit um
jene Kategorie transnationaler Geschäfte, die auf
wundersame Weise immer die negative Handelsbilanz ausglich. Lange Zeit existierten keine
offiziellen Zahlen zum Transithandel. Seit 1947
erstellt die Schweizerische Nationalbank zwar
eine Leistungsbilanz, in der auch Dienstleistungsexporte erfasst werden, sie blieben aber
immer eine schwierige Kategorie, da man für
Zahlen auf die Selbstdeklaration der Firmen angewiesen ist und es multinationalen Unternehmen ein Leichtes ist, steuerbare Einkünfte in
den Steuererklärungen niedrig zu halten. Ein
Geschäft, das am Hauptsitz mit wenig Personal
auskommt und dessen Umsatz in der nationalen
Handelsstatistik nicht auftaucht, setzte sich
auch nicht im kollektiven Gedächtnis fest. Noch
in der 2012 erschienenen, über tausendseitigen
Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert heisst es, die Dienstleistungsexporte
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Bild: Hs AR 1: 57, Bild Nr. 47, Archiv Desco, Fotoalbum «Yokohama Silk Conditioning House», ZB
Im Hafen von Yokohama wird Seide auf ein Schiff verladen (undatierte Fotografie, zwischen 1920 und 1930).
der Schweiz, die stets bedeutend höher gewesen
seien als die Dienstleistungsimporte (im Gegensatz zum Warenhandel, wo es genau umgekehrt
war), hätten hauptsächlich «aus Leistungen des
Tourismus- und des Finanzsektors (Banken und
Versicherungen)» bestanden.
Dabei liegen erste Zahlen zum Schweizer
Transithandel bereits aus der Zwischenkriegszeit vor, und sie offenbaren Erstaunliches. 1934
führte Fritz Mangold, Professor für Statistik an
der Universität Basel und Leiter des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs, eine systematische
Umfrage unter den Schweizer Transithändlern
durch. Es war eine Auftragsarbeit der Branche
selbst: Mit der «Enquête Mangold» wollten die
Firmen im Kontext der weltweiten Wirtschaftsund Finanzkrise auf ihre prekäre Lage aufmerksam machen und den Bundesrat dazu bewegen,
dass ihre Auslandsguthaben im gebundenen
Zahlungsverkehr (Clearing) berücksichtigt wurden. In mühsamer Kleinarbeit förderte Mangold
ein gigantisches Geschäft zutage. Aufgrund der
ausgefüllten Fragebogen berechnete er für das
Börsencrash-Jahr 1929 Erträge aus dem Transithandel von knapp 40 Millionen Franken, für 1930
noch von 34 Millionen Franken. In den Jahren
1924–1928 seien die Erträge wesentlich höher gewesen. Die Branche müsse den Vergleich mit
anderen Erwerbszweigen nicht scheuen. An die
Zahlungsbilanz lieferte der Verkehr mit elektrischer Energie im Jahr 1929 21 Millionen, das Versicherungsgeschäft 22 Millionen, der internationale Transport 30 Millionen, der Veredelungsverkehr 37 Millionen und nur das Bankengeschäft gleich viel wie der Transithandel:
40 Millionen Franken.
Die Bankumsätze von 53 befragten Firmen
lagen 1929 bei über einer Milliarde Franken, wobei diese Zahlen, wie Mangold betonte, Minima
darstellten und infolge sinkender Rohstoffpreise
und der Abnahme des Handels im Vergleich zu
früheren Jahren «sehr stark» abfielen. Für das
Jahr 1929 berechnete er für 58 Firmen einen
Bruttoumsatz von 984 Millionen, für 1930 noch
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Bild: Archiv der Basler Mission, QD-30_033_0025
Am Ufer des Flusses
Volta in Westafrika:
Die Missionshandlung
kaufte direkt bei den
Produzenten im
Landesinneren ein
(Bild etwa 1900–1914).
