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Putin-Rede zur Krim-Krise Der Großmächtige

In seiner Rede zum Russland-Beitritt der Krim hat Präsident Putin mit dem Westen abgerechnet. Er lässt keinen Spielraum für einen Kompromiss und proklamiert stattdessen die Wiederkehr Russlands als Großmacht. Überraschend wandte er sich mit einer Bitte an die Deutschen.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Welche Entscheidung hat Putin verkündet?

Putin hat die Republik Krim und die Hafenstadt Sewastopol als Teil der Russischen Föderation aufgenommen. Die Anführer der prorussischen Kräfte auf der Krim saßen auf den Ehrenplätzen in der ersten Reihe im Kreml, gleich neben Premierminister Dmitrij Medwedew. Putin nahm sich eine knappe Stunde Zeit, um seine Entscheidung zu begründen. Dann bat er die Krim-Vertreter nach vorne zur Unterzeichnung des Beitritts. "Russland, Russland"-Rufe schallten danach durch die Reihen im Georgssaal des Kreml, wo russische Parlamentarier, Senatoren, Gouverneure und Honoratioren Platz genommen hatten. Die große Mehrheit der Russen und der Krim-Bewohner sei für die Vereinigung mit Russland, sagte Putin: "Nur das Volk ist der Quell aller Macht."

Gab es Überraschungen?

Ja. Putin wandte sich eigens an die Deutschen. Sie sollten sich an 1990 erinnern. Russland habe damals den Wunsch nach Wiedervereinigung unterstützt - anders als viele andere Länder, "die damals Deutschlands Verbündete waren". Putin weiter: "Ich bin mir sicher, dass Sie das nicht vergessen haben. Ich rechne damit, dass Deutschlands Bürger das Streben der russischen Welt nach Wiederherstellung ihrer Einheit unterstützen."

Wie begründet Putin das Vorgehen des Kreml?

Mit Verweis auf die Geschichte, die Stimmung in der Bevölkerung - und ausgesprochen emotional. Das Referendum vom Sonntag habe "allen demokratischen Standards entsprochen", sagte Putin in seiner Rede . Auch in Russland sei die Mehrheit der Bevölkerung laut Umfragen für die Aufnahme der Halbinsel, 83 Prozent würden dafür sogar einen Konflikt mit dem Westen in Kauf nehmen, sagte der Präsident. "In den Herzen der Menschen ist die Krim immer ein integraler Teil Russlands geblieben." Als 1954 die Halbinsel der Ukraine zugeschlagen wurde, sei die Entscheidung in Hinterzimmern gefallen, "die Bewohner der Krim und von Sewastopol wurden nicht gefragt". Den Zusammenbruch der Sowjetunion habe damals niemand vorhersehen können. 1991 aber "schliefen Millionen Russen nachts in einem Land ein und wachten in einem anderen wieder auf". Die Russen seien so zum größten "verstreuten Volk" der Welt geworden. Moskau sei lange zu schwach gewesen, dessen Rechte zu verteidigen. "Russland senkte den Kopf und schluckte die Kränkung einfach hinunter", sagte Putin. Damit aber sei es nun vorbei.

Den Regierungen vieler Ex-Sowjetrepubliken dürfte das kaum behagen. Im Baltikum, in Moldau oder Weißrussland leben große russische Minderheiten, Putin reklamiert für Moskau das Recht, die Interessen der Auslandsrussen zu verteidigen.

Wie lautet der Kernsatz der Rede?

"Alles hat eine Grenze." Putin wirft dem Westen vor, Russland seit dem Ende der Sowjetunion betrogen und "ständig in die Ecke gedrängt" zu haben. Europa und die USA hätten nie aufgehört, Moskaus Einfluss eindämmen zu wollen. Putin zählte die Osterweiterung der Nato auf, die Pläne für einen US-geführten Raketenschirm in Osteuropa und die Abspaltung des früher von Serbien regierten Kosovo. Mit den Alleingängen des Westens aber sei nun Schluss. In der Ukraine habe dieser eine rote Linie überschritten, "grob, verantwortungslos und unprofessionell". Die "Sponsoren und Kuratoren" der neuen Regierung in Kiew säßen in Washington und Brüssel. In der Ukraine seien aber die Interessen von Millionen Russen betroffen, der Kreml deshalb zum Handeln gezwungen.

Was wird aus den Tataren?

Die Krimtataren haben die Abstimmung boykottiert. Stalin hat ihre Vorfahren nach dem Zweiten Weltkrieg kollektiv als Kollaborateure der Deutschen nach Zentralasien deportieren lassen. Deshalb misstrauen sie Moskau. Putin will die Krimtataren mit der vollständigen Rehabilitierung besänftigen. Auf der Krim soll zudem Tatarisch neben Russisch und Ukrainisch dritte Amtssprache werden.

Hat Putin die Hand ausgestreckt?

