"Uns ist nicht das Leben die Kunst. Aber die Kunst ist das Leben"
Vor 100 Jahren erschien erstmals Herwarth Waldens die Zeitschrift "Der Sturm". Sie sollte sich schnell zum Forum der Expressionisten entwickeln
Am 3. März 1910 erschien im Zeitungsformat mit einem Umfang von acht Seiten zum Preis von zehn Pfennig die erste Nummer der von Herwarth Walden herausgegebenen Zeitschrift "Der Sturm". Der Name wurde zum Programm einer jungen Generation von Künstlern und Schriftstellern, die sich mit Verve gegen die gesättigte bürgerliche Gesellschaft im ausgehenden Wilhelminismus stellte. Mit einer Auflage von 30 000 Exemplaren etablierte sich die "Wochenschrift für Kultur und die Kunst" schnell als das Zentrum der künstlerischen Avantgarde im expressionistischen Jahrzehnt.
"In jenen Jahren lernte ich Delaunay, Klee, Kandinsky, Herwarth Walden und seinen 'Sturm' kennen", berichtet Hans Arp rückblickend in seinen Erinnerungen. Und der dadaistische Wortkünstler Hugo Ball bemerkte: "Unsere Zeitschriften hießen 'Der Sturm', 'Die Aktion', 'Die Neue Kunst'". In den 21 Jahrgängen, die bis 1932 mit großem finanziellen Risiko im Selbstverlag erschienen, in moderner Antiquia gedruckt und anfänglich unter anderem von Oskar Kokoschka illustriert, wurden und sind ein beispielloses Dokument der europäischen "Kunstwende". "Unter den hundert Zeitschriften des Expressionismus aber war der 'Sturm' nicht nur die früheste, sondern auch neben der 'Aktion' die originellste", konstatierte Paul Raabe.
"Hier war ein Magnet, der für die Kunstwende der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts entscheidende Künstler unwiderstehlich anzog. Dieser Magnet war ein Mensch, Herwarth Walden", schrieb Anfang der 1950er Jahre Lothar Schreyer, der einstige Dramaturg und Regisseur am Deutschen Schauspielhaus und Mitherausgeber des "Sturm" in seinem "Erinnerungsbuch an Herwarth Walden und die Künstler aus dem Sturmkreis".
Dieser hatte einen Ort, das Berlin des expressionistischen Jahrzehnts und der Zwanzigerjahre. "Man traf sich mit der Lasker-Schüler, Peter Hille im Café des Westens, gelegentlich bei Dalbelli an der Potsdamer Brücke. Man hatte Tuchfühlung mit Richard Dehmel, mit Wedekind, Scheerbart", berichtete Alfred Döblin. Herwarth Walden selbst schrieb im "Sturm" ironisch über die "Hölle" der "Modernen" im "Café Größenwahn": "Dort wo die Joachimstalerstraße den Kurfürstendamm schneidet spreizt der Wahnsinn der Moderne seine Fangarme aus."
Die sich als orientalische Schönheit stilisierende und als Jussuf Prinz von Theben und Tino von Bagdad inszenierende Else Lasker-Schüler, einer der wenigen literarisch erfolgreichen weiblichen "Bohemiens" im Berlin ihrer Zeit, hatte den zehn Jahre jüngeren Pianisten und Komponisten Herwarth Walden 1901 geheiratet. 1878 als Georg Lewin in Berlin geboren, war der Künstler und Sammler im Berlin der Jahrhundertwende bereits in den Salons der Kunsthändler Bruno und Paul Cassirer, in den Redaktionen und in der Künstlerszene als ein einflussreicher Vermittler der jungen Kunst bekannt. "Du! wir wollen uns tief küssen.../ Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, /An der wir sterben müssen", heißt es in dem Gedicht "Weltende", das Herwarth Walden, wie zahlreiche andere Gedichte seiner Frau vertont und später im ersten Jahrgang des "Sturm" publiziert hat.
Else Lasker-Schüler war es, die ihrem Ehemann Georg Lewin in Anlehnung an Henry David Thoreaus einflussreiche Essaysammlung "Walden, or Life in the Woods" (1854), einem Plädoyer für den Individualismus und den "neuen Menschen", ebenso den Namen gab wie später dem "Sturm". 1904 initiierte Walden den Berliner "Verein für Kunst", ein Forum für Musik, Literatur, Kunst und Architektur.
