DIE ZEIT: Herr Snyder, Sie haben vor Kurzem sehr drastisch über Deutschland geurteilt und damit eine Menge Widerspruch ausgelöst. Auf Twitter schrieben Sie: "Dreißig Jahre lang haben Deutsche die Ukrainer über Faschismus belehrt. Als der Faschismus tatsächlich kam, haben die Deutschen ihn finanziert, während die Ukrainer im Kampf gegen ihn sterben." Warum sind Sie so wütend auf uns?
Timothy Snyder: Zählen Sie doch mal nach, wie viele Zeitungsartikel es in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland über russischen Faschismus und über ukrainischen Faschismus gab. Da zeigt sich ganz eindeutig: Die Deutschen waren immer sehr interessiert am ukrainischen Faschismus, der ein komplett marginales Phänomen war, und vollkommen desinteressiert am russischen Faschismus, obwohl der immer stärker Besitz vom russischen Staat ergriff. Ständig konnte man Artikel über den ukrainischen Nationalisten und NS-Kollaborateur Stepan Bandera oder über rechtsextremistisch beeinflusste Paramilitärs lesen. Die Auseinandersetzung mit diesen Dingen finde ich ja richtig, aber sie sind eben alles andere als zentral für die Ukraine. Deswegen haben die Deutschen kein richtiges Bild von der Ukraine und ihrer heutigen politischen Kultur bekommen. Das meine ich mit "belehren".