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872 Millionen Franken. In den Jahren vor dem
Börsencrash seien die Umsätze deutlich höher
gewesen. «Nach Mitteilungen einzelner Firmen
müssten für die vorhergehenden Jahre mindestens 450 Millionen Franken zugezählt werden
[. . .]. Darnach würden die Bruttoumsätze in den
Jahren 1923–1929 um 1,3–1,4 Milliarden Franken
betragen haben, und die Ausgaben wären demzufolge auch wesentlich grösser gewesen.» Teuerungsbereinigt wären das heute etwa 9 Milliarden Franken pro Jahr.
1955 führte der Ökonom Emil Gsell die
nächste Erhebung zum Transithandel durch,
veröffentlichte aber keine Angaben zu den Einnahmen mehr (die man nun lieber verschwieg)
und bezifferte lediglich den Umsatz der Branche:
Er betrug damals hochgerechnet rund 5 Milliarden Franken, gleich viel wie der Umsatz der gesamten Exportindustrie. Zwischen 1947 und 1989
stiegen die Einnahmen aus dem Transithandel
gemäss Angaben der Schweizerischen Nationalbank um den Faktor zehn. Das grosse Wachstum
kam nach der Jahrtausendwende: Zwischen 2001
und 2011 erhöhten sich die jährlichen Einnahmen von 1,2 Milliarden auf 20 Milliarden Franken. Im Gegensatz zum Finanzsektor setzte sich
das Wachstum beim Transithandel auch nach
der Finanzkrise von 2008 fort, und 2010 überholte der Transithandel den Bankensektor bei
den Einnahmen aus dem Dienstleistungsexport.
Was nach einem kometenhaften Anstieg aus
dem Nichts aussieht, dürfte der zweite Teil einer
U-Kurve sein. Um diesen Wirtschaftszweig zu
verstehen, müsse man in die Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg zurückgehen, sagte Georges André,
Inhaber des Lausanner Getreidehandelsgiganten André & Cie., 1946 in einem Referat, «in diese
glückliche Epoche des freien Waren-, Kapitalund Personenverkehrs».
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in
der Schweiz zahlreiche Welthandelsfirmen. Sie
wurden meist von jungen Männern aus protestantischen, ländlichen Bürgersfamilien gegründet, die im globalen Handel eine Aufstiegsmöglichkeit sahen. Sie gingen ins Ausland, lernten das Geschäft in einer ausländischen Firma
oder erschlossen in Überseegebieten Einkaufs-
möglichkeiten für den Export von Rohwaren zuhanden von Abnehmern in den westlichen
Industriestaaten, wobei sie von der militärischen
Expansion der imperialen Mächte und vom Ausbau einer kolonialen Infrastruktur profitierten.
Der Schweizer Transithandel entwickelte
sich als autonomer Wirtschaftszweig und nicht
als Fortsetzung des Exports mit anderen Mitteln.
Einzelne Unternehmen wie das 1788 gegründete
Winterthurer Handelshaus Geilinger & Blum
(später Paul Reinhart & Cie.) oder die seit 1719 bestehende Basler Wollhandelsfirma Fürstenberg
(später Simonius, Vischer & Co.) waren bereits auf
dem europäischen Markt etabliert, als sie im
19. Jahrhundert in das Geschäft mit Rohwaren
aus Übersee einstiegen. Andere Unternehmen
Zwischen 2001 und 2011
stiegen die Einnahmen aus
dem Transithandel von 1,2
auf 20 Milliarden Franken.
agierten von Anfang an global. Die MissionsHandlungsgesellschaft, die 1859 aus der Basler
Mission entstand, war die erste europäische
Handelsgesellschaft, die sich in Afrika nicht nur
an der Küste niederliess, sondern im Hinterland
Handelsstationen eröffnete und damit den afrikanischen Zwischenhandel ausschaltete. Sie belieferte ihre Missionsstationen mit europäischen
Waren und exportierte im Gegenzug Palmöl,
Kakao, Kautschuk, Baumwolle und andere Kolonialwaren. In Indien, wo die zum Christentum
übergetretenen Hindus aus dem Kastensystem
fielen und ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden, entstanden missionseigene Fabrikationsbetriebe und Handelsfilialen, die 1913 einen jährlichen Reingewinn von 250 000 Franken erwirtschafteten. Die Missionshandlung beschäftigte
damals in Indien und Afrika 4710 Personen, davon etwa 100 Europäer.
