Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Kulturwissenschaft
Bachelorarbeit
Post-Internet Romance. Die
Transformation der Liebesmythologie
in der Gegenwart
Post-Internet Romance. Today’s Transformation of Romantic
Mythology.
Johanna Warda
Matrikelnummer: 552238
Sonnenallee 112
12045 Berlin
19. Juli 2016
Betreuung: Dr. phil. Julia Köhne
Zweitgutachten: PD Dr. Britta Lange
Inhaltsverzeichnis
1
2
Kulturgeschichte der romantischen Liebe
1.1 Die klassische Liebesmythologie – Liebe als Passion . .
1.2 Die moderne Liebesmythologie – Liebe als Selbstzweck
1.2.1
Transformation der Praxis der Partnerwahl . .
1.2.2 Transformation der Kriterien der Partnerwahl
.
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Liebe Post Internet
2.1 Eine neue Ära? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Das Internet als Katalysator für die reflexiv-moderne Liebestransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 „Liebe ist kein Zufall“: Das klassische Online-Dating . . . . . . . .
2.4 Dating und das mobile Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.1 Tinder als Indikator für die Radikalisierung der reflexivmodernen Liebesmythologie . . . . . . . . . . . . . . . .
3
4
5
8
11
18
18
20
24
26
26
3
Fazit: „Generation Beziehungsunfähig“?
32
4
Abbildungsverzeichnis
34
5
Quellenangaben
36
Selbstständigkeitserklärung
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbständig und
nur mit den angegebenen Hilfsmitteln verfasst habe. Ich erkläre ausdrücklich, dass
ich sämtliche in der Arbeit verwendeten fremden Quellen, auch aus dem Internet,
als solche kenntlich gemacht habe. Insbesondere bestätige ich, dass ich ausnahmslos sowohl bei wörtlich übernommenen Aussagen bzw. unverändert übernommenen Grafiken, Zitaten u. Ä. als auch bei in eigenen Worten wiedergegebenen Aussagen, Grafiken u. Ä. anderer Autorinnen und Autoren (indirektes Zitieren) die
Quelle angegeben habe. Mir ist bewusst, dass Verstöße gegen die Grundsätze der
Selbstständigkeit als Täuschung betrachtet und entsprechend der Prüfungsordnung und/oder der Allgemeinen Satzung für Studien- und Prüfungsangelegenheiten der HU (ASSP) geahndet werden. Die Arbeit wurde in gleicher oder ähnlicher
Form bisher bei keiner anderen Institution eingereicht.
Berlin, 19. Juni 2016
Einleitung
Das Verständnis von Romantik und die damit verbundenen Erwartungen an die
romantische Liebe sind in der reflexiven Moderne immer komplexeren und zunehmend widersprüchlichen Transformationen unterworfen. Die These dieser Arbeit
lautet, dass das Eindringen des Internets in die romantische Sphäre diese Widersprüchlichkeit in hohem Maße radikalisiert.
Die amerikanische Anthropologin Helen Fisher unterscheidet drei verschiedene, psychologische Prozesse der Emotion „Liebe“, die ineinander übergehen oder
seperat voneinander existieren können: sexuelle Lust, romantische Liebe und Bindung. Sie geht davon aus, dass romantische Liebe keine Emotion und auch keine
Ansammlung von Emotionen ist, sondern in erster Linie ein Trieb, ein Motor des
Gehirns, der uns dazu bringt, uns an eine Person binden zu wollen. Der Sexualtrieb
kann auch ohne den „romantischen Trieb“ existieren, ist aber auch Teil dessen und
begünstigt durch die Ausschüttung bestimmter Hormone eine Weiterentwicklung
in einen romantischen Bindungswunsch.1 Diese Definition der Liebe ist biologisch
und daher universell. Romantische Liebe kann somit als ein menschliches Grundbedürfnis betrachtet werden, als einer der Grundpfeiler menschlichen Lebens. Wie
mit diesem Bindungstrieb umgegangen wird, ist jedoch je nach Kultur, Moralverständnis, Gesellschaftsform und Habitus unterschiedlich und verändert sich fortlaufend – romantische Liebe ist seit jeher mit bestimmten Utopien verknüpft. Eine
Gesellschaft kann den Bindungstrieb regulieren und an Institutionen binden, ihn
verneinen oder bejahen, ihn unterdrücken oder instrumentalisieren. In der Kulturgeschichte der romantischen Liebe hat es unzählige Facetten des Umgangs mit
ihr gegeben. Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem kulturgeschichtlichen Umgang
mit diesem „Bindungstrieb“ in Westeuropa und Amerika in den letzten 200 Jahren
und speziell mit den neuesten, sehr rasanten Entwicklungen der letzten 20 Jahre,
die mit dem Eindringen des Internets in die romantische Sphäre eine extreme Radikalisierung erfahren haben.
Die Bezeichnung „Post-Internet Romance“ bezieht sich auf die Definition von
Post-Internet Kunst. Diese neue, immer noch relativ undefinierte Kunstausrichtung2 meint nicht Nach-Netz-Kunst, sondern Kunst im Rahmen eines „Internet
State of Mind“, einem Geisteszustand, in dem das Internet so selbstverständlich
geworden ist, dass es nicht mehr als solches thematisiert werden muss, sondern
selbstverständlich in nahezu alle Lebensbereiche eingedrungen ist – also eine sich
dem Internet und seiner Allgegenwärtigkeit bewusst werdende Kunst, die nicht
1
2
Vgl. Fisher 2006.
Entstanden durch einen Dialog zwischen den KünstlerInnen Marisa Olson, Gene McHugh
und Artie Vierkant, Vgl. Connor 2013.
1
mehr zwischen Online- und Offlinephänomenen unterscheidet.3 Somit meint „PostInternet Romance“ den gegenwärtigen Zustand, in dem das Internet selbstverständlich in die romantische Sphäre eingedrungen ist, sie mit prägt und sie transformiert – und nicht mehr aus ihr wegzudenken ist.
Um die Eigenschaften dieser neuen Ära der „Liebe Post Internet“ beschreiben zu
können, wird zunächst die Transformation hin zum Status Quo dargestellt. Diese
lässt sich in zwei große Phasen einteilen: Die Phase der klassischen und der modernen Liebesmythologie. Beide Komplexe werden im ersten Teil der Arbeit in ihren
Besonderheiten dargestellt. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich zunächst
mit dem Begriff der reflexiven Moderne und beschreibt die Besonderheiten der
gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Dekaden, die eine Radikalisierung und
Restrukturierung der Moderne darstellen und in denen das Internet die Rolle eines Katalysators der Beschleunigung einnimmt. Letztlich wird offen gelegt, inwiefern das Internet bestehende Tendenzen im Umgang mit der romantischen Liebe
radikalisiert und beschleunigt und damit als wichtigster Einfluss auf die Transformation der Liebesmythologie in der Gegenwart betrachtet werden kann.
Wenn von „Liebe“ die Rede ist, ist grundsätzlich die Liebe zwischen zwei (meist
gegengeschlechtlichen4 ) PartnerInnen gemeint. Es wird von der Kulturgeschichte der Liebe in Westeuropa und den USA ausgegangen, die sich über die breite
Mittelschicht auf die ganze westliche Gesellschaft übertragen lässt – auch wenn
habituelle Unterschiede natürlich weiterhin existieren. Diese Arbeit konzentriert
sich – wenn nicht anders angegeben – vor allem auf den Prozess der Beziehungsanbahnung und auf die Transformation von Kontaktmärkten sowie Erwartungen
an potentielle Liebesbeziehungen, weil sich in der Partnersuche (anders als in den
Strukturen innerhalb bereits bestehender Beziehungen, die weitaus individueller
und komplexer sind) gesellschaftlich und kulturell geprägte Utopien und Moralvorstellungen am Besten offenlegen. Dabei kann leider nicht explizit auf durch
Gender hervorgerufene Unterschiede eingegangen werden – an dieser Stelle sollte
allerdings erwähnt werden, dass sich die für dieses Thema relevanten Erfahrungen von weiblich und männlich sozialisierten Personen stark unterscheiden und
dass die Berücksichtigung feministischer Theorie für eine weiterführende Analyse dieses großen Themas notwendig wäre.5 Die hier vorliegende Arbeit kann daher
nur als ein erster Einblick gesehen werden.
3
Vgl. Nedo 2013.
In den meisten wissenschaftlichen Texten wird von gegengeschlechtlichen Partnerschaften
ausgegangen, jedoch lassen sich die meisten Thesen und Schlüsse relativ problemlos auf homosexuelle Bindungen übertragen, da man soziologisch davon ausgehen kann, dass sich soziale Dynamiken von hetero- und homosexuellen Partnerschaften stark ähneln, abgesehen
von der erschwerten Paarbildung – Vgl. Giddens 1992, S.50f.
5
Einen detaillierteren Blick auf den Genderaspekt und die Transformation romantischer Utopien bietet beispielsweise Eva Illouz’ 2012 erschienenes Buch „Warum Liebe wehtut“.
4
2
1 Kulturgeschichte der romantischen
Liebe
In jeder Gesellschaft der Weltgeschichte hat es romantische Liebesbindungen im
Sinne von leidenschaftlicher und zärtlicher Verbindung zweier Menschen gegeben. Die Liebe ist eine zeitlose, universelle, psychosoziale Möglichkeit und Erfahrung. Gleichzeitig ist sie aber immer auch ein gesellschaftliches Ideal mit einer sich
verändernden Ausstattung an Symbolen und Mythen – sie ist eine Mythologie.1 Die
romantische Liebe fungiert immer auch als Kommunikationsmedium und organisiert menschliche Beziehungen. Das Kommunikationsmedium Liebe ist kulturellem Wandel und Bedeutungsverschiebungen unterzogen. Kulturelle Bilder der
Liebe (in Literatur, Film, Werbung, etc.) stellen eine Sprache und Symbolwelt zur
Verfügung, mit deren Hilfe Menschen ihren Beziehungen Sinn verleihen. Dass romantische Liebe einen derart zentralen Faktor im Leben des Menschen darstellt,
gilt erst seit einigen hundert Jahren, seit der Entstehung der modernen Gesellschaft.2 Auf dem Weg zur heute vorherrschenden Liebesmythologie unterlag die
romantische Liebe in westlichen Gesellschaften zahlreichen Transformationen, die
von gesellschaftlichen Bedingungen und Umbrüchen abhing.
Die stattgefundenen Transformationen bis hin zum Status Quo sind vor allem
durch zwei fundamentale „Liebesmythologien“ darstellbar, die aufeinander aufbauen: Die klassische und die moderne Liebesmythologie, die sich durch verändernde Kriterien und Praktiken der Partnerwahl auszeichneten und mit unterschiedlichen Symbolen, Moraldefinitionen und Idealen verknüpft waren.
Die westliche Welt befindet sich momentan in einem weiteren historisch einzigartigen Moment des Umbruchs der kulturellen Wertung der gängigen Vorstellung von Liebe und Partnerschaft.3 Der moderne Liebesmythos zerbricht in seine
Bestandteile und setzt sich zum jetzigen Zeitpunkt auf neue Weise wieder zusammen.4 Das Internet trägt in hohem Maße zur Radikalisierung und Beschleunigung
dieser Transformation bei. Um zu verstehen, worin diese fundamental neuen Bedingungen heterosexueller romantischer Beziehungen der westlichen Welt beste1
Vgl. Luhmann/Kieserling 2008, S.51.
Vgl. Kuchler/Beher 2014, S.7.
3
Vgl. Swidler 1980, S.376.
4
Vgl. ebd., S.396.
2
3
hen, muss zuerst die Entwicklung hin zum klassischen und dann zum modernen
Modell verstanden werden, dessen Neuanordnung momentan unter anderem im
Zusammenhang mit dem Internet von Statten geht. Es ist wichtig zu verstehen,
dass die heute vorherrschende romantische Idee, die uns so selbstverständlich, natürlich und unerschütterlich erscheint, ein relativ modernes Phänomen darstellt
und aus spezifischen, kulturell-gesellschaftlichen Transformationsprozessen entstanden ist.
