Georgien ist gezähmt, die Krim annektiert; der Ölpreis stagniert und mit ihm der Lebensstandard; die Diversifizierung der Wirtschaft bleibt ebenso aus wie der Kampf gegen die Korruption. Es ist nicht mehr viel, das Putin russischen Bürgern anzubieten hat. Seine Macht schwindet.
Seit Wladimir Putin 2000 an die Macht kam, hat Russland mehrere Wellen öffentlicher Unruhen erlebt. 2005 protestierten ältere Bürger gegen eine Rentenreform, und 2011 bis 2012 demonstrierten Tausende Moskauer gegen eine offensichtlich betrügerische Wahl, mit der Putin nach einer kurzen Amtszeit als Ministerpräsident zur Präsidentschaft zurückkehrte. Bei all diesen Gelegenheiten hat sich Putin politisch kugelsicher gezeigt.
Jetzt aber rollt eine neue Welle von Protesten durch das Land, und es gibt gute Gründe dafür, dass es dieses Mal anders laufen könnte. Gegenüber der öffentlichen Meinung wurde Putin immer repressiver und unempfindlicher. Abgeschieden in isolierten Palästen wurde er, was der Oppositionsführer Alexei Nawalny einen «Grossvater in seinem Bunker» nannte. Obwohl der Kreml letztes Jahr einen Mordanschlag auf ihn ausgeübt hatte, veröffentlichte Nawalny kürzlich eine vernichtende Dokumentation. Laut ihr hat Putin seine illegalen Einkünfte in den Bau eines massiven geheimen Palastes am Schwarzen Meer gesteckt.
Putins nächster grosser politischer Test wird bei den russischen Parlamentswahlen zur staatlichen Duma im September stattfinden. Er wird nichts Bedeutendes haben, was er den russischen Bürgern anbieten kann. Nachdem er während seiner ersten beiden Amtszeiten (2000 bis 2008) ein robustes Wirtschaftswachstum von etwa 7 Prozent jährlich hat vorweisen können, regiert er heute über eine stagnierende Volkswirtschaft. Seit seinem Höchstwert von 2,3 Billionen Dollar im Jahr 2013 ist das russische BIP um mehr als ein Drittel auf 1,5 Billionen Dollar gefallen. Innerhalb von nur vier Jahren (2014 bis 2017) sank der Lebensstandard im Land um 12,4 Prozent. Und nachdem er 2018 und 2019 gleich geblieben war, ging er 2020 erneut zurück.
Putin geht es in erster Linie darum, an seiner Macht festzuhalten, indem er sich und seine Kumpane bereichert und eine geopolitische Haltung einnimmt, die sein Image im Land verbessert.
Schon lange verlässt sich Putin auf die russischen Verbraucher als stabile Unterstützer seiner megalomanischen Ambitionen. Trotzdem setzte er 2018 – nach dem scharfen Einbruch der persönlichen Einkommen – die russischen Haushalte einer drakonischen Rentenreform aus, die so schlecht aufgenommen wurde, dass sogar seine offiziellen Beliebtheitswerte sanken. Nun, nach sechs Jahren Sparpolitik, teilen die russischen Ökonomen Wladimir Milow und Sergei Guriew mit, dass den Russen bald die Ersparnisse ausgehen.
Für Russlands wirtschaftliche Stagnation gibt es drei hauptsächliche Gründe: Putins autoritäre Kleptokratie, die niedrigen Ölpreise und die westlichen Finanzsanktionen, die seit 2014 als Antwort auf die militärische Aggression Russlands in der Ukraine bestehen.
Der erste Faktor scheint der wichtigste zu sein. Während seiner ersten beiden Amtszeiten profitierte Putin von den Liberalisierungsreformen seines Vorgängers, Präsident Boris Jelzin, und des damals amtierenden Ministerpräsidenten Jegor Gaidar aus den 1990ern. Aber nachdem er während seiner ersten Amtszeit seine Macht konsolidiert hatte, verwendete Putin seinen Einfluss auf die Gerichte immer mehr dazu, profitable Privatunternehmen an sich zu reissen und an seine Sankt Petersburger Spiessgesellen zu verteilen.
Die russischen Politiker tun die westlichen Sanktionen als ineffektiv ab, obwohl sie sich ständig darüber beschweren. Aber Sanktionen sind leicht messbar, also sollte uns dieser Widerspruch nicht zu sehr irritieren. Ende 2013 bezifferte die Russische Zentralbank die gesamten Auslandsschulden des Landes auf 729 Milliarden Dollar. Bis Ende 2020 ist diese Zahl nun auf 470 Milliarden gesunken, während andere Schwellenländer ihre Auslandsverschuldung um einen ähnlichen Prozentsatz erhöht haben. Dies deutet darauf hin, dass Russland in den Jahren der westlichen Sanktionen gezwungen war, auf 259 Milliarden Dollar an Auslandskrediten zu verzichten, die sonst in Investitionen und damit in Wirtschaftswachstum geflossen wären.