Neue geopolitische Bedingungen und eine
Liberalisierung des Handels begünstigten ab
Mitte des 19. Jahrhunderts das Entstehen grosser
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Schweizer Handelshäuser. So war der junge Männedorfer Kaufmann Caspar Brennwald als Sekretär auf der Japan-Mission von 1862 dabei, die im
Auftrag des Bundesrats einen Freundschaftsund Handelsvertrag mit dem japanischen Kaiserreich abschliessen sollte, was dem Gesandten
Aimé Humbert nach langwierigen Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der Niederländer schliesslich gelang – als siebtem Land nach
einer Reihe von Grossmächten. Brennwald gründete in Yokohama zusammen mit einem Compagnon die Firma Siber & Brennwald (später Siber
Hegner). Sie profitierte von den «ungleichen Verträgen», die Japan beim Anblick der drohenden
Kulisse amerikanischer Kriegsschiffe mit den
westlichen Grossmächten abschloss. So unter-
her importieren, allerdings nur in britischen
Schiffen oder in Schiffen des Herstellungslandes
(nicht des Exportlandes), was Kaufleute aus
einem Kleinstaat diskriminierte. Beim Export
von Rohstoffen aus den britischen Kolonien
musste das Destinationsland England reziproke
Rechte garantieren. 1949 fielen diese Bestimmungen weg, und der Handel wurde liberalisiert.
Volkart belieferte das europäische Festland
als erste Firma direkt mit indischer Baumwolle
und erlangte in Indien schnell eine führende
Stellung. Die Firma gründete Zweigniederlassungen in Colombo, Cochin, Karachi, Tellicherry und
Madras. 1875 wurde eine Niederlassung in London eröffnet und 1894 in einen zweiten Hauptsitz
umgewandelt. 1919 entstand mit japanischer Beteiligung eine Tochtergesellschaft in Osaka, und
1920 wurden die Volkart-Niederlassungen in Bremen und New York gegründet. Mit dem Ausbau
des indischen Eisenbahnnetzes wurde der
direkte Einkauf in den Produktionsgebieten erheblich vereinfacht: In den 1920er Jahren eröffnete Volkart rund hundert Einkaufsagenturen
auf dem indischen Subkontinent und umging
damit den indischen Zwischenhandel. 1934 hatte
die Firma 2667 Angestellte, dazu 5150 Taglöhner,
insgesamt 7817 Personen. Die Niederlassung in
Bombay führte – auch das gehörte traditionell
zur Aufgabe von Schweizer Kaufleuten – ehrenamtlich das schweizerische Konsulat, bis es 1932
in ein Berufskonsulat umgewandelt wurde.
Der schweizerische Transithandel wuchs
zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg rasant,
Schweizer Firmen wie Volkart, Reinhart, Diethelm, Simonius Vischer, Siber Hegner, André
und die Missions-Handlungsgesellschaft (ab
1928 Basler Handelsgesellschaft) waren internationale Schwergewichte. Auch als in der Zwischenkriegszeit der europäische Binnenhandel
einbrach, machten sie mit ihren Überseegeschäften weiterhin solide Gewinne. Die USA standen
nach dem Ersten Weltkrieg gestärkt da, Europa
geschwächt. Viele europäische Länder waren von
einer hohen Inflation betroffen und ergriffen
protektionistische Massnahmen. Wer konnte,
der flüchtete vom Papiergeld in Kapitalanlagen,
in Deutschland machte das Bonmot die Runde:
Auch als der europäische
Binnenhandel einbrach,
machten die Schweizer
Transithändler Gewinne.
standen die ausländischen Firmen nicht japanischem Recht, sondern der Gerichtsbarkeit ihrer
Konsulate, und sie mussten nur geringe Importzölle entrichten.