1.1 Die klassische Liebesmythologie – Liebe als Passion
Nietzsche stellte schon 1886 fest:„Wir würden vor der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehebegriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat [...] ein wenig frösteln, wir ‚Modernen‘! Eben deshalb ist
die Liebe als Passion [...] für die aristokratische Welt erfunden worden.“5 Das westliche Liebesideal der „Liebe als Passion“ war und ist eng mit Ideen von Moral verbunden.6 Diese Verknüpfung kann als Vermächtnis der höfischen Liebe seit Ende
des 11. Jahrhunderts verstanden werden. Aus der Krise der feudalen Loyalitätsordnung im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts entwickelte sich ein Erbadel mit eigenen Interessen, die die feudale Tradition persönlicher Treue des Vasallen zu seinem Herrn verdrängten und diese Logik der Moral auf die höfische Liebe, beziehungsweise die Beziehung des adeligen Herrn zu seiner Dame, übertrugen. Ritterliche Tugenden wurden zu romantischen Tugenden, es entwickelten sich Minnegesang und höfische Liebesspiele.7 Die Symbolwelt der höfischen Liebe findet sich,
auch wenn sie sich damals nur auf den Ethos einer kleinen Schicht bezog, bis heute in Teilen im westlichen Liebesverständnis. Der wichtigste Eckpfeiler ist dabei
das Gegensatzpaar von Tugend und Sünde: Liebe „erhob den Menschen, aber sie
führte auch zum Treuebruch und letztlich zu Tragik und Tod“.8 Diese Vorstellung
findet sich in etlichen schriftlichen Zeugnissen dieser Zeit – das berühmteste Beispiel ist Shakespeares „Romeo und Julia“. Vor der breiten Adaption dieser Liebesvorstellung seit dem 18. Jahrhundert diente Heirat überall außer im Adel in der Regel nichts als der Aufrechterhaltung sozialer Hierarchien oder sozialem Aufstieg.
Ehen waren arrangiert und reine Zwecksache. Die Liebesheirat war ein seltenes
Phänomen.
Erst ab dem 18. Jahrhundert (und besonders in der viktorianischen Gesellschaft)
– mit der Entwicklung von Marktwirtschaft, bürgerlicher Mittelschicht und wachsendem Wohlstand – wurde das höfische Ideal der „Liebe als Passion“ neu ent5
Nietzsche 1886, zitiert nach: Illouz 2007, S.25.
Vgl. ebd., S.365.
7
Ebd., S.366.
8
Ebd., S.367.
6
4
deckt, aktualisiert und mit neuer Bedeutung aufgeladen.9 Die klassische Liebesmythologie wurde breitflächig von der westlichen Gesellschaft aufgenommen. Heterosexuelle romantische Liebe wurde Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Art Gottheit erhoben, was zu einer Vermischung des Liebes- und Religionsdiskurses führte. Die Ehe diente immer noch vorrangig dem Erfüllen einer festgelegten sozialen
Funktion, vermischte sich aber mit dem neuen, religiös gefärbten und von Ritualen durchzogenen Liebesideal. Von der englischen Oberschicht ausgehend wurde
das Liebeswerben hochgradig kodifiziert. Es gab schichtspezifisch festgelegte Abfolgen von Anziehung, Werben und Verbindlichkeit, die auf dem Weg zu einer romantischen Bindung und Ehe durchlaufen werden mussten. In der Vormoderne
bedeutete die Suche nach einem Ehepartner außerdem gleichzeitig die „schwerwiegendste ökonomische Operation im Leben vieler Menschen“10 , was ein hohes
Maß an Verbindlichkeit mit sich brachte. Nicht Gefühle legitimierten die Ehe, sondern die Fähigkeit, seine Rolle in der Ehe erfolgreich zu spielen – im besten Fall: die
geforderten Gefühle tatsächlich zu empfinden, oder sie zumindest öffentlich zur
Schau stellen zu können. Die Liebe hatte in der Vormoderne also einen durchaus
widersprüchlichen Charakter: Einerseits war sie mit das höchste gesellschaftliche
Ideal, andererseits war sie keinesfalls Voraussetzung für das, was man unter einer „guten Ehe“ verstand. Sie diente der Wahrung der Klassenendogamie und galt
als wünschenswerter, aber nicht essentieller Teil der Ehe. Besonders exemplarisch
zeigt sich dieser klassische Liebesmythos in der Literatur aus dieser Zeit.11
1.2 Die moderne Liebesmythologie – Liebe als
Selbstzweck
„In ihr [der Liebe] findet man, wie oft bemerkt, eine unbedingte Bestätigung des eigenen Selbst, der personalen Identität. Hier, und vielleicht nur hier, fühlt man sich als der akzeptiert, der man ist – ohne
Vorbehalte und ohne Befristung, ohne Rücksicht auf Status und ohne
Rücksicht auf Leistungen. Man findet sich in der Weltsicht des anderen erwartet als derjenige, der zu sein man sich bemüht. Die Fremderwartungen des anderen konvergieren mit den Eigenerwartungen des
Ich, mit der Selbstprojektion. Das befreit vom ewigen Kreisen des inneren Monologs.“12
Was Niklas Luhmann hier als Liebe beschreibt, ist eine durch und durch moderne
9
Vgl. ebd, S.57.
Ebd., S.62-66.
11
Im Speziellen in Jane Austens Romanen, in denen das Gegensatzpaar Tugend vs. Sünde nahezu alle Erzählstränge dominiert. Vgl. Illouz 2012, S.47-66.
12
Luhmann/Kieserling 2008, S.21.
10
5
Interpretation dieser Art von zwischenmenschlicher Beziehung. Er beschreibt die
Liebe als identitätsstiftend, als hochindividuell, ehrlich, reflektierend, bemühend
und befreiend. All das war in der Vormoderne nicht der Fall. Wie also kam es zu
dieser radikalen Neuinterpretation der romantischen Paarbeziehung?
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verlor die Religion im Zuge der
kulturellen Säkularisierung (ausgehend von Europa mit der Aufklärung und der
Französischen Revolution) ihre zentrale Stellung. Dieser Paradigmenwechsel eröffnete viele neue Möglichkeiten, stürzte den westlichen Menschen aber auch in
eine Sinnkrise. Wenn die Religion uns keinen Sinn mehr bieten kann, was macht
uns dann moralisch? Wie finden Menschen Sinn in einer von Bedeutung entzauberten Welt? Wo werden Grenzen gezogen, wenn sie nicht mehr vorgegeben sind?
Auch der Liebesdiskurs wurde von dieser Entwicklung erfasst.13 Anders als die Religion wurde die romantische Liebe zunächst aber nicht entmystifiziert, rationalisiert oder abgewertet: Die romantische Liebe wurde „im Kampf gegen die Beschränkungen, die ihr von einer mächtigen Religion auferlegt worden waren, allmählich selbst zu einer eigenen Religion.“14 Persönliches Glück wurde mit Liebe beziehungsweise der Ehe gleichgesetzt, wo Liebe zuvor oft mit Tragik in Verbindung
gebracht wurde und Ehe meist eine Zweckgemeinschaft war. „Trotz der mittelalterlichen Wurzeln der romantischen Liebe ist ihre Institutionalisierung als Ehegrundlage eine entschieden neuzeitliche Errungenschaft“.15 Sie wurde zum Selbstzweck uminterpretiert und zu einer neuen Art von Kollektivutopie, Teil des „IchProjektes“. Eine erfüllende Ehe entwickelte sich in der westlichen Gesellschaft zum
erklärten, universellen Lebensziel. Diese Auffassung verbreitete sich weitflächig in
Westeuropa und den USA, als wirtschaftlicher Aufschwung und neue Technologien einen Massenmarkt entstehen ließen, der seinen Fokus mehr und mehr auf den
Verkauf der romantischen Utopie legte. So wurde der klassische Liebesmythos, also die „Liebe als Passion“, die mit göttlicher Bedeutung aufgeladen war, langsam
und fließend von einer modernen Mythologie abgelöst, die ein anderes Wertesystem für sich beanspruchte, aber auch viele Eigenschaft des alten Mythos übernahm
und mit neuen Bedeutungen auflud.
Zusätzlich dazu haben sich kulturell-gesellschaftliche Männer- und Frauenrollen mit dem Einbrechen der Moderne stark gewandelt. „Während Männlichkeit
im 19. Jahrhundert durch emotionale Standhaftigkeit und die nahezu ostentative
Zuschaustellung der Fähigkeit des Mannes, Versprechen zu geben und zu halten,
zum Ausdruck gebracht wurde, äußert sich die moderne Männlichkeit eher in einer emotionalen Verweigerung als darin, Gefühle unter Beweis zu stellen. Umgekehrt waren Frauen im 19. Jahrhundert häufig emotional reservierter als Männer,
13
Vgl. ebd., S.58.
Ellis 1960 S.65, zitiert nach: Illouz 2007, S.59.
15
Luhmann/Kieserling 2008, S.33.
14
6
während sie im 20. Jahrhundert häufig emotional expressiver sind.“16
Der Historiker Reinhard Koselleck macht den Beginn der Neuzeit an einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Erfahrung und Erwartung fest. Die Moderne begann für ihn nicht mit einem bestimmten Ereignis, sondern beschleunigte und bildete sich anhand eines temporalen Erfahrungswandels: Die allmähliche
und schnell voranschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche führte dazu,
dass in Bezug auf die Zukunft mehr für möglich gehalten wurde, der Erwartungshorizont des modernen Menschen entkoppelte sich von gemachten Erfahrungen.
Koselleck schreibt: „Meine These lautet, dass sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert, genauer, dass sich die
Neuzeit erst als eine neue Zeit begreifen lässt, seitdem sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben.“17 Bisher
gemachte Erfahrungen können in der Moderne nicht mehr auf die Prognose möglicher, zukünftiger Ereignisse angewandt werden. Der moderne Mensch geht davon aus, dass in der Zukunft quasi alles möglich ist. Niklas Luhmann vertritt eine
ähnliche Position: Für ihn hatte der Wandel zu einer immer komplexer werdenden, funktionalen Gesellschaftsordnung, die sich in immer kleinere Teilsysteme
ausdifferenzierte, ein neues Zeitverständnis zur Folge. Die Auseinandersetzung
mit der komplex gewordenen Welt führte zu einem „Führungswechsel der Zeithorizonte“, von der Vergangenheit in die Zukunft.18 Der moderne Mensch erfährt
also ein Auseinanderfallen von Erwartung und Erfahrung und sieht konstant einer ungewissen Zukunft entgegen, auf die er aber dennoch (oder gerade deshalb)
ständig seinen Blick wendet. Dieser fundamentale Bruch im Verzeitlichungsmodell lässt sich auf die Transformation der Liebesmythologie übertragen: Auch hier
(und hier im Besonderen) sind Erwartungen und Erfahrungen immer schwieriger
in Einklang zu bringen. Medial verbreitete Bilder von Liebesidealen schüren utopische Zukunftserwartungen, die in der Erfahrung meist nicht bestätigt werden
können – Verunsicherung ist die Folge.
Zwei Veränderungen bestimmen die moderne Dynamik von Liebesbeziehungen
besonders stark: Zum einen die Individualisierung der Lebensstile und die Möglichkeit der Wahl und zum anderen die Ökonomisierung sozialer Beziehungen
durch das Eindringen des Konsums in alle Lebensbereiche des westlichen Menschen.19 Die Moderne ist außerdem zentral geprägt durch die Möglichkeit der Wahl
und der Tatsache, dass der moderne Mensch sich über seine Wahlentscheidungen
definiert. Dementsprechend ist im Besonderen das Feld der Liebe und der romantischen Beziehungen zentral gekennzeichnet durch kulturell und gesellschaftlich
16
Illouz 2012, S. 197-198.
Koselleck 1979, S.364, zitiert nach: Jung 2010, S.175.
18
Vgl. Luhmann 1972, S.155, zitiert nach: Jung 2010, S.174.
19
Vgl. Illouz 2012, S.23.
17
7
geprägte Wahlentscheidungen und die Art und Weise, wie sie getroffen werden.20
Der moderne, westliche Mensch sieht sich also konstant mit unzähligen Wahlmöglichkeiten konfrontiert, die alle Einfluss auf seine ungewisse Zukunft haben. In Bezug auf die romantische Liebe ist eine starke Verunsicherung und Überforderung
die Folge.
Die Umwälzung der Liebesmythologie ab 1800 ging mit anderen, fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzungen einher und resultierte aus ihnen. Ihre gemeinsamen Auslöser waren die Entstehung einer konsumorientierten Massenkultur, wirtschaftlicher Aufschwung und eine Lockerung der gesellschaftlichen Zwänge in Bezug auf Partnerschaft. Die verschiedenen, komplexen Umwälzungen, die
in Folge dessen zu dieser turbulenten Zeit stattfanden, können im Folgenden nur
kurz umrissen werden. Man kann sie in die zwei große Teilbereiche aufteilen: die
Veränderungen in der Praxis der Partnerwahl (die Entstehung neuer Treffpunkte
und Heiratsmärkte, wirtschaftlicher Aufschwung, das Enststehen einer Massenkultur und die Verschränkung von Romantik und Ökonomie) und die Veränderungen in den Kriterien der Partnerwahl (die Neuinterpretation der Liebe als Selbstzweck und die Möglichkeit der Wahl sowie die Entkoppelung von Körperlichkeit
und Emotionen).
