Russland-Experte: Ein Nuklearangriff wäre Putins „letzte Verzweiflungstat“ – Kiew im Visier?
Der russische Präsident Wladimir Putin hat in einer Rede mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht.
Quelle: IMAGO/SNA
Moskau/Berlin. Es ist ein Schreckensszenario, das sich niemand vorstellen mag: In seiner TV-Ansprache zur Teilmobilmachung am Mittwoch hat Wladimir Putin offen mit einem möglichen Einsatz von Nuklearwaffen gedroht. Russland werde alle Mittel einsetzen, um seine territoriale Unversehrtheit zu schützen, erklärte der russische Präsident. Und: Das strategische Nukleararsenal habe er bereits in erhöhte Bereitschaft setzten lassen.
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Wie ernst müssen derartige Drohungen genommen werden? Nach Einschätzung des Russland-Experten Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck ist das Risiko eines Nuklearwaffeneinsatzes im Kontext der angekündigten Scheinreferenden in den Donbass-Regionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine und in den südlichen Gebieten Cherson und Saporischschja höher als je zuvor. „Die Annexionen, die sicherlich passieren werden, heben die Eskalationsstufe deutlich“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
„Putin käme dann in Erklärungsnot“
Der Experte erläutert, dass Russland jene Gebiete in diesem Fall als eigenes Staatsgebiet betrachten würde. „Damit steigt die Wahrscheinlichkeit für den Einsatz von Nuklearwaffen bei einer großen ukrainischen Gegenoffensive zur Zurückeroberung dieser Regionen“, macht Mangott deutlich.
Zwar habe die Ukraine in der Vergangenheit bereits Luftangriffe auf russische Grenzstädte sowie die annektierte Krim gestartet. Doch wenn ukrainische Infanterie auf die Gebiete, die Russland als sein Staatsgebiet definiert, vorrücken würde, hätte das nach Einschätzung des Experten eine andere Qualität. „Putin käme dann in Erklärungsnot, wie es sein kann, dass ukrainische Truppen russisches Territorium besetzt halten.“
Auch Militärexperte Marcel Berni von der Militärakademie an der ETH Zürich betont: „Es ist jedes Mal ernst zu nehmen, wenn ein Staatsoberhaupt mit dem nuklearen Säbel rasselt.“ Es sei kein Zufall, dass im gleichen Moment die Teilmobilmachung und die Scheinreferenden in der Ukraine anstehen. „Putin baut mit den Atomdrohungen erneut eine starke Drohkulisse auf“, sagte er dem RND.
Mangott: Das wäre Putins „letzte Verzweiflungstat“
Wenn eine Kriegsniederlage unmittelbar bevorstehen würde, wäre Putin nach Einschätzung von Experte Mangott bereit, mit taktischen Nuklearwaffen das äußerste Mittel zu ergreifen. „Das wäre seine letzte Verzweiflungstat.“ Noch sei die militärische Lage für Russland und Putin jedoch noch nicht so verzweifelt, sodass ein solches Szenario aktuell nicht sehr wahrscheinlich sei. „Aber es ist nicht ausgeschlossen“, erklärt Mangott. Diese Möglichkeit müsse in die strategischen Überlegungen einbezogen werden.
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Die Teilmobilmachung sieht der Professor für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck als ein Eingeständnis der militärischen Schwäche Russlands. Es sei durchaus möglich, dass die Ukraine nach Charkiw noch weitere Gebiete zurückerobert, da die Reihen der russischen Soldaten dort zunehmend ausgedünnt seien. Daher sei die Teilmobilmachung für Putin auch eine politische Notwendigkeit. Die Scheinreferenden dienten zum einen zur Abschreckung für die ukrainische Führung, würden aber gleichzeitig auch ein politisches Risiko für Putin bergen – wie auch der Einsatz von Nuklearwaffen.
China und Indien könnten sich von Russland abwenden
Denn eine solche Eskalation hätte laut Mangott erhebliche politische Konsequenzen: „Russland wäre dann nicht nur vom Westen isoliert, sondern würde global zu einem Aussätzigen.“ Sollte Putin dieses nukleare Tabu brechen, würden auch China und Indien von der russischen Seite abrücken, so seine Einschätzung. Entsprechend unwahrscheinlich sei dies aktuell. Aber: „Im Falle eines desaströsen Verlaufes des Krieges für Russland steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Putin, bevor er den Krieg und damit sehr wahrscheinlich sein Amt verliert, zu solchen Mitteln greift“, mahnt er.
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Bundeskanzler Olaf Scholz sieht Misserfolge im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Grund für die Ankündigung einer Teilmobilmachung durch Putin.
Quelle: dpa
Eine solche Eskalation würde dann über verschiedene Stufen verlaufen, vermutet Mangott. Zunächst werde es eine explizite Drohung zu einer nuklearen Donation geben. Wenn die Ukraine dann nicht zurückweiche, wäre die nächste Stufe eine Testexplosion über unbewohntem Gebiet im Osten Russlands oder über dem Schwarzen Meer. Wenn das alles als Abschreckung nichts nützte, könnte Putin den Einsatz trotz aller politischen Risiken anordnen.
In einem solchen Falle wären die Frontlinien nach Einschätzung des Russland-Experten nicht betroffen, da es dort auch russische Soldaten treffen würde. „Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn es zu Detonationen kommt, diese den Westen der Ukraine treffen – oder direkt Kiew.“ Ein ähnliches Szenario hält auch Militärstratege Berni für möglich. „Ich denke, dass Putin primär einen taktischen Einsatz von Atomwaffen auf ukrainische Truppen anordnen würde – davon sind wir aber noch entfernt.“
„Wenn Russland Nuklearwaffen einsetzt, dann haben wir das Risiko eines Nuklearkrieges, das seit der Kubakrise nie so hoch war“
Sollte Putin tatsächlich Atomwaffen über bewohnten Gebiet abwerfen und damit viele Leben zerstören, sieht Mangott ein globales Eskalationspotenzial: Denn dann könnten die USA ebenfalls eine Detonation über unbewohntem russischen Gebiet als Reaktion vornehmen. „Wenn Russland Nuklearwaffen einsetzt, dann haben wir das Risiko eines Nuklearkrieges, dass seit der Kubakrise nie so hoch war.“
Wie der Westen reagiert, würde nach Einschätzung von Experte Berni von den USA abhängen. „Viele glauben, dass sie die westliche Reaktion führen würden und auf einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen reagieren müssten.“
Eine Drohkulisse mit Atomwaffen könnte auch Auswirkungen auf die Entscheidungsträger in Deutschland haben, zum Beispiel beim Thema Waffenlieferungen. „Die SPD und Bundeskanzler Scholz werden durch die gestrigen Ereignisse eher darin bestärkt, keine Kampfpanzer zu liefern“, sagt Mangott. Grund sei, dass Scholz die Waffenlieferung als weiteres Eskalationsrisiko wertet.
Mangott verweist aber darauf, dass Russland bislang noch keine Atomwaffen bewegt habe. Auch das spreche dafür, dass ein solches Schreckensszenario aktuell noch kein Thema sei. Denn auch bei großen Teilen der russischen Bevölkerung würde der Einsatz von Atomwaffen Unruhe auslösen. „Das würde bei vielen den Eindruck erwecken, dass Putin nicht mehr weiß, was er tut, und könnte sich am Ende auch gegen ihn richten.“