Die Firmengründung des Handelshauses
«Gebrüder Volkart», von Salomon und seinem
Bruder Johann Georg Volkart 1851 in Winterthur
und Bombay etabliert, erfolgte unmittelbar nach
Abschaffung der englischen Navigation Acts im
Jahr 1849. Die Navigationsakten (so die falsche,
aber gebräuchliche deutsche Übersetzung)
waren eine Serie von Gesetzesbeschlüssen aus
dem 17. Jahrhundert, die die englischen Handelsgesellschaften privilegiert hatten, indem sie den
Zwischenhandel ausschalteten. Ursprünglich
hatten die Navigationsakten den Import von asiatischen, afrikanischen oder amerikanischen
Waren nach England via europäische Häfen oder
in nichtbritischen Schiffen komplett verboten.
Ab 1825 wurde dieses Verbot zwar sukzessive gelockert: Kolonien durften ihre Güter nun überallhin verkaufen, und sie durften Güter von überall44
Bild: Archiv der Basler Mission, E-30_82_007
Handelsnation
Handelsnation
Die Missionshandlung lässt 1928 in Accra (Goldküste, heute Ghana) Kakao auf ein Dampfschiff verladen.
stellte Unternehmen verlagerten ihre Geschäftstätigkeit einfach zunehmend an ausländische
Niederlassungen und wandelten diese in teilautonome Tochterfirmen um. Die Geschäftstätigkeit am Hauptsitz in der Schweiz bestand
danach vorwiegend noch in der Beteiligung an
den Tochterunternehmen, während ein Grossteil der operativen Tätigkeit ins Ausland delegiert wurde – an Orte, wo man weniger Gefahr
lief, wegen Handels mit dem Feind auf eine
schwarze Liste zu kommen. Die Firmen bauten
also Holdingstrukturen auf.
So reiste Fritz von Schulthess, Hauptanteilseigner der Zürcher Seidenhandelsfirma Charles
Rudolph & Co., bei Kriegsausbruch nach New
York, löste die dortige Filiale auf und gründete an
ihrer Stelle eine selbständige Firma unter dem
Namen Charles Rudolph Corporation of New York.
Ebenso die Zürcher Firma Siber Hegner: «Aus
Angst vor einer Blockierung der Gelder durch die
USA wurde die Tochter in New York über einen
juristischen Trick (Voting Trust) amerikanisiert.»
«Je schlechter es uns geht, desto höher steigen
die Kurse.» Innerhalb kurzer Zeit drifteten die
Währungen auseinander. Der Franken und der
Dollar waren hoch bewertet, das Pfund, die Mark
und andere europäische Währungen verloren an
Wert. Der europäische Handel ging zurück. In
den USA und in vielen asiatischen Ländern dagegen stiegen die Aussenhandelsziffern: Japanische Firmen kontrollierten nun den Grossteil der
indischen Baumwollexporte nach Japan und
China, und japanische und amerikanische Handelshäuser expandierten in die europäischen
Märkte. Die Schweizer Transithändler reagierten
darauf mit Diversifizierungsstrategien und dem
Erschliessen neuer Absatzmärkte. Sie gründeten
Tochterunternehmen und Verkaufsagenturen in
den USA, in China, Japan, Vietnam und Malaysia.
Erst mit der Finanzkrise der frühen 1930er
Jahre, den darauf installierten Kapitalverkehrskontrollen und schliesslich während des Zweiten
Weltkriegs sanken ihre Umsätze, wobei auch
dieser Niedergang täuscht: Multinational aufge45
Oben Warenkontrolle, unten Gewichtskontrolle in einer Seidentrocknungsanstalt der Firma Charles Rudolph &
Co. (später Desco von Schulthess) in Yokohama, zwischen 1920 und 1940.