1.2.1 Transformation der Praxis der Partnerwahl
Neue Treffpunkte und Entstehung des „Datings“
Die Autonomie der Partnerwahl nahm Anfang des 20. Jahrhunderts unter anderem durch die zunehmende Emanzipation der Frauen zu, die erstmals Zugang zu
Bildungs- und Freizeitorganisation hatten. So entstanden neue Treffpunkte – beispielsweise dadurch, dass Frauen seit den zwanziger Jahren in Amerika und Westeuropa Universitäten besuchen durften.21 Das ermöglichte das Entstehen einer Jugendkultur, die ein Beisammensein mit dem anderen Geschlecht ermöglichte und
es zu einem wesentlichen Sozialisierungsmerkmal des Erwachsenwerdens werden ließ. Im Zuge dessen lockerte sich auch die (heteronormative) Sexualmoral in
der Mittelschicht und es wurden erste, wichtige Schritte in Richtung einer Gleichstellung der Geschlechter sichtbar.22 Die bedeutendste Entwicklung der romantischen Praktik dieser Zeit ist aber definitiv die Entstehung des „Datings“, damals
noch „Rendez-Vous“.
Während Historiker die Entstehung des „Rendez-Vous“ gegen Ende des 19. Jahr20
Vgl. ebd., S.40.
Vgl. ebd., S.55, Anmerkung: Illouz bezieht sich im Text nur auf die USA. In Deutschland und
Österreich durften Frauen ebenfalls seit den zwanziger Jahren Universitäten besuchen, in
Großbritannien, Frankreich, Spanien und der Schweiz sogar schon früher.
22
Vgl. ebd., S.55.
21
8
hunderts als eine Folge der veränderten Sexualmoral verstehen, sieht Eva Illouz
die neue Praktik eher als ein Zusammenspiel der neuen Definitionen von Privatheit und Intimität sowie der neuen Freizeitkultur und des Freizeitkonsums23 , einem Boom von Theatern, Kinos, Tanzlokalen, etc. Die früher gängige Praxis des
Hausbesuchs und des „Vorsprechens“ wurde von der breiten Masse abgelöst durch
eine Praktik, die vorher nur in der Arbeiterklasse gängig war: Man traf sich außerhalb des Hauses, um gemeinsam zu konsumieren. Liebesromantik wurde durch
den Erwerb von Waren ritualisiert.24 Vor diesem Wendepunkt in der ritualisierten, romantischen Beziehungsanbahnung traf man sich auf dem Land entweder
bei gemeinschaftlichen Veranstaltungen, also in der Kirche, bei Familienfeiern,
Volksfesten, etc. In der städtischen Mittelschicht in den USA war zuvor die Praktik des „Vorsprechens“ im Elternhaus weit verbreitet – eine Praktik, die von der
englischen Oberschicht übernommen wurde.25 In den dreißiger Jahren wurde die
bis dato in der Arbeiterklasse gängige Praxis des Brautwerbens außerhalb des Elternhauses von der breiten Mittelschicht auf dem Land und in der Stadt adaptiert
– Treffen unter jungen Erwachsenen bestanden nun hauptsächlich aus „Autofahren, einem neuen Film oder einer Tanzveranstaltung in der nahen Stadt“.26 Paare
bildeten nun „Inseln der Privatheit“ im öffentlichen Raum, gefestigt und strukturiert durch Konsumakte: „Als die Liebesbeziehung aus bestimmten sozialen Kontrollmechanismen befreit war, band das Geld sie über vielfältige und oftmals unsichtbare Konsumakte an den Markt.“27 Durch die Entstehung dieser neuen Praktik wurde die individuelle Liebeswahl mehr und mehr aus dem horizontal verlaufenden, moralischen und sozialen Gewebe der Gruppe herausgelöst und „selbstregulierende Kontaktmärkte entstanden“.28
Als die Liebe auf den Markt traf
In Amerika und Westeuropa kam es durch Industrialisierung und technischen Fortschritt zu wirtschaftlichem Aufschwung, der seinen Höhepunkt in den 1920er-Jahren
fand. Die Industrialisierung ließ große, nationale Unternehmen entstehen, die Arbeiterklasse wuchs und die Anzahl der Angestellten nahm zu. Der steigende Wohlstand ließ es zu, mit der Herstellung von Luxusartikeln für die breite Masse zu beginnen. Vor allem in den großen Städten kam es zu einer „spektakulären Entwicklung kommerzieller Vergnügungen“.29 Zu diesem Zeitpunkt entstanden in Amerika und Westeuropa nationale Werbeindustrien, die schnell große Erfolge erzielten
23
Vgl. Illouz 2007, S. 78.
Vgl. ebd., S.79.
25
Vgl. ebd., S.79.
26
Ebd., S.81.
27
Ebd., S.89.
28
Vgl. Illouz 2012, S.81.
29
Illouz 2007, S.54.
24
9
und den Konsum von Luxusgütern noch weiter vorantreiben konnten. Eine ausgedehnte Freizeitindustrie mit Kinos, Theatern, Tanzlokalen und Freizeitparks entstand. Die Filmindustrie erlebte eine Hochphase. Durch neue Technologien wie
Telefon, Radio, Fotografie, Schreibmaschine oder Hochgeschwindigkeitsdruckerpressen konnte eine Massenkultur entstehen.30 Das Ideal romantischer Liebe in
der westlichen Welt wurde zu einem unentbehrlichen Teil des Wohlstandsideales
und Teil einer kollektiven Utopie, die sich sozialisierungsunabhängig quer durch
die Gesellschaft zog und mit den kulturellen Widersprüchen des Kapitalismus verschränkt ist.31
In der Moderne werden Emotionalität und Ökonomie, Romantik und Rationalität unter einen Hut gebracht.32 Auch die moderne Partnerwahl verbindet ganz
selbstverständlich emotionale und ökonomische Interessen – allerdings anders als
in der Vormoderne, als Heirat noch primär dem Erhalt sozialer Hierarchien diente.
Heute ist sogar eine der wichtigsten Eigenschaften der Liebe, dass sie über soziale
Mobilität triumphieren kann (diese Vorstellung ist zentral in der modernen Interpretation von Romantik – unzählige Filme, Romane und Songs handeln von Liebesgeschichten, die soziale Hindernisse überwinden).33
Um 1800 herum entwickelte sich langsam, parallel zu anderen grundlegenden
gesellschaftlichen Veränderungen, der heute noch vorherrschende Komplex romantischer Liebesmythologie.34 Die neue Kultur, Ökonomie und soziale Organisation des fortgeschrittenen Kapitalismus waren dabei die grundlegenden Katalysatoren: Die Liebe traf auf den Markt und der Markt auf die Liebe.35 Eva Illouz fasst
den Einfluss des Kapitalismus auf die heutige romantische Sphäre so zusammen:
„Romantische Liebe ist eine kollektive Arena, in der die sozialen Teilungen und kulturellen Widersprüche des Kapitalismus ausgetragen werden.“36 Zu dieser Überschneidung von Liebe und Konsum kommt es laut Illouz aufgrund zweier Prozesse: die Romantisierung der Waren einerseits (durch Massenmedien, Film, Fernsehen und Werbung) und die Verdinglichung romantischer Liebe andererseits (die
enge Verbindung von Romantik und Freizeitgütern und -technologien).37 Romantik übersetzt sich in ökonomische Praktik und ökonomische Praktik in Emotionen.38
Die moderne, westliche Kultur und ihre Massenmedien stellen utopische Bil30
Vgl. Illouz 2007, S.55-56.
Vgl. ebd., S. 26.
32
Erich Fromm beschreibt diesen Umstand folgendermaßen: „Unsere gesamte Kultur gründet
sich auf die Lust am Kaufen, auf die Idee des für beide Seiten günstigen Tauschgeschäfts. [...]
Er (oder sie) sieht sich die Mitmenschen auf ähnliche Weise an.“ Fromm 1956 S. 13
33
Vgl. ebd., S.24.
34
Vgl. Kuchler/Beher 2014.
35
Vgl. Illouz 2007, S.25.
36
Ebd., S.26.
37
Vgl. ebd., S.53.
38
Vgl. ebd., S.52.
31
10
der und „symbolische Schnappschüsse“ zur Verfügung, die mit Romantik in Verbindung gebracht werden und die dem Bewusstsein helfen, Situationen in Romantik zu codieren.39 Warum zum Beispiel wird ein Spaziergang am Strand oder
ein Candle-Light-Dinner automatisch mit Romantik verbunden, obwohl diese Momente in einer realen Liebesbeziehung so selten vorkommen und Romantik sich in
der Realität oft im Alltag vollzieht? Erfahrungen werden mithilfe kultureller Codes
und Symbole Sinn zugeschrieben, und der westliche, symbolische Bilderkomplex
der Liebe entspringt den modernen Massenmedien, welche wiederum auf kapitalistischer Konsumsteigerung fußen – so die These Eva Illouz’. Nach dieser Logik
liegt der Ursprung dessen, was in der Moderne unter Romantik verstanden wird,
im Kapitalismus. Dementsprechend wird die Liebe in der Moderne auch immer
mehr mit den gleichen Begriffen erfasst wie ökonomische Austauschbeziehungen:
Es gibt einen „Marktwert“, man steht in „Konkurrenz“, macht „Kosten-NutzenRechnungen“ und sucht nach einem romantischen „Teamplayer“.
1.2.2 Transformation der Kriterien der Partnerwahl
Liebe als Selbstzweck, Individualisierung und die Möglichkeit der Wahl
Der im Westen gängige Prozess der Partnerwahl unterlag also Anfang des 20. Jahrhunderts einem fundamentalen Wandel, der auch die Kriterien der Partnerwahl
veränderte, indem die neue Kennenlernpraktik neue Kontaktmärkte und damit
auch eine größere Anzahl potentieller PartnerInnen in die Szenerie brachte. Während noch 1940 das Kennenlernen der amerikanischen EhepartnerInnen am Häufigsten über die Familie stattfand (24 Prozent), so wurde nur 20 Jahre später das
Kennenlernen über Freunde (knapp 30 Prozent) und das Treffen in Bars und Restaurants (Anstieg von 12 Prozent auf knapp 20 Prozent) relevanter.40 Zusammen
mit den im Hintergrund ablaufenden, gesellschaftlichen Neuentwicklungen – sexuelle Liberalisierung, wirtschaftlicher Aufschwung, die Adaption der neuen Liebesutopie in den Massenmedien – bewirkte die Entstehung dieses erweiterten,
romantischen Marktes auch einen Wandel in den Kriterien der Partnerwahl, die
gleichzeitig emotional-psychologischer und sexueller wurden. Dadurch, dass sexuelles Verlangen als immer autonomere Kategorie wahrgenommen wurde, wurden soziale Räume erzeugt, die auf planmäßig sexuell-romantische Begegnungen
ausgelegt waren (Bars, Clubs, und seit Neuestem: Online-Dating und Dating-Apps).41
Die Partnersuche ist in der westlichen Welt inzwischen zu einem festen Abschnitt
des Lebenszyklus geworden.42
39
Vgl. ebd., S.30.
Vgl. Ansari 2015, S.81.
41
Vgl. Illouz 2012, S. 107.
42
Vgl. ebd., S.111.
40
11
Die Moderne ist geprägt durch die Radikalisierung von Freiheit und Gleichheit
und die Ausbildung eines reflexiven und emotionalen Selbst, das sich seine Identität nicht mehr länger über Standeszugehörigkeit bilden kann. Luhmann bezeichnet die Liebe in der Moderne als einen reflexiven Mechanismus, und damit als
eine voraussetzungsvolle, riskierte und störungsanfällige Institution.43 Der moderne Mensch definiert sich über seine Emotionen und seinen (affektiven) Individualismus. Die individuelle Liebeswahl wurde nach und nach „aus dem moralischen und sozialen Gewebe der Gruppe herausgelöst“.44 Die neuen, öffentlichen
Kontaktmärkte schufen eine neue Sichtbarkeit romantischer Liebe. Diese wurde
in den Massenmedien aufgenommen und genutzt, was die Transformation hin zu
einem modernen Liebesmythos noch zusätzlich beschleunigte. Das moderne, romantische Ideal wurde mehr und mehr zu einer medial omnipräsenten „visuellen
Utopie“.45 Romantische Liebe und Sexualität dienten nun mehr und mehr als (voneinander entkoppelte) Schauplätze der Aushandlung des Selbstwertgefühls.46 Die
romantische Liebeswahl wird damit gleichzeitig sehr viel freier, aber auch zu einer
Quelle von Unbehagen, Desorientierung und Verzweiflung.47 Gleichzeitig nimmt
der Bedarf nach romantischer Bindung in der Moderne immer mehr zu, denn das
von der Liebe verliehene Selbstwertgefühl in modernen Beziehungen ist von akuter Bedeutung, da Individualismus allein kein Selbstwertgefühl begründen kann.