Ja. Aber nicht in Richtung Europa und Amerika. Putin hat eine scharfe Rede gehalten, die Pointen gingen allesamt auf Kosten des Westens. "Uns wird gesagt, wir würden internationales Recht verletzen. Schön, dass sie (der Westen - d. Red.) sich wenigstens noch daran erinnern, dass es internationales Recht gibt. Danke dafür, besser spät als nie", spottete Putin, eine Anspielung auf den US-Einmarsch im Irak und das Nato-Eingreifen in Jugoslawien. In Teilen war die Rede eine Umarmung jener patriotischen Kräfte, die in Moskau seit Jahren auf Revanche gegenüber dem Westen hoffen. Mehrfach zeigten die Kameras des russischen Staats-TV während der Rede einen Vordenker von Moskaus Patrioten, den Publizisten Alexander Prochanow - ein Mann, der von sich selbst sagt, er habe "Tag und Nacht dafür gearbeitet, damit der neue Kalte Krieg mit dem Westen beginnt".

Droht jetzt eine Intervention in der Ostukraine?

Schwer zu sagen. Einerseits zeichnete Putin von der unabhängigen Ukraine das Bild eines praktisch gescheiterten Staates. Präsidenten und Premierminister in der Ukraine hätten gewechselt, die Not des einfachen Volkes aber sei geblieben. Die Mächtigen hätte "wenig interessiert, wie und wovon die einfachen Leute leben". Putin sprach es nicht aus, ließ aber durchblicken, was er dachte: Hätte sich die Ukraine nicht für unabhängig erklärt, ihren Bürgern ginge es heute unter Moskaus Regentschaft besser.

Einer Spaltung der Ukraine erteilte Putin eine Absage: "Wir wollen keine Teilung der Ukraine, das ist nichts, was wir nötig hätten." Gleichzeitig ließ er durchblicken, Moskau könnte auch in der Ostukraine aktiv werden, falls der Kreml eine Gefahr für die Russen in der Region sieht. Die Übergangsregierung in Kiew erkennt Putin weiterhin nicht an: "Es gibt niemanden, mit dem wir reden könnten." Manche Minister müssten ohnehin erst die Kämpfer auf dem Maidan um Erlaubnis fragen, wenn sie ihre Termine planten, spottete Putin.

Hat Putin Möglichkeiten für einen Kompromiss aufgezeigt?

Nicht wirklich. Der Kreml hat mit der Blitzaufnahme der Krim Fakten geschaffen. Gleichzeitig hat Putin deutlich gemacht: Ziel der Operation war vor allem, einen möglichen Nato-Beitritt der Ukraine und "Nato-Soldaten in Sewastopol" zu verhindern. Der Kreml will ein erhebliches Mitspracherecht über die Zukunft der Ukraine. Die Rahmenbedingungen des einzigen Deals, auf den sich Putin wohl einlassen würde, hat kürzlich Henry Kissinger skizziert: Neutralität der Ukraine ohne einen Nato-Beitritt. Kissinger hatte gleichwohl noch auf einen Verbleib der Krim bei der Ukraine gesetzt.

Trifft die Kreml-Linie auf Widerstand in Russland?

Nein. Die breite Bevölkerung bejubelt den Beitritt der Krim. Putins Umfragewerte schießen in die Höhe. Sogar Michail Gorbatschow, der Vater der Perestroika, begrüßt das militärische Vorgehen des Kreml: "Die Krim wurde der Ukraine nach sowjetischen Gesetzen zugeschlagen, ohne das Volk zu fragen. Jetzt hat das Volk beschlossen, diesen Fehler zu korrigieren." Am Wochenende demonstrierten in Moskau zwar 50.000 gegen den Ukraine-Kurs, ihre Zahl aber fällt kaum ins Gewicht. Die Putin-treue Duma-Abgeordnete Irina Jarowaja beschimpfte die Demonstranten als "Verräter Russlands". Putin sprach am Dienstag ebenfalls von "nationalen Verrätern". Das Klima wird eisig für Gegner des Kreml.

Schrecken Sanktionen Russland?

Offenbar nicht. Nach 14 Jahren des - nur von der Weltwirtschaftskrise unterbrochenen - Wachstums wähnt sich Russland stark genug, um dem Westen auch in einem Sanktionskonflikt die Stirn zu bieten. Eine drohende Isolation scheint viele in der herrschenden Elite nicht zu schrecken. Im Gegenteil: Mancher Falke wittert die Chance, westliche Einflüsse auch in der Gesellschaft zurückzudrängen. Moskau braucht das Ausland in seinen Augen nicht. Es gibt dafür auch einen russischen Begriff, der nicht zufällig keine richtige Entsprechung im Deutschen oder Englischen hat: "Samodostatoschnost" lautet er und lässt sich am ehesten noch als "sich selbst genügen" übersetzen. Russland sehe sich im Prinzip als "einen Staat, der sich selbst genügt". So hat es 2006 der enge Putin-Vertraute Sergej Iwanow im Gespräch mit dem SPIEGEL gesagt.