46
Bilder: Hs AR 1: 57, Bild Nr. 11 und 28, Archiv Desco, Fotoalbum «Yokohama Silk Conditioning House», ZB
Handelsnation
Handelsnation
Um auch Waren aus Ländern mit schwacher
Währung und Kapitalverkehrskontrollen liefern
zu können, begannen sie, sogenannte Dreiecksgeschäfte abzuwickeln: Sie vermittelten Waren
über mehrere Länder, bis sich am Ende der Kreis
schloss, ohne dass Devisen überwiesen werden
mussten. So exportierte das Lausanner Handelshaus André zum Beispiel Medikamente aus der
währungsschwachen Sowjetunion nach dem
ebenfalls währungsschwachen Indien, das mit
der Sowjetunion ein bilaterales Clearing abgeschlossen hatte (das heisst, die Importe und
Exporte wurden miteinander verrechnet, ohne
dass Geld hin und her überwiesen wurde). In
Indien übernahm die Firma Baumwolle für den
Export, erreichte gleichzeitig, dass Indien betreffende Medikamente von der Zahlungs- bzw. Clearingschuldpflicht gegenüber der Sowjetunion
entbunden wurde, und verkaufte die Baumwolle
in einem Hartwährungsland gegen Devisen oder
gegen die Lieferung von hochwertigen Industriegütern in die Sowjetunion. Diese erhielt also
nicht Rupienguthaben, sondern wurde in Hartwährung (Dollar oder Franken) bezahlt oder mit
Waren beliefert, die sie mit Rubel nie hätte kaufen können. Es versteht sich von selbst, dass eine
Firma, die es schaffte, solche Dreiecksgeschäfte
einzufädeln, im betreffenden Schwachwährungsland bald eine Monopolstellung hatte.
Nach der Gründung der Europäischen Zahlungsunion 1950 intensivierte die Organisation
für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) ihre Bemühungen um eine Liberalisierung des «unsichtbaren» Verkehrs, also der
Dienstleistungen. Mit Beschluss vom 3. Mai
1950 stellte der OEEC-Rat einen umfassenden
Katalog von «unsichtbaren Transaktionen» auf,
die innerhalb der Mitgliedstaaten frei abgeschlossen werden konnten. Darunter fielen
auch Transitfrachten und Vertreterprovisionen,
wobei die Erträge aus Transithandelsgeschäften
zunächst nicht ausdrücklich erwähnt waren.
Die Schweiz setzte sich anlässlich der Revision
dieses «Liberalisierungskodexes» dafür ein,
dass eine spezielle Rubrik Bénéfices découlant
des opérations de transit geschaffen wurde, dass
Einnahmen aus dem Transithandel also frei in
Auch Volkart wandelte die Niederlassungen in
England und Indien in teilautonome Gesellschaften um, denen man Blankokredite gewährte.
«Werden solche geliehenen Gelder von fremden
Regierungen blockiert, so wird nur der Rücktransfer nach der Schweiz betroffen, nicht aber
die Verwendung in Indien, USA etc.»
Für viele Rohstoffe war die Nachfrage kriegsbedingt gross, die Preise stiegen. Volkart sandte
Leute nach Australien, Südamerika und Südafrika, um die dortigen Verkaufsorganisationen
leistungsfähiger zu machen. Auch die auf Asien
spezialisierte Zürcher Firma Siber Hegner wich
in neue Märkte aus, nach Spanien, Portugal und
in deren Kolonien, wo sie von der Ausschaltung
der deutschen Konkurrenz profitierte. Trotz
einem Umsatzeinbruch von 66 Prozent während
des Kriegs konnte sie den Gewinn mehr als verdoppeln. Das erhöhte Geschäftsrisiko liess
höhere Margen zu, und früher gemachte stille
Reserven flossen infolge des Verkaufs von Lagerware aufs Gewinnkonto zurück.
Auch die Union Trading Company International (UTC), die von der Leitung der Missionshandlung 1921 gegründete Betriebsgesellschaft
für die Goldküste (das heutige Ghana), korrigierte
die Aussage des eigenen Branchenverbands, der
Schweizer Transithandel sei im Jahr 1941 «unbedeutend» gewesen. Das treffe, wenigstens für die
UTC, glücklicherweise nur bedingt zu. Es liege
zwar nicht mehr ausschliesslich im Ermessen
der Leitung in Basel, welche Waren eingekauft
und verkauft werden. Das Geschäft werde im
Ausland aber ungebrochen weitergeführt. Es
seien die «Tochtergesellschaften und die ins Ausland delegierten Direktoren und Angestellten
[. . .], die das Nötige leisten, damit die überseeischen Organisationen intakt bleiben und zum
Teil noch recht erhebliche Erträge abwerfen».