Liebe konnte in der Vormoderne keinen Ersatz für gesellschaftliche Anerkennung
darstellen (damals waren Anstand, Schicht und Geschlechtsidentität wichtiger) –
in der Moderne hingegen gründen wesentliche Aspekte gesellschaftlicher Anerkennung im (aus dem sozialen Stand herausgelösten) Selbst, in Individualität und
Emotionen, und letztlich in romantischen Beziehungen (da man sich durch erwiderte Liebe in seiner Einzigartigkeit gegenseitig bestätigt). All das ist die Folge eines langen Tranformationsprozesses der Gesellschaftsstruktur und Geselligkeit in
Westeuropa.48 Die romantische Liebe wird also zum zentralen Schauplatz der Aushandlung von gesellschaftlicher Anerkennung, und im selben Zug zu einer Quelle
der Verunsicherung, weil romantische Zurückweisung nun das gesamte Kontrukt
des Selbstwerts bedroht. Dabei kommt es außerdem zu einer Widerspruchsbeziehung zwischen Anerkennung und Autonomie, weil man das eine nur schwer ohne
Bindung bekommen kann, das andere aber teilweise aufgeben muss, um Bindung
überhaupt zu erfahren – das macht moderne, romantische Beziehungen zu einem
Drahtseilakt.49 Diese Spannung mündet oft in einem Machtspiel, in dem keiner
43
Vgl. Luhmann/Kieserling 2008, S.38.
Illouz 2012, S.81.
45
Ebd., S.60.
46
Vgl. ebd., S.215.
47
Vgl. ebd., S.29.
48
Vgl. ebd., S.210-222.
49
Vgl. ebd., S.242-243.
44
12
der beteiligten Personen bereit ist, die nötige Verbindlichkeit einzufordern, solange Autonomie auf dem Spiel steht. Es triumphiert das Gebot der Autonomie über
das Gebot der Anerkennung und romantische Beziehungen scheitern, um Autonomie nicht zu gefährden. Dadurch gerät das Selbst wiederum erneut in die Bredouille, denn auch das Scheitern oder die Abwesenheit romantischer Beziehungen
sind nun die Folge der eigenen „Unfähigkeit“: denn in der Moderne ist, frei nach
ökonomischer Logik, jeder seines Glückes Schmied und Scheitern begründet sich
in persönlichem Unvermögen.50
Trotz dem neuen, nie dagewesenen Maß an Wahlfreiheit ist die moderne Liebeswahl daher keineswegs frei von gesellschaftlichem Einfluss. Entscheidungen,
die Liebe und Romantik betreffen, werden mithilfe moralischer Abwägung getroffen. Moral bildet sich in der Moderne nicht mehr durch Religion, festgelegte Rollen
und Rituale, sondern durch Gesellschaft. Daher sind moderne, romantische Wahlentscheidungen durchdrungen von öffentlichen Vorstellungen von Moral. Das bedeutet, jede Liebesentscheidung geht letztlich von einem Ich aus, das auch eine
öffentliche Einheit ist; das seine Entscheidung mit seiner Umwelt abstimmt und
das moralische Standards mit der neugewonnenen Wahlfreiheit in Einklang bringen muss.51 Private Entscheidungen sind öffentliche Entscheidungen, sie werden
stets mit der öffentlich-ritualisierten Welt abgestimmt und begründen den Selbstwert mit. Durch das Auseinanderfallen von Emotionen und Körperlichkeit (auf das
an späterer Stelle genauer eingegangen wird) verlangt der neue, romantische Habitus, dass Wahlentscheidungen gleichzeitig rational (nach ökonomischer Logik)
und irrational („authentisch“) getroffen werden, was eine Vielzahl von Dispositionen verursacht.52 Die neue Betonung der Introspektion und der Praxis der Selbstbefragung stehen in Widerspruch mit der Prämisse einer „rationalen“ Partnerwahl, die das große Angebot verlangt. Auf diese Art und Weise wird die kulturelle
Praxis der Intuition untergraben.53 All dies führt zu einer nie dagewesenen Freiheit im Bereich romantischer Wahl, aber gleichzeitig zu einem bisher einzigartigen Maß an Verunsicherung – zu einem Regime emotionaler Authentizität: Gefühle werden nun auf Wichtigkeit, Ernsthaftigkeit und Bedeutung hinterfragt, was
ein völlig neues Phänomen darstellt. In der Vormoderne ging man davon aus, dass
äußere Handlungen und innere Absichten miteinander überein stimmen – das ist
nun vorbei.54 Dementsprechend gilt emotionale Offenbarung nun als Grundvoraussetzung für eine funktionierende Paarbeziehung. Als Folge all dieser komplexen Veränderungen ist Verunsicherung „zu einem dauerhaften Merkmal des mo50
Vgl. ebd., S. 279-280.
Vgl. ebd., S.55.
52
Vgl. ebd., S.103.
53
Vgl. ebd., S.180.
54
Vgl. ebd., S.63.
51
13
dernen Lebens“ geworden.55 Das Maß an Möglichkeiten steigt sozusagen parallel
zu dem Maß an Erwartungen und Verunsicherung ist die Folge.
Erotisches Kapital und Dissoziation von Emotion und Körperlichkeit
Mit dem Fortschreiten der Moderne erfuhren die Bedingungen romantischer Wahlentscheidungen eine immer größere Entgrenzung: Die westliche, sexuelle Liberalisierung (mit ihrem Höhepunkt in der „sexuellen Revolution“), Politisierung und
Kommerzialisierung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beseitigten einige
gesellschaftliche Tabus. Neue Verhütungsmethoden und veränderte moralische Standards mündeten in einer radikal neuen Einstellung zu vorehelichem Sex, vor allem
nach den 1960er Jahren.56 In Folge dessen verloren endogame Regeln der Partnerwahl mehr und mehr an Gewicht. Emotionen und Sexualität teilten sich in zwei Bereiche, deren Grenzen aber immer wieder verwischen, sich ineinander verschränken und uns oftmals unklar bleiben. Liebe und Sex bilden heute Grundlagen für
getrennte und parallele Liebeserzählungen.57 Demensprechend haben sich die Bewertungsmodi der Partnersuche in zwei Stränge geteilt: Emotionale Intimität und
psychologische Vereinbarkeit auf der einen, erotische Ausstrahlung auf der anderen Seite.58
In der Zeit seit der sexuellen Revolution in den frühen Siebziger Jahren erfahren
die Deutungschemata, unter denen Sexualitäten (die auch seitdem zunehmend im
Plural verstanden werden) einen schnellen und kontinuierlichen Wandel. Die Sexualitätsgeschichte kann daher als Diskursgeschichte dienen, die frühere und aktuelle Körperbilder offen legt und Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Sexualitäten zulässt.59 Auch in diesem Diskurs wird die zentrale Rolle
von Kapitalismus und Konsum immer wieder hervorgehoben: „Der Konsum ist [...]
als eine Praxis zu beschreiben, die immer auch Phantasien, Emotionen und Sexualitäten, und damit Beziehungen und Subjektivitäten mit produziert“.60 Die negative Sexualmoral im bürgerlichen Nachkriegsdeutschland kollidierte zur damaligen
Zeit mit der in den Massenmedien propagierten Freiheit und Selbstverwirklichung
(in der Popmusik, im Kino, etc.). Erst ab diesem Zeitpunkt erfuhren solche Sexualitäten Visibilität, die sich nicht auf heteronormative Ehe und Familiengründung
bezogen – somit konnte die Sexualität erstmals als ein Feld persönlicher Entwicklung und als Selbstzweck fungieren.61 Es folgte in der BRD (in Reaktion auf die
Entwicklung in den USA) eine regelrechte „Sexwelle“ in den Massenmedien – so
55
Ebd., S.30.
Vgl. ebd., S.119.
57
Vgl. Illouz 2007, S. 197.
58
Vgl. Illouz 2012, S.82.
59
Vgl. Kahrer 2013, S.15.
60
Bänzinger, Stegmann 2010, S. 30, zitiert nach: Kahrer 2013, S.15.
61
Vgl. Kahrer 2013, S.21.
56
14
war 1968 die Abbildung nackter Haut in den Printmedien in Westdeutschland so
häufig wie in keinem anderen Land.62 Von 1969 bis 1971 erlebte die BRD außerdem
einen „Pornographie-Boom“ und Sexualität wurde (anders als von der Studentenbewegung intendiert) mehr und mehr zur Ware und zu einem wichtigen Teil der
kapitalistischen Maschinerie – sexuelle Befreiung wurde durch sexuellen Konsum
ersetzt.63 Die Verbreitung der Anti-Baby-Pille in den frühen Sechzigern stellt die
wohl wichtigste Neuerung im modernen Sexualitätsdiskurs dar und verhalf Frauen zu einem nie dagewesenen Maß an sexueller Selbstbestimmung (Nachteile wie
hormonelle Nebenwirkungen und die Tatsache, dass durch die Pille die Verhütung nun allein auf den Schultern der Frauen lastete, wurden erst später thematisiert). Die Pille manifestierte in einem gewissen Maße die immer sichtbar werdende Trennung der lustvollen von der reproduktiven Sphäre, konnte aber auf lange Sicht keine wirkliche Befreiung der Frau gewährleisten, wie die feministische
Bewegung der 70er Jahre immer wieder feststellte.64 Diese Trennung der Sphären Lust und Reproduktion brachte auch eine Schwächung des bürgerlichen Ehekonzepts mit sich. Ehe und Familie konnten nun getrennt voneinander betrachtet
werden und das Prinzip der seriellen Monogamie vor der Ehe wurde zur verbreiteten Norm – die Ehe wurde und wird also immer noch oft als Ziel betrachtet, ihr
gingen aber von nun an im Idealfall eine Reihe vorheriger (monogamer) Liebesbeziehungen voraus. Dieses Modell wird in der modernen Liebesmythologie als wünschenswert und „normal“ gesehen, das ultimative Ziel der Ehe verliert zunehmend
an Bedeutung.65
Im gleichen Zuge wurde der (vor allem weibliche) Körper in so gut wie allen Massenmedien simultan ästhetisiert (vor allem in den Bereichen Mode, Werbung und
Film), Schönheit und Erotik wurden als Ideal vom Charakter und von Emotionen
abgetrennt – der Begriff der „Sexyness“ entstand und bildete eine neue Form kulturellen Kapitals, das nun zum Habitus des modernen, westlichen Menschen gehört
(„erotisches Kapital“).66 Er offenbart, dass „die Geschlechtsidentität von Männern
und Frauen in der Moderne in eine sexuelle Identität verwandelt worden ist“.67
Erst ab diesem Zeitpunkt wurde die körperliche Anziehung zum Partner oder
zur Partnerin zu einer Voraussetzung für eine Liebesbeziehung oder die Ehe. Luhmann schreibt: „Sexualität gewinnt für die Liebe eine Basisfunktion, die vergleichbar ist der Funktion, die physischer Zwang für politische Macht, die intersubjektiv zwingende Gewissheit der Wahrnehmung für wissenschaftliche Wahrheit, die
Deckung in Gold, Devisen oder staatlichen Entscheidungskompetenzen als Garan62
Vgl. ebd., S.24.
Vgl. ebd., S.25.
64
Vgl. ebd., S.30.
65
Vgl. ebd., S.36.
66
Vgl. Illouz 2012, S.111.
67
Ebd.,S.83.