Nicht die Kunst, die Künste als aufeinander bezogene ästhetische Wahrnehmungsmodi sollten der dynamisch entwickelten Lebenswirklichkeit adäquat sein. Dafür suchte Herwarth Walden ein publizistisches Forum, doch wegen seiner nonkonformistischen und radikal avantgardistischen Haltung wurde er als Redakteur mehrerer Zeitschriften wie "Das Magazin", der "Morgen", "Der Neue Weg", "Das Theater" nach kurzer Zeit entlassen, was zu juristischen Auseinandersetzungen führte, die Karl Kraus, der Herausgeber der "Fackel", 1909 zu einer Verteidigung des Berliner Kollegen veranlasste. In der ersten Nummer des "Sturm" hieß es daher: "Zum vierten Mal treten wir mit einer neuen Zeitschrift an die Öffentlichkeit. Dreimal versuchte man, mit gröbsten Vertragsbrüchen unsere Tätigkeit zu verhindern".
Finanziell unterstützt durch Karl Kraus und durch das Engagement der Beiträger, die sich in den ersten Jahren auch um den Vertrieb der Zeitschrift zu kümmern hatten, etablierte sich der "Sturm" schnell als das Forum der internationalen Avantgarde, von Guillaume Apollinaire und Blaise Cendrars bis zu F. T. Marinetti und Artur Rimbaud. Für den jungen Herwarth Walden, er war 32 Jahre alt, war das der Durchbruch, den er konsequent zu nutzen verstand.
Anfänglich wurde der "Multikünstler" unterstützt von Else Lasker-Schüler, deren Gedichte sich in den ersten Jahrgängen vielfach gedruckt finden, darunter eines ihrer bekanntesten, "Ein alter Tibetteppich": "Deine Seele, die die meine liebet / ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet." Gottfried Benn erinnerte sich: "Es war 1912, als ich sie kennenlernte. Es waren die Jahre des 'Sturm' und der 'Aktion', deren Erscheinen wir jeden Monat oder Woche mit Ungeduld erwarteten." Die Jahre ihrer Ehe mit Herwarth Walden, von dem sie sich 1912 trennte, gelten als die produktivsten der "größten deutschen Lyrikerin, die Deutschland je hatte", wie wiederum Gottfried Benn urteilte. Mit dem 17 Jahren jüngeren Dichter der "Morgue", dem "Giselheer" ihrer Gedichte, durchlebte Else Lasker-Schüler 1913 eine heftige Affäre. "Der hehre König Giselheer / Stieß mit einem Lanzenspeer / Mitten in mein Herz."
Inzwischen hatte sich "Der Sturm" zu einem einflussreichen, auch kommerzialisierten Betrieb der Vermittlung moderner Kunst entwickelt. Die Wochenschrift, die "Sturm-Galerie", der "Sturm-Verlag" und die von Herwarth Walden initiierte Theaterwerkstatt bildeten die wichtigsten Instrumentarien für die internationale Avantgarde in Berlin, wozu auch die wöchentlichen künstlerischen Veranstaltungen, Rezitationen und Lesungen beitrugen. Im März 1912 beginnt Walden mit den regelmäßigen "Sturm-Ausstellungen", zunächst in einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 34 a, später in der Potsdamer Straße 134, wo sich auch die Redaktion des "Sturm" befand.
Die erste Ausstellung versammelte den "Blauen Reiter - Franz Flaum - Oskar Kokoschka - Expressionisten", durch die es Walden gelang, die europäische Aufmerksamkeit auf die Expressionisten zu lenken. Es folgte die Ausstellung der italienischen Futuristen um F. T. Marinetti, die durch den erstmaligen Abdruck der "Manifeste des Futurismus" eine Diskussion provozierte, an der sich maßgeblich die Schriftsteller beteiligten - das so genannte "Berliner Programm" von Alfred Döblin ist eine unmittelbare Konsequenz dieser folgenreichen "Futurismus-Debatte".