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der globale Rohstoffhandel stetig zu. Angesichts relativ
stabiler Rohstoffpreise waren die Margen zwar
gering, gleichzeitig stiegen im Nachkriegsboom
aber die Umsätze. Die Schweizer Unternehmen,
die während des Kriegs ihre Lager gefüllt hatten,
konnten die Nachfrage im Nachkriegsboom umgehend bedienen.
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Handelsnation
Ein Mitarbeiter des Handelshauses Volkart in Bombay, 1911.
die Mitgliedsländer – und damit auch in die
Schweiz – transferiert werden konnten. Der Passus wurde aufgenommen.
Ab den späten 1950er Jahren veränderte sich
der Handelssektor in der Schweiz grundlegend.
Nachdem im Rahmen des Marshall-Plans zum
Wiederaufbau von Europa vorwiegend staatliche
Hilfsgelder aus den USA nach Europa geflossen
waren, setzte Mitte der 1950er Jahre eine Phase
privater Investitionen ein: Amerikanische Firmen expandierten in die westeuropäischen
Märkte und installierten hier Tochtergesellschaften. Die kriegsverschonte Schweiz war, zusammen mit den Niederlanden und Belgien, ein
Magnet für amerikanische Direktinvestitionen.
Die amerikanische Rohstoffhandelsfirma Cargill eröffnete 1956 unter dem Namen Tradax eine
Filiale in Genf; 1957 kam die Firma Philipp Brothers (heute Phibro) nach Zug. Sie legten den
Grundstein für einen Zustrom amerikanischer –
später auch zahlreicher russischer – Rohstoffunternehmen in die Schweiz.
«Für uns wäre jede europäische Stadt in Frage gekommen, aber Genf hatte mehrere Vorteile», erklärte Walter B. Saunders, Vizepräsident
von Cargill, 1976 vor einer Untersuchungskommission des US-Senats. Genf sei zentral gelegen,
man habe problemlos die nötigen Arbeitsbewilligungen erhalten, die Stadt habe eine mehrsprachige Tradition, eine Geschichte ökonomischer
und politischer Stabilität, es habe keine Kapitalverkehrskontrollen gegeben, und die Behörden
hätten nur geringe Unternehmenssteuern erhoben. Tradax exportierte zuerst vor allem Getreide und Saaten aus den USA nach Europa,
wurde aber schnell zur eigentlichen Firmenzentrale von Cargill, dessen Top-Management
am Hauptsitz in Minnesota in der Replik eines
französischen Schlosses mit 63 Räumen residierte und 70 Prozent der Tradax-Aktien hielt.
Transaktionen, die über Tradax Genf abgewickelt wurden, musste die Firma weder dem
Landwirtschaftsministerium noch der Bundessteuerbehörde der USA offenlegen.
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Handelsnation
Bilder: Firmenarchiv der Gebrüder Volkart im Stadtarchiv (Depot 42), Stadtkanzlei, Stadt Winterthur
Baumwollstapel der Firma Volkart in Bombay, 1914.
rungen mussten Regierungsgespräche aufgenommen werden. Nichts hinderte jedoch die in
der Schweiz domizilierte Tradax daran, vom
Mutterkonzern Cargill in den USA Getreide zu
kaufen, das sie bei Erwerb umgehend (back-toback) an Russland weiterverkaufte.