63
15
tie der Befriedigung von Bedürfnissen für eine Geldwährung erfüllt.“68 Sexualität
wird also zur „Währung“ der Liebe, zu der real-sichtbaren Handlung, die sie bestätigt und „echt werden lässt“ und sie von der imaginären in die materielle Welt
überführt. Im Fortschreiten dieser Entwicklung gewann das neue „erotische Kapital“ immer mehr an Relevanz. Eine große Anzahl sexueller Erfahrungen dient heute als Lieferant für Status und Selbstwertgefühl. Sexualität und „Sexyness“ wurden in der Folge zur allgemeinen Metapher für Begehren, was sich vor allem in der
modernen Werbeindustrie zeigt („sex sells“). Die Konsumkultur konstruiert erotisierte Körper und bestimmt, was als erotisch gilt und was nicht.69 Dadurch, dass
„Sexyness“ durch die Massenmedien so stark standardisiert ist, entsteht eine Hierarchie sexueller Attraktivität, die einen Großteil der Bevölkerung ausschließt.70
Erotisches Kapital ist allerdings in verschiedenen Sozialisierungen unterschiedlich konstituiert und wird unterschiedlich gewertet – vor allem zwischen männlicher und weiblicher Sozialisation. Männer können erotisches Kapital offener als
Statussymbol nutzen, während Frauen oft noch in widersprüchlichen Strategien
zwischen Anhänglichkeit und Distanzierung gefangen sind.71 Verschiedene kulturelle Entwicklungen des modernen Patriarchats (in Verschränkung mit moderner
Konsumkultur) führten zu einer großen Widersprüchlichkeit der weiblichen Körperlichkeit: Weibliche Körper werden gleichzeitig massiv durch die Massenmedien ästhetisiert, objektifiziert und erotisiert, während offen ausgelebte weibliche
Sexualität immer noch stark stigmatisiert ist. Die Folge ist eine in widersprüchlichen Definitionen von Weiblichkeit gefangene Kultur, die die Objektifizierung
von Frauen zur Norm werden lässt.72
Diese neue Trennung von Körperlichkeit und Emotion hat verschiedene, neue
Formen des Begehrens zur Folge, da man beide Bedürfnisse voneinander entkoppelt zu befriedigen sucht: Einerseits das Bedürfnis nach Körperlichkeit ohne Emotionen (One Night Stands, Hook-Up-Culture, Friends with Benefits, etc.) und andererseits das Bedürfnis nach Emotionalität ohne Körperlichkeit (der Wunsch nach
Intimität ohne „Hintergedanken“). Völlig neue Bedingungen, unter denen Menschen miteinander Sex haben, entstanden und narzisstische Formen von Sex, die
ihn als Statusmerkmal behandeln, wurden immer gängiger und akzeptierter. In
den USA hat die Bedeutung der sexuellen Attraktivität als Kriterium für die Part68
Luhmann/Kieserling 2008, S.43.
Vgl. Illouz 2012., S.86.
70
Vgl. ebd. S.99.
71
Vgl. ebd., S.108.
72
Die Folge ist eine „rape culture“, eine kulturelle Norm, die sexuelle Gewalt gegen Frauen befördert und geradezu produziert. Dabei wird den Opfern die Schuld für sexuelle Gewalt gegeben
– durch die Art und Weise, wie sie sich verhalten oder kleiden („victim blaming“). Der moderne Feminismus setzt sich mit diesen Problematiken stark auseinander, indem beispielsweise
gegen „slut shaming“ gekämpft wird – mit dem Ziel, Frauen aus der Benachteiligung durch
sexuelle Stigmata zu befreien.
69
16
nerwahl in den letzten 50 Jahren nachweislich stetig zugenommen.73 Diese Veränderungen schaffen Bedingungen für neue Kontaktmärkte, deren Währung in der
Regel bei Männern Status und bei Frauen Attraktivität ist.74
Die neue, romantische Utopie betrachtet also Sexualität und Emotion als zwei
voneinander getrennte Bereiche, die jedoch beide schlussendlich in der „perfekten
Beziehung“ – in der Verbindung mit einem Seelenverwandten, in einer lebenslangen Liebesaffäre – aufgehen soll, die sich am Besten gleichzeitig durch funktionierendes „Teamplay“ (Luhmann nennt das den Ehetypus der „companionship“75 )
auszeichnet – eine Utopie, die unglaublich hohe Erwartungen schürt. Der soziale
Habitus verliert als Partnerwahlkriterium an Bedeutung, da Sex und „Sexyness“
(„erotisches Kapital“) immer mehr an Relevanz gewinnen.76 Diese neue, entemotionalisierte Sexualität erschwert die Interpretation von Absichten immer mehr,
in der Folge wird die beschriebene moderne Verunsicherung stärker und stärker.
73
Vgl. ebd., S.93.
Vgl. ebd., S.100.
75
Vgl. Luhmann/Kieserling 2008, S.17.
76
Vgl. Illouz 2012., S.96.
74
17
2 Liebe Post Internet
2.1 Eine neue Ära?
Der Begriff der Postmoderne tauchte bereits 1870 im Kontext von Malerei das erste Mal auf.1 Seither hat der Begriff in verschiedensten Kontexten unterschiedliche Verwendung gefunden – in der Architektur, Kunst, Popmusik, Literatur, Mode – bis hin zu gesamtgesellschaftlicher Theorie. Theoretiker aus allen möglichen
Disziplinen streiten heute – 30 Jahre, nachdem diese Diskussion zum ersten Mal
geführt wurde – wieder über den Begriff der Postmoderne und darüber, ob wir
uns in einer postmodernen Gesellschaft befinden. Vor dem Fall der Mauer war die
Theorie der gerade anbrechenden Postmoderne in aller Munde, wurde aber nach
dem Untergang des Kommunismus ad acta gelegt und als unzutreffend abgehakt.2
Heute muss man sich die Fragen der Achtziger Jahre aufs Neue stellen, denn technischer Fortschritt, Globalisierung, fortschreitender und sich verändernder Kapitalismus und neue Probleme mit der Demokratie (wachsender Einfluss von Lobbygruppen, „Herrschaft der Sachzwänge“, wachsende Vermischung von Politik und
Wirtschaft, wachsende Indifferenz politischer Parteien) deuten darauf hin, dass
wir uns in einer Epoche befinden, die man nicht mehr länger unter dem Begriff
der Moderne fassen kann.
Der Soziologe Ulrich Beck entwickelte um das Millenium herum die Theorie der
reflexiven bzw. Zweiten Moderne und distanzierte sich vom Begriff der Postmoderne, weil er in der neuen Situation eher eine Pluralisierung bestehender Verhältnisse – und kein Ablösen der alten Ordnung durch eine neue – sieht (keine Destrukturierung, sondern eine Restrukturierung).3 Aber auch der Begriff der Postmoderne wird oftmals ähnlich definiert: „Die Diskussion um die Postmoderne ist im Kern
eine Auseinandersetzung um die Moderne“.4 Sie wird als eine Reaktion auf die unglaubwürdig gewordenen Ideale der Moderne interpretiert.5 Um den vielfältigen
Interpretationen des Begriffs der „neuen Ära“ zu entgehen, stützt sich diese Arbeit
auf Becks eindeutigeren Begriff der reflexiven bzw. Zweiten Moderne, der von ei1
Vgl. Kofler 2008, S.5.
Vgl. Assheuer 2012.
3
Vgl. Beck/Bonß 2001, S.11-14.
4
Welsch 1994, S.2, zitiert nach: Kofler 2008, S.8.
5
Vgl. Kofler 2008, S. 124.
2
18
nem Metawandel ausgeht, in dem sich „Koordinaten, Leitideen und Basisinstitutionen“ der westlichen Welt grundlegend verändern und neu anordnen.6
Die Moderne war geprägt durch verschiedene Utopien, die sich heute endgültig
als solche erwiesen haben: Die Vorstellung, dass sich die Menschheit durch Wissenschaft und Technik emanzipieren kann, die Verheißungen sowohl des Kapitalismus als auch des Kommunismus – allgemein: die utopische Vorstellung, dass
gesellschaftliche Patentlösungen existieren. Heute sieht sich die westliche Gesellschaft mit einer sehr viel komplexeren Realität konfrontiert, in der man sie nicht
mehr als Einheit reproduzieren kann. Es kommt zu einer „wachsenden Diskrepanz zwischen [...] nationaler Vergangenheit und globaler Zukunft“.7 Die Welt lässt
sich nicht mehr länger als ganzes System betrachten, sondern jedes Subsystem
(Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Sozialstaat oder eben romantische Liebe) entwickelt seine eigene Logik und Dynamik. Sie lässt sich nicht mehr in Nationalstaaten einteilen, sondern wird immer mehr zum globalen, geschlossenen Aktionsraum.8 Individualität baut nicht mehr länger auf Stand, Klasse oder Geschlecht
auf, die Erwerbs- und Vollbeschäftigungsgesellschaft befindet sich im Wandel.9
Beck spricht in diesem Zusammenhang von einem Epochenbruch aufgrund einer
„Revolution der Nebenfolgen“ – die Moderne brachte Phänomene hervor, die sie
nun von innen heraus zum Einstürzen bringt: Globalisierung, neue Individualität,
Geschlechterrevolution, Krise der Erwerbsgesellschaft, Klimawandel.10 Fortschritt
kann nicht länger evolutionär gedacht werden, sondern folgt einer Diskontinuität. Bestimmte Handlungsmaximen passen auf die eine Situation, aber nicht auf
die andere. Der reflexiv-moderne Mensch sieht sich mit einer Vielzahl an Lebensmodellen, Denkweisen und ethischen Systemen konfrontiert, die sich nicht länger
ohne Weiteres miteinander in Relation setzen lassen: Wahrheit, Gerechtigkeit und
Menschlichkeit stehen nun im Plural. Und er muss mit dem Privileg und der Belastung umgehen, dass er nun aus einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten
wählen muss. Daher fällt es so schwer, die gegenwärtige Epoche auf einen Begriff
zu reduzieren – auch deshalb, weil die Perspektive inzwischen zu einer globalen
geworden ist.
„Reflexive Moderne“ bedeutet in diesem Kontext also keine einheitliche, fundamental neuartige Logik aller gesellschaftlichen Systeme, sondern die Zersplitterung der Logik der Moderne in ein komplexes Puzzle aus Subsystemen, die in
verschiedenen Entwicklungsphasen stecken und nach verschiedenartigen Logiken funktionieren. Die Zweite Moderne ist somit nicht als Antimoderne oder Nachmoderne zu verstehen, sondern als eine komplexe und pluralisierte Differenzie6
Beck/Bonß 2001, S.31.
Ebd., S.29.
8
Vgl. ebd., S.14-17.
9
Vgl. ebd., S.20-22.
10
Vgl. ebd., S.22-25.
7
19
rung der Moderne. Der Soziologe Hartmut Rosa ist der Meinung, dass alle gesellschaftlichen Subsysteme trotz ihrer Eigendynamiken eine bestimmte Entwicklungstendenz gemein haben: das Streben nach (ökonomischen) Wachstum, Steigerung und Beschleunigung.11
In der Radikalisierung der Moderne kommen auch gesellschaftliche Institutionen, die mit der romantischen Liebe zusammenhängen (beispielsweise die Kleinfamilie und festgelegte Geschlechterrollen), in Legitimierungsdruck und werden
wähl- und gestaltbar. Die schnelle Pluralisierung der Gesellschaftsformen erzeugt
ein ganz neues Maß an Verunsicherung, denn der reflexiv-moderne Mensch muss
sich seine Leitfäden selbst schaffen.12 Beck beschreibt drei verschiedene Vorgehensweisen, um mit dieser Außerkraftsetzung der Prämissen der Moderne und
der neuen Flexibilität umzugehen: (1) Die Entwicklung leugnen, (2) sie annehmen
und aktiv in ihr handeln (reflexiver Pluralismus) oder (3) sie ablehnen und versuchen, alte Werte neu zu legitimieren (reflexiver Fundamentalismus).13 Alle drei
Tendenzen finden sich auch im reflexiv-modernen Umgang mit der romantischen
Liebe. Vieles deutet darauf hin, dass die Verunsicherung, die gegenwärtig oft im
Umgang mit romantischer Liebe beschrieben wird, in der Außerkraftsetzung der
Prämissen der Moderne entspringt.
2.2 Das Internet als Katalysator für die
reflexiv-moderne Liebestransformation
Das Internet ermöglicht ein nie dagewesenes Maß an Beschleunigung der Transformation der Liebesmythologie – vor allem haben sich die Kriterien und Praktiken
der Partnersuche noch nie so radikal und schnell verändert. Keine andere Art und
Weise, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, hat jemals so schnell und so
stark an Bedeutung gewonnen wie das Kennenlernen über das Internet.14 Das Internet als Ort des Kennenlernens ist inzwischen relevanter als der Arbeitsplatz, die
Schule und der Freundeskreis zusammen.15 In Amerika ist es inzwischen zur dritthäufigsten Art des Kennenlernens unter gegengeschlechtlichen PartnerInnen geworden – ein rapider Anstieg von Null auf 20 Prozent innerhalb von 20 Jahren, Tendenz steigend. Bei gleichgeschlechtlichen Paaren macht das Kennenlernen über
das Internet sogar rund 70 Prozent aus – das ist die mit Abstand häufigste Art des
Kennenlernens.16 Tatsächlich leben Personen mit einem Internetanschluss sogar
11
Vgl. ebd., S. 22-25.
Vgl. ebd., S.34.
13
Vgl. ebd., S.48-53.
14
Vgl. Rosenfeld/Thomas 2012, S.530.
15
Vgl. Cacioppo et al. 2011, zitiert nach: Ansari 2015, S.79.
16
Vgl. Abbildung 1, S.37.