Die Ausstellungen, bis Ende 1921 werden es bereits über 100 sein, werden im "Sturm" nicht nur begleitet, sondern theoretisch als "Kunstwende" reflektiert. Robert Delaunay und Wassily Kandinsky wurden präsentiert, Alexander Archipenko und Marc Chagall erstmals in großen Einzelausstellungen gewürdigt. Das Primat war eindeutig, im Zentrum stand die dynamische und simultane Abstraktion, die Rückkehr zur Gegenständlichkeit lehnte Walden noch in den zwanziger Jahren ab. Die "Neue Sachlichkeit" fand daher im "Sturm" keine Berücksichtigung, im Gegensatz zu Künstlern wie Alexej von Jawlensky und Paul Klee, die sich nicht zuletzt durch die Vermittlung Herwarth Walden in Deutschland durchsetzen konnten.
Im Herbst 1913 konnte der Propagandist der Avantgarde, der inzwischen mit der Schwedin Nell Roslund verheirat war, den "Ersten Deutschen Herbstsalon" mit mehr als 360 Werken von über 80 internationalen Künstlern, von Lyonel Feininger bis August Macke, eröffnen, was ein breites, aber überwiegend negatives Presse-Echo fand. "Das ist das Ende. Mit der Besprechung des Ersten Deutschen Herbstsalons haben sich die namhaften Kunstkritiker selbst gerichtet", kommentierte Walden im "Sturm". Mit dem Kriegsausbruch 1914 radikalisierte sich auch der "Sturm". Durch die Publikation der "Gedichte aus dem Krieg" von August Stramm - einzigartigen literarischen Versuchen, das Grauen der Vernichtung zu literarisieren -, stellte sich Walden unmissverständlich in die Reihe der Kriegsgegner, was durch die Nachrufe auf die im Krieg getöteten Beiträger wie eben August Stramm und Franz Marc noch unterstrichen wurde.
Mit der Gründung der Weimarer Republik wurde der "Sturm" politischer, und Herwarth Walden näherte sich der marxistischen Linken an. Doch auch künstlerische Impulse wurden noch gesetzt. Seit 1919 war Kurt Schwitters ein regelmäßiger Beiträger des "Sturm", erstmals wurden hier seine "Merz"-Kunst sowie seine Dichtungen und kunsttheoretischen Manifeste publiziert. Seit Mitte der Zwanzigerjahre sank die Auflage kontinuierlich, die finanziellen Schwierigkeiten nahmen zu, und Walden verkaufte einen Teil seiner Korrespondenz und Sammlungen. Im siebzehnten Jahrgang (1926/27) finden sich noch einige Beiträge Waldens zur bildenden Kunst, ein Jahr später schreibt er enthusiastische Berichte über seine Reise in die Sowjetunion.
Im März 1932 erscheint die letzte Nummer des "Sturm", im Juni geht Herwarth Walden, begleitet von seiner späteren Frau Ellen Bork, nach Moskau, wo er als Publizist tätig ist und noch 1938 in der Exilzeitschrift "Das Wort" die im "Sturm" entwickelte "Wortkunst" zu verteidigen suchte: "Gegen den Expressionismus kämpfte alles, was später zum Faschismus führte", hielt er in der sogenannten "Expressionismus"-Debatte den Gegnern der Avantgarde entgegen.
Damit stand Herwath Walden im Moskauer Exil weitgehend allein, lediglich Ernst Bloch und Bertolt Brecht unterstützen diese Position, wenn auch von außen. Drei Jahre später wurde Herwarth Walden im Kontext der von Stalin angeordneten "Säuberungen" wie zahlreiche andere deutsche Emigranten in Moskau verhaftet und während tage- und nächtelanger Verhöre in der Lubjanka schikaniert. Seine Frau kann mit der in Moskau geborenen kleinen Tochter in die deutsche Botschaft fliehen und nach Deutschland zurückkehren. Am 31. Oktober 1941 stirbt Herwarth Walden in einem russischen Gefängnis in Saratow/Wolga. Eine seiner letzten Maximen war: "Der Sinn des Lebens ist nicht der Sinn. Der Sinn des Lebens ist das Leben".