Als mit dem Ende von «Bretton Woods» 1973
die stabilen Wechselkurse aufgegeben wurden,
veränderte sich der Handel erneut. Profite wurden nun nicht mehr in erster Linie mit Margen
und mit einer Wette auf die zukünftige Preisentwicklung gemacht, sondern mit Kapitalanlagen,
Währungsspekulationen sowie dem Zugang zu
massgeschneiderten Krediten. Je voluminöser
und risikoreicher die Geschäfte wurden, desto
weniger konnten sie vom Zwischenhändler oder
vom Abnehmer noch vorfinanziert werden. Auch
Banken scheuten sich davor, hohe Kreditlinien
zu vergeben, für die sie die Bonität der Handelsfirma einschätzen mussten und am Ende das
Risiko trugen. Findige Banker der Genfer Niederlassung der französischen Bank Paribas erfan-
Nichts hinderte die Tradax
Schweiz daran, US-Getreide
umgehend an Russland
weiterzuverkaufen.
Durch die Konzernstrukturen mit einer
Tochterfirma in einem neutralen Kleinstaat
waren auch Geschäfte möglich, die sonst aus
geopolitischen Gründen nicht hätten getätigt
werden können, zum Beispiel Rohstofflieferungen aus den USA an den Ostblock. Im Oktober
1975 hatten die USA mit der Sowjetunion ein
Getreideabkommen abgeschlossen, in dem sich
diese verpflichtete, sechs Millionen Tonnen
amerikanisches Getreide pro Jahr zu kaufen, die
die USA umgekehrt zu liefern versprachen. Bis
zu acht Millionen Tonnen pro Jahr waren unter
dem Abkommen noch erlaubt, für weitere Liefe49
Handelsnation
den in dieser Situation ein altes Finanzinstrument neu: das Akkreditiv. Mit Warendokumenten, die die Ware repräsentierten (Konnossementen), wurde ein Risikoausgleich zwischen der
Handelsfirma und dem Käufer herbeigeführt,
indem die Bank sich verpflichtete, die Zahlung
nur Zug um Zug gegen Übergabe der Warendokumente an den Zwischenhändler zu überweisen.
Bedingung dafür war, dass beim Kauf der Ware
ein Abnehmer bereits feststand, dass also sofort
geliefert wurde und nicht auf Termin. Als die
erdölexportierenden Länder ihre Erdölproduktion verstaatlichten und das Kartell der grossen
westlichen Erdölhändler brachen, konnten junge Händler wie Marc Rich, die Erdöl on the spot,
also ohne langfristige Lieferverträge, kauften
und verkauften, mittels Akkreditiv ohne viel
Eigenkapital Geschäfte über Hunderte Millionen
Dollar abwickeln.
Die Umbrüche im Rohstoffgeschäft brachten nicht nur Profiteure hervor, sondern auch
Verlierer. Zu ihnen gehörten viele der alteingesessenen Schweizer Transithandelsfirmen.
Während im Ölgeschäft und im monopolisierten Ost-West-Handel hohe Gewinne möglich
waren, kam der Handel mit agrarischen Rohstoffen aus Asien und Afrika zunehmend unter
Druck. Kaufmännisches Wissen über Ernteaussichten, Lagerbestände und Preisentwicklungen war nicht mehr entscheidend für das Geschäft. Gleichzeitig nahm der Handel mit
Finanzderivaten zu.
Schweizer Rohstoffhändler wie Paul Meier
und Willi Isenring, die in den 1970er Jahren für
Volkart gearbeitet hatten, prägten diesen Wandel entscheidend mit. Sie wurden Mitglieder
(Meier gar Vorsitzender) des 1980 gegründeten
Derivateverbands Swiss Futures and Options
Association (SFOA, heute ICDA), der an seinen
Treffen auf dem Bürgenstock am Vierwaldstättersee Insider-Wissen aus dem Terminhandel mit Rohstoffen an internationale
Finanzspezialisten und Investoren weitergab.
«In der frühen Phase dieses Bürgenstock-Treffens hatten Rohstoff-Futures wie Agrarerzeugnisse und Metalle interessanterweise ein grosses Gewicht», so William Brodsky, ab 1985
Chairman der London International Financial
Futures and Options Exchange. Mit der Zeit
habe sich das Gewicht dann auf Finanztermingeschäfte verlagert. Auf dem Bürgenstock
wurde 1982 auch der Aufbau eines Schweizer
Börsenterminhandels beschlossen, und 1988
nahm die Swiss Options and Financial Futures
Exchange als weltweite erste vollelektronische
Terminbörse ihre Geschäftstätigkeit auf.