12
20
allgemein wahrscheinlicher in einer Partnerschaft.17 Einer Studie von 2013 zufolge
benutzen 38 Prozent der amerikanischen Singles Online-Dating-Plattformen oder
-Apps zur Partnersuche. Die Akzeptanz gegenüber Online-Dating hat zugenommen: 59 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass Online-Dating ein
guter Weg ist, um Menschen kennenzulernen (2005 waren es nur 44 Prozent).18
Es lässt sich also sagen, dass das Internet in sehr kurzer Zeit zum relevantesten
romantischen Kontaktmarkt der reflexiven Moderne geworden ist und diese Tendenz vermutlich vorerst bestehen bleiben wird – während alle anderen Kontaktmärkte langsam und stetig an Relevanz verlieren.19 Auch Eva Illouz bezeichnet das
Internet beziehungsweise Online-Dating als den bedeutendsten Trend in der modernen Partnersuche.20 Somit kann man das Eindringen des Internets in die romantische Sphäre (und der Partnersuche im Besonderen) durchaus als den Beginn
einer neuen Ära bezeichnen: Der Ära Liebe Post-Internet.
Aber nicht nur die Suche nach einem Partner oder einer Partnerin hat sich durch
das Internet radikal verändert, sondern menschliche Beziehungen allgemein müssen sich nun mit ganz neuen Arten der Kommunikation zurechtfinden und auf sie
reagieren. Kurz gesagt verändert das Internet in der westlichen Welt alle Bedingungen, unter denen Menschen agieren, wie sie kommunizieren und wie sie Informationen einholen. Das Internet ist in rasender Geschwindigkeit zum wichtigsten
Medium der Gegenwart geworden, und das so selbstverständlich, dass es inzwischen nicht mehr als eigenständiges Phänomen ohne Rückwirkung auf die Gesellschaft thematisiert werden kann – es ist den jüngeren Generationen zur zweiten
Natur geworden. Eine Unterscheidung in Online- und Offlinephänomene ist heute nicht mehr sinnvoll, die Grenzen verlaufen fließend und verschwinden teilweise
komplett.21 Der britische Schriftsteller Douglas Adams stellte 1999 eine These zur
menschlichen Reaktion auf technologische Neuerungen auf, ein „set of rules“, die
folgendes besagt:
„1) everything that’s already in the world when you’re born is just normal;
2) anything that gets invented between then and before you turn thirty
is incredibly exciting and creative and with any luck you can make a
career out of it;
17
Vgl. Rosenfeld/Thomas 2012, S.530-540.
Vgl. Smith/Duggen 2013, S.1.
19
Vgl. ebd., S.543.
20
Vgl. Illouz 2004, S. 136.
21
In dieser Arbeit müssen Phänomene des modernen Lebens, die mit dem Internet zusammenhängen, sich aber nicht auf die Partnersuche beziehen, ausgeklammert werden. Es sollte aber
nicht unerwähnt bleiben, dass beispielsweise die textuelle Kommunikation über das Internet
während einer romantischen Beziehung auch ein Thema darstellt, dass einer umfassenden
Analyse Wert wäre und das wissenschaftlich durchaus behandelt wird und werden sollte.
18
21
3) anything that gets invented after you’re thirty is against the natural
order of things and the beginning of the end of civilisation as we know
it until it’s been around for about ten years when it gradually turns out
to be alright really.“22
In Bezug auf das Internet kann man die westliche Gesellschaft entsprechend
dieser drei Umgangsweisen mit dem neuen Medium in folgende Generationen
unterteilen: „Digital Immigrants“ (circa vor 1980 geborene Personen, die die Etablierung des Internets aus einem erwachsenen Standpunkt miterlebten), „Digital
Natives“ (circa zwischen 1980 und 1992 gebore Personen, die quasi „mit dem Internet gemeinsam“ groß wurden) und die „Google Generation“ (circa ab 1997 geborene Personen, für die das Internet seit der Geburt Normalität ist). Ein Großteil
der Menschen, die heute in der westlichen Welt in jener Lebensphase stecken, in
der sie nach einem Partner oder einer Partnerin suchen, lässt sich demnach zu
den „Digital Natives“ zählen. Diese Gesellschaftsgruppe erfährt dementsprechend
auch die größte Veränderung der reflexiv-modernen Liebesmythologie durch den
wachsenden Einfluss des Internets und damit auch das größte Maß an Verunsicherung. In der Praxis der Partnersuche zeigt sich die veränderte Liebesutopie am
Klarsten, denn in keiner anderen Situation reflektiert man so stark über eigene
Wünsche, Ideale und Ansprüche an die potentielle Liebesbeziehung. Aus diesem
Grund wird im Folgenden ein Fokus auf die Veränderungen in der Partnersuche
jener Gruppe von Menschen gelegt. Nach Douglas Adams ist die Reaktion dieser
Generation auf das neue Medium Internet eine gewisse Experimentierfreudigkeit,
die sich auch auf den Bereich der Partnersuche und des Datings übertragen lässt.
In den letzten 15 Jahren hat eine sehr schnelle und interessante Transformation
der Bedingungen stattgefunden, unter denen Online-Dating stattfindet. Von den
ersten Dating-Websites Mitte der Neunziger (bei denen vor allem „Digital Immigrants“ beteiligt waren) bis hin zu den heute gängigen Dating-Apps wie Tinder
oder Lovoo (vor allem genutzt von „Digital Natives“) hat eine sehr starke Veränderung der Präferenzen der Online-Partnersuche stattgefunden, welche Rückschlüsse auf den Umgang verschiedener Generationen mit der Partnersuche und mit der
sich entwickelnden reflexiv-modernen Liebesutopie allgemein zulässt.
Der Siegeszug des Online-Datings stellt eine logische Übersetzung der veränderten Bedingungen der reflexiv-modernen Liebesmythologie in das technologische Zeitalter dar. Das Internet bietet einen perfekten Nährboden, um auf die wichtigsten Veränderungen der neuen Liebesutopie zu reagieren, die Suche zu rationalisieren und zu optimieren: Es vergrößert den Pool der potentiellen Partner und
Partnerinnen ins Unendliche und steigert die Wahlfreiheit auf ein nie dagewesenes Level, es ermöglicht ein ganz neues Maß der Entkoppelung von Körperlichkeit
22
Adams 1999.
22
und Emotion (da das Internet die Suche nach jeder Art von Beziehung – ob rein
sexuell oder auf eine lange Partnerschaft angelegt – ermöglicht und extrem vereinfacht), es betont das moderne Empfinden von Individualität, fördert und verlangt
ein gewisses Maß an „Selbstdesign“ und stellt den in der Moderne sehr relevanten
Begriff der Authentizität auf die Probe. In der Begegnung und Kommunikation
im Internet finden sich neue Bedingungen menschlicher Interaktion, was komplett neue Widersprüchlichkeiten entstehen lässt, die die romantische Begegnung
im 21. Jahrhundert maßgeblich prägen.
Alle zuvor beschriebenen Veränderungen der modernen Liebesmythologie erfahren durch die technische Innovation des Internets in der reflexiven Moderne
eine extrem beschleunigte Radikalisierung. Stark vereinfacht lassen diese sich folgendermaßen zuusammenfassen:
• Dating: Das Internet ermöglicht eine nie dagewesene Entgrenzung des Pools
potentieller PartnerInnen. Die Wahl wird damit also noch stärker als je zuvor zum zentralen Moment der Partnersuche.
• Konsum: Die populären Dating-Plattformen der Gegenwart setzen auf eine Übersetzung von Marktlogik auf die Partnersuche. Das „erotische Kapital“ wird zur zentralen Währung in diesem Konkurrenzmarkt, es bestimmt
einen Großteil des Marktwertes und bestimmt die Position in der Hierarchie. Die Partnersuche wird mehr als je zuvor zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung.
• Liebe als Selbstzweck: Die Uminterpretation der Liebe als Teil des „Ich-Projektes“
erfährt in dem Sinne eine Radikalisierung durch das Internet, dass die Vernetzung in sozialen Medien und die neue, globale Perspektive auf die Welt
das Bedürfnis nach Individualität steigern. Romantische Liebe wird dadurch
mehr und mehr als eine Art Belohnung für eine gute Lebensführung betrachtet, Selbstliebe wird zur Voraussetzung für Fremdliebe interpretiert und das
Scheitern von Beziehungen wird auf Unreife der Beteiligten geschoben – das
Internet verstärkt die Annahme, dass „jeder seines Glückes Schmied“ ist.
• Dissoziation von Emotion und Körperlichkeit: Das Internet hat die Entkoppelung von Liebe und Sex in einem unglaublich hohen Maße vorangetrieben. Ein wesentlicher Grund dafür ist die neue Verfügbarkeit von Pornografie, die das Internet gewährleistet. Im Internet ist Sex nahezu allgegenwärtig und jederzeit verfügbar, etliche Studien belegen den Einfluss von Internetpornografie auf die kollektive Wahrnehmung von Sexualität und ihre
Abkoppelung von der Sphäre romantischer Bindung.23 Die andere Seite die23
Einen ersten Überblick bietet beispielsweise der folgende Artikel von Robin Junker (2013): http:
//bit.ly/29P69hA
23
ser Medaille bildet eine Form von sexual empowerment, die ohne das Internet ebenfalls kaum denkbar wäre. Mehr denn je wird Sex als Teil der Identität verstanden und enttabuisiert. Damit werden auch etliche Stigmata abgeworfen, die in der Ära prä Internet kaum wegzudenken waren.
2.3 „Liebe ist kein Zufall“: Das klassische
Online-Dating
Seitdem das Internet für die Bevölkerung zugänglich ist, wird es als Werkzeug
zum Kennenlernen neuer Menschen und potentieller LiebespartnerInnen genutzt.
Schon lange bevor die ersten Online-Dating-Plattformen entstanden (match.com
gilt als die erste große Online-Dating-Webseite und ging 1995 online) beobachteten WissenschaftlerInnen das Phänomen der Beziehungsanbahnung im Cyberspace.24 Trotz der technischen Einschränkung hatte das Internet quasi seit dem
ersten Tag eine robuste (wenn auch vorerst technisch eingeschränkte) Dating-Kultur,
die sich anfangs vor allem über Chatrooms und Newsforen manifestierte. Da das
Kennenlernen in den frühen Jahren des Internets noch viel mehr global statt lokal angelegt war, kam es oftmals zum Phänomen reiner „Netzbeziehungen“ zwischen Menschen, die geographisch sehr weit voneinander entfernt waren. Bei einer in Amerika durchgeführten Umfrage von 1999 gaben 70 Prozent der Befragten an, schon einmal eine reine „Cyberromanze“ im Umfeld miterlebt zu haben –
ein durchaus ernstzunehmendes Phänomen des frühen World Wide Webs.25 Während zum damaligen Zeitpunkt Onlinebeziehungen noch stark von Offlinebeziehungen differenziert wurden, lässt sich diese Linie heute nicht mehr klar ziehen.
Bereits 1996 listete Yahoo! 16 unterschiedliche Dating-Webseiten. Die klassische
Form des Online-Datings, die sich bis hin zur technischen Neuerung der Smartphones als Monopol durchsetzte und immer noch relevant ist, unterscheidet sich
in ihrer Konzeption von vielen der heute erfolgreichen Dating-Apps. Frei nach dem
Motto „Liebe ist kein Zufall“ (offizieller Slogan von Elitepartner.de) legen die klassischen Online-Dating-Webseiten einen Fokus auf die Individualität und Persönlichkeit der Nutzer, die mithilfe zahlreicher Psychotests und Selbsteinschätzungen festgestellt werden soll, um so durch bestimmte Algorithmen möglichst effizient ein „perfektes Match“ herauszufiltern – die Effizienzsteigerung steht im Vordergrund, und die Umsatzzahlen der einschlägigen Plattformen illustrieren, dass
der Bedarf an dieser rationalen Herangehensweise an die Partnersuche immer
noch hoch ist (Parship verzeichnete im Jahr 2014 ein Umsatzwachstum von 20 Pro-
24
25
Vgl. Döring 2002.
Vgl. Maheu 1999, zitiert nach Döring 2002, S.3.
24
zent).26 So wird durch ein hohes Maß an Selbstreflexion ein menschliches Selbst
konstruiert, das als Summe seiner Interessen und Geschmäcker betrachtet wird
und im Internet zum öffentlichen Auftritt wird: Man designt das Selbst für ein anonymes Publikum. Hier wird ein psychologisches Verständnis des Selbst sichtbar,
welches diese moderne, westliche Interpretation des Ich gleichzeitig übernimmt
und neu bestätigt. Diese Form des Online-Datings entspricht der beschriebenen
modernen Liebesmythologie, die einen besonderen Fokus auf Planbarkeit, Wahlfreiheit und das Suchen und finden eines „Seelenverwandten“ legt – ein perfektes
Zusammenspiel aus Rationalität und Betonung der Einzigartigkeit des Ich. Diese
Suche wird mit einer für die Moderne typischen Konsumlogik und einem Wettbewerbsgedanken verbunden.