Im verzweifelten Versuch, die Schuld für die schwache russische Wirtschaft von sich abzuwenden, hat sich Putin auf die kollabierenden Ölpreise gestürzt. Aber obwohl er über kaum etwas anderes zu reden scheint, hat er immer noch nichts getan, um die Wachstumsquellen der russischen Wirtschaft zu diversifizieren. Völlig vom Öl abhängig, leiden sowohl die Währung als auch die Exporte und Importe, wenn die Ölpreise fallen.
Schlimmer noch, die beiden Faktoren, die Putin gern ignoriert – Kleptokratie und eine sanktionsfördernde Aussenpolitik –, haben zunehmend auch ausländische Investoren abgeschreckt. Zwischen 2014 und 2019 lagen Russlands jährliche Nettozuflüsse an ausländischen Direktinvestitionen bei durchschnittlich etwas unter 1,5 Prozent des BIP – eine vernachlässigbare Zahl, insbesondere verglichen mit der vorherigen Fünfjahresperiode, wo sie etwa doppelt so hoch war.
So betrachtet, ist Putin leicht zu verstehen. Es geht ihm in erster Linie darum, an seiner Macht festzuhalten, indem er sich und seine Kumpane bereichert und eine geopolitische Haltung einnimmt, die sein Image im Land selbst verbessert. Hier hat er die Lorbeeren zweier vergangener Erfolge geerntet: des kurzen Kriegs in Georgien im August 2008 und der Annektierung der Krim im März 2014.
Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums, eines unabhängigen russischen Think-Tanks, erreichten Putins Zustimmungswerte direkt nach dem Georgien-Konflikt einen Rekordwert von 88 Prozent und stiegen auch nach dem März 2014 in ähnliche Höhen. In den letzten drei Jahren allerdings gingen sie von über 80 Prozent auf 64 Prozent zurück, und das Vertrauen, das er in der Öffentlichkeit geniesst, liegt nur noch halb so hoch.
Russland ist gespalten. Ein liberal eingestelltes Drittel der Bevölkerung lehnt Putin ab, ein weiteres Drittel unterstützt ihn, und der Rest ist unentschieden. Die Frage ist also, wann sich die Unentschiedenen endlich gegen das Regime wenden. Angenommen, die meisten von ihnen sind vernünftige Opportunisten, wird dies wahrscheinlich dann geschehen, wenn sie der Ansicht sind, dass Putin bereits verloren hat.
Trotz seiner immer verzweifelteren innenpolitischen Lage hat Putin aber nichts Entscheidendes getan, um die russische Öffentlichkeit zu beruhigen. Obwohl er im letzten Sommer eine «Exekutivverordnung über Russlands nationale Entwicklungsziele bis 2030» erlassen hat, erwies sich dieses Dokument als viel weniger substanziell, als es klingt.
Was seine Lage noch verschlimmert, ist Putins Versprechen, «stetiges Wachstum der Haushaltseinkommen und -renten nicht unterhalb der Inflationsrate» zu gewährleisten, was impliziert, dass er in den nächsten zehn Jahren keine Steigerung des Lebensstandards erwartet. Offensichtlich versucht er gar nicht mehr zu verbergen, dass er sich nur noch um seinen Machterhalt kümmert.
Russland steigt nicht nur wirtschaftlich und technologisch ab, sondern auch in demografischer Hinsicht. Letztes Jahr schrumpfte seine Bevölkerung um fast 700 000 Personen, was nicht zuletzt an der Auswanderung qualifizierter junger Menschen liegt. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, dass Putins Russland viel mehr auf tönernen Füssen steht, als viele glauben.
Anders Åslund ist Senior Fellow beim Atlantic Council in Washington. Zuletzt ist erschienen: «Russia’s Crony Capitalism: The Path from Market Economy to Kleptocracy». Copyright: Project Syndicate, 2021.
Bin schwer enttäuscht. Habe gestern noch die NZZ gelobt für den Reichelt-Kommentar, jetzt dieser einfältige Kommentar aus Washington. Was für ein Witz: Jelzin wollte also Reformen, von den Putin profitiert habe. Geht's noch ? Fakt ist: Jelzin (alkoholkrank) entwickelte sich immer mehr zum Strohmann der USA und hätte alle Bodenschätze verscheuert, dann kam Putin und machte dem ein Ende. Und der Satz: "Putin geht es in erster Linie darum, an seiner Macht festzuhalten, indem er sich und seine Kumpane bereichert und eine geopolitische Haltung einnimmt, die sein Image im Land verbessert," erinnert mich aktuell in fataler Weise an ein anderes Land, wo auch jemand an der Macht klebt und in seiner/ihrer Entourage sich Kumpane widerwärtig bereichern. Putin soll und muss natürlich kritisiert werden, aber bitte mit unabhängigen Kommentatoren, die NZZ hat doch genügend gute Leute, die das können.
Egal in welchem Land und zu welcher Zeit, jede/r Politiker/in die zu lange an der Macht ist, kann keine neuen und wichtigen Impulse für ihr Land und deren Bevölkerung setzen. Eine zeitliche Machtbegrenzung wie in der USA gehört in jede Demokratie.