Parallel zum Finanzderivatehandel wuchs
in der Schweiz der physische Handel. 1997
wurde die Unternehmenssteuerreform I angenommen, die ein Jahr später in Kraft trat. Sie
schuf neue Privilegien für ausländische Holdings, unter anderem die Abschaffung der Kapitalsteuer beim Bund. Damit wurde eine Praxis
bundesrechtlich legalisiert, die auf kantonaler
Ebene längst wirksam war. Nach der Jahrtausendwende setzte das grosse Wachstum im
Rohstoffsektor ein: Händler aus London, Rotterdam und Russland kamen in die Schweiz, Firmen wie Vitol, Gunvor, Trafigura, Mercuria und
Transocean liessen sich in den Regionen Zug,
Lugano und vor allem im Rohstoffmekka Genf
nieder, wo eine Armada von Beratern, Anwälten, Revisionsfirmen, Financiers und Steuerexperten bereitstand, sie zu unterstützen.
Die lange Tradition des Schweizer Transithandels darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die Rohstoffhändler von heute nicht mehr
die gleichen sind wie jene, die im 19. Jahrhundert damit begannen, ein globales Geschäft zu
betreiben. Nicht nur die gehandelten Rohstoffe
haben sich verändert, sondern auch die geopolitischen Verhältnisse, die technischen und juristischen Rahmenbedingungen, die Kommunikations- und Finanzierungsinstrumente, die
Karrieren der Trader und nicht zuletzt die Firmen selbst. Die Kontinuitäten sind subtiler Art:
Bundesbeamte, Finanzberater, Bankiers und
Juristen haben immer wieder dafür gesorgt,
dass die Schweiz ein Relais für die Waren- und
Kapitalströme dieser Welt blieb. | G |
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Weiterführende Literatur
Lea Haller: Transithandel. Geldund Warenströme im globalen
Kapitalismus. Berlin 2019.
Emil M. Bammatter: Der
schweizerische Transithandel.
Eine Darstellung seiner Struktur
und ein Überblick seiner
Entwicklung in den Jahren
1934-1954. Lörrach 1958.
Christof Dejung: Die Fäden des
globalen Marktes. Eine
Kultur- und Sozialgeschichte
des Welthandels am Beispiel der
Handelsfirma Gebrüder Volkart,
1851-1999. Köln 2013.
Erklärung von Bern (heute Public
Eye): Rohstoff. Das
gefährlichste Geschäft der
Schweiz. Zürich 2011.
Patrick Halbeisen, Margrit Müller
und Béatrice Veyrassat (Hg.):
Wirtschaftsgeschichte der
Schweiz im 20. Jahrhundert.
Basel 2012.
Isaak Iselin, Herbert Lüthy und
Walter S. Schiess: Der
schweizerische Grosshandel in
Geschichte und Gegenwart.
Basel 1943.
Matthieu Leimgruber: «Kansas City
on Lake Geneva». Business
Hubs, Tax Evasion, and
International Connections
Around 1960, in: Zeitschrift für
Unternehmensgeschichte 60/2
(2015), S. 123-140.
Paul Meier: Die SFOA und das
Derivatgeschäft in der Schweiz,
in: Finanz und Wirtschaft 71
(2004), S. 63.
Béatrice Veyrassat: Histoire de la
Suisse et des Suisses dans la
marche du monde (XVIIe siècle
– Première Guerre mondiale).
Neuenburg 2018.
Lea Haller ist Redaktorin von
NZZ Geschichte. Soeben ist bei
Suhrkamp ihr Buch zur
Geschichte der Handelsnation
Schweiz erschienen:
Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus.
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Schweizer Kulturspenden
nach der Bombardierung
Schaffhausens 1944
18.5. – 6.10.
2019
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