Die Romantik wird so zu einer regulierten Form des Konsums. Um es mit Eva Illouz zu sagen: „Das Internet scheint den Prozess der Rationalisierung der Emotionen und der Liebe auf ein von den Kritischen Theoretikern nie erträumtes Niveau
zu heben“.27 Diese rationale Herangehensweise an die Partnersuche kollidiert mit
der zum Großteil immer noch vorherrschenden Vorstellung von Liebe als einem
mystischen, unerklärlichen und schicksalhaften Ereignis, weswegen das Kennenlernen über Dating-Plattformen immer noch oft als Tabu und als „unromantisch“
wahrgenommen wird, was sich in zahlreichen Artikeln, Blogeinträgen, Social-MediaPosts, usw. beobachten lässt.28 Diese Tatsache bewirkt einen starken Widerspruch
im reflexiv-modernen Liebesverständnis: Rationales Denken, Berechnung und Effizienz sollen mit der Mystik, dem Schicksal und der Einzigartigkeit des Ideals der
romantischen Begegnung in Einklang gebracht werden – die Folge ist ein hohes
Maß an Enttäuschung, weil (wie Koselleck es prognostizierte) die Schere zwischen
Erwartung und Erfahrung weit auseinandergeht.
Da Online-Dating ein entkörperlichtes und textbasiertes Kennenlernen komplett Fremder vorsieht, kommt es zu einer Art von „verbal overshadowing“, eine
Dominanz der Sprache, die dazu führt, dass die Reihenfolge des Kennenlernens
umgekehrt wird: Man lernt die Person erst als psychologische Einheit, dann (in
der Regel) als Stimme und erst zum Schluss als körperliches Wesen (mit Gestik,
Mimik, Geruch) kennen – was das viel diskutierte Phänomen erklärt, dass viele reale Begegnungen, die nach einem regen und positiven textuellen Austausch stattfinden, ernüchtert abgebrochen werden.29 Parallel zu dieser „Entkörperlichung“
kommt es aber auch zu einer starken Betonung von Körperlichkeit: Das Profilfoto
26
Vgl. www.parship.de
Illouz 2004, S.136.
28
Beispielsweise bejahen in einer Studie aus dem Jahr 2013 ganze 21 Prozent der Teilnehmer die
Frage, ob sie Menschen, die Online-Dating betreiben, als verzweifelt ansehen würden. Das ist
zwar im Vergleich zu 2005 ein Rückgang um 8 Prozent, aber dennoch illustrieren diese Zahlen
ein immer noch großes Stigma. Vgl. Smith/Duggen 2013, S. 3
29
Vgl. Illouz 2012, S. 410.
27
25
entscheidet auf Datingportalen maßgeblich über Erfolg oder Misserfolg, was ein
hohes Maß an Reflexion der eigenen Erscheinung hervorruft.
2.4 Dating und das mobile Zeitalter
Mit dem technischen Siegeszug von Smartphones und mobilen Apps eröffneten
sich für den Online-Dating-Markt ganz neue Möglichkeiten. Mobiles Dating wurde vom „San Francisco Chronicle“ bereits 2005 als „nächster großer Schritt für die
Entwicklung des sozialen Lebens im Internet“ bezeichnet.30 Das Release des ersten iPhones im Jahr 2007 gilt als die Geburtsstunde des „mobilen Zeitalters“ und
läutete endgültig eine neue Ära in Bezug auf Online-Dating ein. Allein zwischen
2013 und 2015 hat sich die Benutzung von Online-Dating-Seiten oder -Apps bei jungen Erwachsenen in Amerika verdreifacht.31 Gibt man im Apple App-Store „Dating
App“ ein, erscheinen heute 2128 Ergebnisse.32 Jede nur denkbare Konzeption von
Dating-App findet ihre Umsetzung. Dabei kann man drei unterschiedliche Zielsetzungen der Apps unterscheiden (wenn auch Mischformen möglich sind): Ernsthafte Partnersuche (eDarling, Friendscout24, Elitepartner, etc.), Flirt und Social
Dating (Badoo, Lovoo, OkCupid, Tinder, etc.) und Casual Dating (C-Date, PlanetRomeo, Grindr, Scruff, etc.).33
Die ersten großen Erfolge erzielte mobiles Dating in der LGBTQ*-Szene34 , allen voran die 2009 veröffentlichte App Grindr, die auf GPS-Ortung basiert und alle
verfügbaren Nutzer im nächsten Umkreis anzeigt. Da der Fokus von Grindr jedoch sehr eindeutig auf Casual Dating abzielt, lässt sich die App nicht als repräsentativ für allgemeine Datingtrends ansehen. Nichts desto trotz beinhaltet das
Prinzip von Grindr die Grundlage, auf der die heute unter jungen Erwachsenen
erfolgreichste, meistdiskutierte und polarisierendste App Tinder beruht.
2.4.1 Tinder als Indikator für die Radikalisierung der
reflexiv-modernen Liebesmythologie
Die Dating-App Tinder wurde im Herbst 2012 an einer Universität in Kalifornien entwickelt und verbreitete sich über dessen Campus rasend schnell vor allem
in Großstädten der ganzen Welt. Laut einer Studie von 2015 sind 79 Prozent der
30
www.sfgate.com, hier nach: https://www.sfgate.com/business/article/Hey-baby-want-a-dateNew-mobile-dating-2653653.php, aufgerufen 07.07.2016.
31
Vgl. Smith 2016.
32
Stand: 07.07.2016.
33
Vgl. Karch et al. 2013, S. 4.
34
Für die LGBTQ*-Community bedeutete die Möglichkeit des Online-Datings eine fundamentale Vergrößerung des Kennenlernmarktes. Beinahe 70 Prozent aller queeren Paare in Amerika
lernen sich heute über das Internet kennen. Vgl. Anhang: Abbildung 1, S.34
26
Tinder-User „Millenials“, sind also zwischen 18 und 34 Jahre alt und zählen zum
Großteil zu den „Digital Natives“.35 Die Firma veröffentlicht keine genauen Statistiken, aber die Mitgliederanzahl wird inzwischen auf knapp 50 Millionen geschätzt.36 Die Nutzergeneration der App ist also gut geeignet, um allgemeine Trends
in der Transformation der Liebesmythologie offenzulegen.
Unter all den tausenden Dating-Apps, zwischen denen man heute wählen kann,
sticht Tinder hervor. Keine andere App ist so viel diskutiert, so hart umstritten,
und wird so oft benutzt, um Aussagen über ihre Nutzergeneration zu treffen. Es
handelt sich beim Erfolg der App um ein in der gesamten westlichen Welt beobachtbares Massenphänomen, das die weitere Transformation der Liebesmythologie und der reflexiv-modernen Partnersuche nicht nur offenlegt, sondern auch
mitbestimmt. Die Generation der jetzigen „Digital Natives“ wird in Artikeln und
Publikationen immer gerne als „Generation Tinder“ bezeichnet – der angebliche
Verfall der romantischen Liebe wird der App zugeschrieben.37
In zwei identischen, von mir durchgeführten Online-Umfragen zur Nutzung
der App (April 2014 mit 167 TeilnehmerInnen und Mai 2016 mit 314 TeilnehmerInnen) konnten einige Tendenzen bezüglich der Nutzung der App und den Einstellungen der User offengelegt werden. Die erste Umfrage fand zu einem Zeitpunkt statt, in dem die App in deutschen Großstädten einen ersten Hype erfuhr.
Zum Zeitpunkt der zweiten Umfrage war die Nutzung der App eher „eingependelt“, dementsprechend waren Unterschiede in der Bewertung und Nutzung der
App lesbar. Die Umfragen wurden vorrangig in Facebookgruppen verbreitet, deren
Mitglieder zum Großteil (knapp 80 Prozent) zwischen 19 und 27 Jahre alt sind und
größtenteils dem urbanen Raum entstammen (87,9 Prozent).38 Daher muss betont
werden, dass die Umfragen nicht repräsentativ für die gesamte Nutzerschaft der
App sind, sondern lediglich einen urbanen Trend offenlegen. Es konnte außerdem
kein Einfluss auf Störfaktoren genommen werden und es gibt keine Garantie, dass
alle Fragen ehrlich beantwortet wurden. Nichts desto trotz lassen sich einige interessante Tendenzen offenlegen, welche im Folgenden zur Unterstützung verschiedener Argumente herangezogen werden.
Die Konzeption der App unterscheidet sich in ihrer Einfachheit und Klarheit
sehr stark von den klassichen Dating-Plattformen wie match.com, Parship oder
Dating-Apps wie beispielsweise OkCupid. Tinder bedient sich extrem weniger Informationen über die User: Sie verknüpft sich mit dem Facebookprofil und ex35
Vgl. www.comscore.com, hier nach: https://www.comscore.com/Insights/Blog/VenmoBuzzFeed-Tinder-and-Snapchat-Among-The-Top-20-Apps-with-Highest-Concentrationof-Millennials, aufgerufen 07.07.2016.
36
Vgl. Bilton 2014.
37
Eines von vielen Beispielen ist dieser Artikel auf Vice.com von 2014: https://www.vice.com/de/
read/tinder-emotionale-krueppel-829
38
Vgl. Anhang: Abbildung 2, S. 34.
27
portiert die eigenen Interessen („Gefällt mir“-Angaben), das Geschlecht und die
Freundesliste. Man kann sechs (oder weniger) Profilbilder aus dem Facebook-Profil
importieren oder selbst hochladen. Damit ist der Anmeldeprozess nach wenigen
Minuten bereits abgeschlossen. Dieser extrem geringe Zeitaufwand steht in großem
Kontrast zu den meisten klassischeren Dating-Plattformen, in denen man lange
und komplexe Fragebögen und Psychotests beantworten muss. Zur Selbstbeschreibung stehen auf Tinder nur maximal 500 Zeichen zur Verfügung. Das textuelle
und auch das allgemeine Selbstdesign wird damit auf ein Minimum reduziert. Per
GPS ortet die App das Smartphone. Man kann nun einstellen, in welchem Radius nach anderen NutzerInnen gesucht werden soll und nach welcher Altersgruppe und nach welchem Geschlecht man suchen möchte. Nun erhält man unmittelbar Partnervorschläge von der App: Dabei sieht man nur das Profilbild, gemeinsame Interessen und Freunde und – wenn man sich das Profil genauer anschaut –
den manuellen Text und alle hochgeladenen Bilder. Nach diesem ersten Eindruck
wischt man nun entweder nach links („Nope“) oder nach rechts („Like“). Man kann
mit einer Person, die man „geliked“ hat, allerdings erst dann in Kontakt treten,
wenn diese einen auch für attraktiv befunden und ebenso „geliked“ hat – in diesem
Fall ensteht ein Match und das Chatfenster öffnet sich. Die Tatsache, dass man nur
bei gegenseitigem Interesse miteinander in Kontakt treten kann, ist eine der größten, wenn auch simpelsten, Innovationen der App.39 Sie vereint eine ganze Reihe
an neuen Innovationen, die den oft beschriebenen Suchtfaktor der App erklären:
• Einfachheit: Tinder erfordet ein Minimum an Aufmerksamkeit und Engagement und minimiert auch den Denkprozess auf eine einfache, binäre „Hot
or Not“-Entscheidung (67,5 Prozent der Befragten in der Umfrage von 2016
gaben an, dass die Tatsache, dass Tinder so schnell und einfach benutzbar
ist, der größte Vorteil der App gegenüber anderen ist. Das war die meisthäufigste Antwort.40 ).
• „Infinite Swipe“: Durch einfache Handbewegungen lässt es sich fließbandähnlich durch ein nie enden wollendes Angebot potentieller PartnerInnen
„swipen“ – immer mit der Möglichkeit im Hinterkopf, dass der nächste „Like“ der Entscheidende sein könnte.
• Das Voraussetzen von Eigeninitiative: Anders als auf anderen Plattformen
muss man bei Tinder aktiv werden, um Nachrichten erhalten zu können.
39
In dieser Konzeption liegt wahrscheinlich auch einer der Hauptgründe für die Tatsache, dass
Tinder (anders als die meisten anderen Dating-Plattformen) ein relativ ausgewogenes Geschlechterverhältnis bietet, wie in einem Artikel von Ann Friedman (2013) beschrieben: http:
//nymag.com/thecut/2013/10/how-tinder-solved-online-dating-for-women.html, aufgerufen
08.07.2016.
40
Vgl. Anhang: Abbildung 3, S. 35.
28
• Gegenseitigkeit: Wie bereits beschrieben, ermöglicht Tinder nur eine Kommunikation auf der Basis gegenseitigen Interesses, was besonders für Frauen größere Kontrolle über die eigene Dating-Erfahrung bietet.
• Keine Angst vorm Abgewiesenwerden: Entweder es entsteht ein Match, oder
es entsteht keines. Wenn keines entsteht, bleibt immer die Möglichkeit offen, dass man dem Gegenüber einfach noch nicht vorgeschlagen wurde. „Likes“
lassen sich nicht nachverfolgen, nur Erfolge werden angezeigt.
• Gaming-Aspekt: Tinder ist an sich eher wie ein Spiel als wie eine DatingPlattform konzipiert. Das schnelle Swipen erinnert an den Infinite Scroll auf
Facebook oder Tumblr, der Reiz, unterhalten zu werden, ist sehr groß (In
der Umfrage von 2016 geben 57 Prozent an, dass ihnen an Tinder besonders
gefällt, dass es sich wie ein Spiel anfühlt – das war die zweithäufiste Antwort
auf die Frage, was die Vorteile von Tinder gegenüber anderen Apps sind.41 )
• Authentizität: Dadurch, dass Tinder mit dem Facebook-Profil verknüpft ist,
kann man bei den Usern derApp viel eher als bei anderen Plattformen davon
ausgehen, dass es sich um reale Personen handelt. Bei der Nutzergeneration von Tinder ist das Facebookprofil oft der Dreh- und Angelpunkt sozialer
Kommunikation. Es versichert, dass die andere Person sich mir genauso präsentiert, wie sie es in ihrem Freundeskreis (oder dem Chef/der Chefin, den
Eltern, etc) tut.
• Legitimation von Oberflächlichkeit: Die App simuliert die Art von Oberflächlichkeit, mit der Menschen auf der Straße begegnet wird. Sie erwartet eine
schnelle, auf Oberflächlichkeiten beruhende Wertung der anderen Person.
Durch die wenigen Informationen, die Tinder über seine Nutzer bereitstellt,
verlangt und belohnt die App explizit eine simple „Hot or Not“-Beurteilung,
wodurch die User sich der gegebenen Oberflächlichkeit weniger schuldig
fühlen. Dieser Aspekt der App ist wohl der in der Öffentlichkeit umstrittenste, wie beispielsweise das folgende Zitat der Autorin Carlina Duan aufzeigt:
„Als meine Freundin mir die Tinder-App auf ihrem iPhone zeigte, war meine sofortige Reaktion Ekel. [...] Es gibt in unserer Kultur die Erlaubnis, andere aufgrund ihrer physischen Erscheinung zu beurteilen, und mehr noch,
es bringt uns bei, wie man bei denjenigen, den man unattraktiv findet [...],
einfach ‚X ‘drückt.“ 42
• Blitzentscheidungen: „Eine Überfrachtung mit Informationen schwächt sogar noch unser Vermögen, jene schnellen Entscheidungen zu treffen, die
41
42
Vgl. Anhang: Abbildung 4, S.35.
Duan 2013, übersetzt von der Autorin.
29
romantische Anziehungskraft bestimmen“.43 Anders als die meisten Datinplattformen setzt Tinder auf eine spezielle Art der Rückkehr zur Intuition
und weg vom Analysieren möglichst vieler Informationen – wenn auch eingeschränkt durch die rein textbasierte Kommunikation und die Selbstdarstellung auf Profilfotos.
In Bezug auf die wesentlichen Aspekte der Transformation der Liebesmythologie in der reflexiven Moderne kann Tinder als ein Indikator für eine Radikalisierung dienen. Die App instrumentalisiert nahezu alle wesentlichen Verschiebungen und Rationalisierungen der Liebesutopie im mobilen Zeitalter. Am Deutlichsten wird dies in der beobachtbaren Trennung von Emotion und Körperlichkeit.
Tinder ist definitiv ein Kind der immer akzeptierteren Abschlepp-Mentalität, der
Sexualisierung der Identität und der Etablierung des „erotischen Kapitals“ als Lieferant für Selbstwert. In der 2016 durchgeführten Umfrage geben 46,2 Prozent der
Befragten an, bei Tinder primär auf der Suche nach Sex und One Night Stands zu
sein. Aber: ganze 45,9 Prozent, also nahezu gleich viele der Befragten, sind auf der
Suche nach einem Partner oder einer Partnerin. Das ist im Vergleich zur Umfrage
von 2014 ein Anstieg von circa 10 Prozent.44 Das kann wiederum als ein bestehendes Bedürfnis nach Bindung und Intimität gelesen werden und sollte einen der
größten Kritikpunkte an der App (den der „Abstumpfung“) entkräften. Diese Tendenz legt außerdem offen, dass die App inzwischen für eine ganze Bandbreite an
Formen der Begegnung genutzt wird und nicht mehr länger als bloße Sex-App bezeichnet werden kann. Nichts desto trotz ist eine starke Enthemmung der Nutzergeneration in Bezug auf „bedeutungslosen“ Sex beobachtbar.
Auch alle anderen zentralen Aspekte der Radikalisierung der reflexiv-modernen
Liebesmythologie finden in der Konzeption und Nutzung von Tinder ihre Repräsentation: Die Wahlfreiheit erfährt in der App ein nie dagewesenes Maß an Entgrenzung, das Konzept des „Datings“ wird zum Monopol unter den Kennenlernpraktiken und der Konsum wird so wirksam wie noch nie zum Ausgangspunkt der
Liebeswahl – wie keine andere App gleicht Tinder einem Fließband, keine andere
App gewährleistet ein derartiges Maß an Effizienz und Schnelligkeit. Außerdem
legt der Erfolg der App einen Trend weg von der Planbarkeit, die beim klassischen
Online-Dating so viel Raum einnahm, offen. Das könnte als Verweis darauf gelesen werden, dass die „Digital Natives“ der Idee von einer Planbarkeit von Anziehung durch Psychotests und Algorithmen den Rücken zukehren. Es ist eine gewisse Form von Intuition, auf die das Konzept der App baut – wenn auch eine sehr
oberflächliche, die oft als unromantisch und unauthentisch wahrgenommen wird.
Trotz dieser Ablehnung von Fragebögen und Psychotests als Form des „Filterns“
43
44
Vgl. Illouz 2004, S.156.
Vgl. Anhang: Abbildung 4, S.35.
30
bedient sich Tinder einer anderen Form der Rationalisierung: Das „Hot or Not“Prinzip gehorcht den Regeln von Angebot und Nachfrage, die App baut auf eine
Art des romantischen Massenkonsums. Daher illustriert der Erfolg der App zwar
eine Tendenz weg von der Vorstellung von „Planbarkeit“, aber keine Tendenz weg
von Rationalisierung per se. Es handelt sich dabei mehr um einen Umschwung als
um eine Rückbesinnung. Das hohe Maß von Oberflächlichkeit, dass die App verlangt, scheint seine Akzeptanz in den Moralvorstellungen der „Digital Natives“ zu
finden. In diesem Sinne scheint Tinder eine Art (romantische) Marktlücke ausgefüllt zu haben und kann als Indikator für eine starke Radikalisierung aller Aspekte
der modernen Liebesmythologie durch die neuen Möglichkeiten des Internets interpretiert werden.
31
3 Fazit: „Generation
Beziehungsunfähig“?
Die Unsicherheit der in der Öffentlichkeit gerne verteufelten „Generation Tinder“
mit den neuesten Transformationen und Radikalisierungen der Liebesmythologie sind täglich spürbar.1 Die von Illouz und Koselleck prognostizierte „moderne
Verunsicherung“ ist ein nicht zu leugnendes Phänomen. Ein wesentlicher Grund
dafür ist die unglaubliche Beschleunigung und Radikalisierung, die die Transformation der Liebesmythologie durch das Internet und seine Innovationen in den
letzten 20 Jahren erfahren hat. Alle Regeln der romantischen Begegnung, die noch
in den frühen Neunzigern (also zur Zeit der Geburt der „Digital Natives“) galten,
stehen heute auf dem Prüfstand oder gelten als überholt. Die Praktiken und Kriterien der Partnerwahl sind heute mit einem Puzzle vergleichbar, das zum Großteil noch in seine Einzelteile verstreut ist und das darauf wartet, neu angeordnet
zu werden. Sex und Emotion sind voneinander getrennt worden, die Wahlfreiheit
erfährt eine nahezu totale Entgrenzung, die Liebe wird mehr und mehr zum Teil
des modernen „Ich-Projektes“ und wird als eine Art Belohnung für eine gute Lebensführung und Selbstfindung betrachtet, Dating ist ein fester Bestandteil des
jungen Erwachsenenlebens geworden und wird durch das Internet zu einer Art
Massenkonsum.
Die romantische Liebe war niemals so mystisch und schicksalhaft, wie es uns
die Massenmedien seit ihrer Entstehung vermittelten und es zum Teil noch immer tun. Zum heutigen Zeitpunkt muss man sich dieser Tatsache stellen, denn es
lässt sich nicht mehr länger leugnen, dass in die Partnerwahl hochgradig rationale
Kriterien einfließen, dass die kollektive Vorstellung von Romantik von den Medien
konstruiert ist und dass es keine universelle Wahrheit über eine „gute Beziehung“
gibt, an der man sich orientieren kann. Kurz: Genauso wie für alle anderen gesellschaftlichen Felder gibt es auch für die Liebe keine Patentlösung. Das nimmt das
in der reflexiven Moderne lebende Individuum wahr, weiß es aber aufgrund von
fehlenden Alternativen nicht einzuordnen und ist somit verunsichert. In der refle1
Der Berliner Autor Michael Nast schrieb Anfang 2016 einen Bestseller mit dem Titel „Generation Beziehungsunfähig“, in dem er vor allem persönliche Anekdoten zu Tinder und vergleichbaren Dating-Apps niederschreibt und so versucht, ein Statement über die „romantischen Dilemmata“ seiner Generation zu treffen. Der Erfolg des Buches legt das momentane Bedürfnis
nach Antworten sehr eindrücklich offen.
32
xiven Moderne muss die romantische Liebe neue, individuellere und rationalere
(und damit leider per se unromantische) Eigenschaften zugestanden bekommen.
Genauso wie sich viele andere gesellschaftliche Faktoren in der reflexiven Moderne
der Erkenntnis, dass es keine gesellschaftliche, universelle Patentlösung gibt, angepasst haben, muss auch die Liebesbeziehung eine Neuinterpretation im Sinne
eines Spektrums erfahren. Der reflexiv-moderne Mensch sieht sich mit der Unvereinbarkeit der herrschenden romantischen Utopie mit der Realität konfrontiert,
der Vorwurf der „Beziehungsunfähigkeit“ ist eine der Folgen. Die romantische Liebe hinkt in diesem Sinne hinter der Pluralisierung vieler anderer gesellschaftlicher
Entwicklungen hinterher – die Erkenntnis, dass es keine Patentlösungen gibt, ist
in der romantischen Sphäre noch nicht vollständig angelangt, was vermutlich der
immer währenden Wiederholung eigentlich längst überholter romantischer Utopien in den Massenmedien zu verdanken ist.
Dass deswegen die romantische Beziehung an sich (in welcher Form auch immer) nicht an Wert oder Sinn verliert, ist eine Erkenntnis, die in der reflexiven
Moderne erst noch im Kollektivgedächntis ankommen muss – denn sie ist und
bleibt nachweislich ein menschliches Grundbedürfnis, das seine Daseinsberechtigung und seine Relevanz nicht verliert. Um die romantische Utopie zu einem
Spektrum an Möglichkeiten zu multiplizieren und sie so in eine für die reflexive
Moderne funktionierende Form zu bringen (und die „moderne Verunsicherung“
zu überwinden), bedarf es dringend weiterer Transformationen, die in den nächsten Dekaden beobachtbar sein werden. In welcher Form diese stattfinden werden,
lässt sich nur schwer prognostizieren. Dennoch ist festzustellen, dass die Diagnose
„Beziehungsunfähigkeit“ für die Generation der „Digital Natives“ definitiv viel zu
kurz greift. Die momentan feststellbare Verunsicherung ist vielmehr ein Ausdruck
dieses gesellschaftlichen Übergangsmomentes, der durch die gesamtgesellschaftliche Umwälzung der westlichen Welt ausgelöst und vom neuen Medium Internet
massiv beschleunigt, radikalisiert und beeinflusst wurde.
33
4 Abbildungsverzeichnis
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as a Social Intermediary. American Sociological Review 77 (4), S. 530
Abbildung 2: „How old are you? Where do you live?“ Umfrage von 2016. Abrufbar
unter https://bit.ly/2a8JLz5.
34
Abbildung 3: „In your opinion: What are Tinders advantages over other dating apps
or websites?“ Umfrage von 2016. Abrufbar unter https://bit.ly/2a8JLz5.
Abbildung 4: „What is your aim using Tinder?“ Im Vergleich: 2014 (167 Antworten)
und 2016 (314 Antworten). Abrufbar unter https://bit.ly/29Rq4KY bzw. https://bit.ly/
2a8JLz5.
35
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