Willibald Gebhardt gilt als Begründer der olympischen Bewegung in Deutschland - aufgrund dessen wird er auch als "deutscher Coubertin" bezeichnet.
1986 wird Gebhardt als erster Deutscher ins IOC berufen - 1904 gründet er das erste ständige Nationale Olympische Komitee.
Auf Fotos sieht man einen schlanken Mann im Bratenrock und mit einem Hemdkragen namens „Vatermörder“. Das Haar trägt er mit Mittelscheitel und mit Pomade Marke „Donnerwetter tadellos!“geglättet. Ein modischer Schnurbart ziert das schmale Gesicht. Hinter der hohen Stirn verbirgt sich ein Vordenker und Patriot: Dr. Willibald Gebhardt, der die Olympische Bewegung in Deutschland gründete.
Als er vor der Kamera posierte, hatte er schon einiges erreicht. Nach dem Abitur studierte Gebhardt Chemie in Marburg und Berlin; 1885 wurde er an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelm Universität promoviert. Doch da kurz zuvor sein Vater, ein Buchbindermeister, Lederwarenfabrikant und Brauereibesitzer, gestorben war, musste er seine eigenen Pläne erst einmal zurückstecken und mit seinem Bruder die väterlichen Unternehmen weiterführen.
Was die Brauerei betraf, gewiss ein Anachronismus. Doch schon als Korpsstudent und aktiver Fechter hatte er sich von den „blasierten Biergestalten“ ferngehalten, denen er an den Universitäten begegnete. Vielmehr hielt er es mit dem Vegetarismus des Arztes Arnold Rikli. 1887 studierte er einige Wochen in dessen „Naturheilanstalt“ Methoden der Heilbehandlung mit Sonnenlicht. Das brachte ihn auf die Idee, diese von der Wetterlage unabhängig zu machen.
Mit seinem Erbteil siedelte Gebhardt 1890 nach New York über, wo er Teilhaber einer Ozon-Manufaktur wurde. Eine Offenbarung erlebte er 1893 beim Besuch der Weltausstellung in Chicago, wo er jene für die Lichttherapie nötigen Apparate vorfand, die der amerikanische Arzt John Kellogg erfunden hatte. Anschließend besuchte er auch dessen Sanatorium in Battle Creek, wo Kellogg seinen Patienten eine strenge, nur durch die von ihm entwickelten Cornflakes ergänzte vegetarische Diät verordnete.
Bei seiner Rückkehr im Jahre 1894 brachte Gebhardt seine Vorliebe für den englischen Sport mit. Als Weltenbummler fiel es ihm leicht, in kurzer Zeit Kontakte zu einem Personenkreis zu knüpfen, der eine „Allgemeine Ausstellung für Sport, Spiel und Turnen“ vorbereitete, die im Juni 1895 im alten Reichstag eröffnet werden sollte.
Ob er damals schon etwas mit dem Namen Pierre de Coubertin anzufangen wusste, der im Jahr zuvor einen internationalen Kongress nach Paris einberufen hatte, um die Wiedereinführung der antiken Olympischen Spiele beschließen zu lassen, ist nicht bekannt. Doch die Fronten wurden schnell deutlich, als die Führung der deutschen Turner klarstellte, dass sie nicht daran dachte, sich „an die Franzosen heranzuschmeißen“, zumal sie der Verschwörungstheorie anhing, dass Deutschland mit Absicht keine Einladung erhalten hätte.
Zum Meinungsumschwung trug der griechische Gesandte, Cleon Rangabé, bei, der während einer Berliner Abendgesellschaft fragte, ob es denn niemand gäbe, der sich für die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen, die 1896 erstmals in Athen stattfinden sollten, einsetzen würde. Gebhardts Antwort: „Ja, es gibt einen Mann, und der sitzt mit Ihnen hier an diesem Tisch!“
Anfangs setzte Gebhardt seine Hoffnungen auf den von ihm mitbegründeten „Deutschen Bund für Sport, Spiel und Turnen“, doch sein Antrag wurde einhellig abgelehnt, worauf er seinen Austritt erklärte. Vorher verkündet er, dass er „die Sache der Olympischen Spiele privatim weiterbetreiben“ werde. Die Energie, mit der er das tat, war bewundernswert. In wenigen Wochen sammelte er einige Dutzend Gleichgesinnte um sich, mit denen er am 13. Dezember 1895 das „Comité zur Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen in Athen 1896“ gründete. Für die Präsidentschaft gewann er den ältesten Sohn des Reichskanzlers, Erbprinz Philipp Ernst von Hohenlohe-Schillingsfürst. Er selbst begnügte sich mit dem Amt eines Schriftführers.
Seine Einladungen an Vereine und Verbände, eine Mannschaft für Athen auszuwählen, wurden jedoch harsch abgelehnt. Dr. Ferdinand Goetz, der Vorsitzende der Deutschen Turnerschaft, teilte ihm sein Bedauern mit, „dass Ihr Komitee für die dem deutschen Volke angetane Schmach ein Gefühl nicht hat“. Und in der „Rheinisch-Westfälischen Zeitung“ las man: „Ein deutscher Verein oder ein Deutscher, welcher seinem Lande die Schmach antut, diese Spiele zu fördern oder zu besuchen, verdient mit Schande aus seinem Kreise und seinem Volke ausgestoßen zu werden.“
Gebhardt reagierte darauf mit einem „Mahnruf“, der den Titel „Soll Deutschland sich an den Olympischen Spielen beteiligen?“ trug. Für sich hatte er die Frage längst beantwortet, zumal er aus einer Audienz beim Reichskanzler ermutigt herauskam, so dass er seinem Komitee versichern konnte, dass man „auch in allerhöchsten Kreisen dem Unternehmen mit Sympathie gegenüberstehe“. Sogar die Kaiserinmutter Viktoria trug zur Aufbesserung der Reisekasse bei, als sie im Auftrage ihrer Tochter, der griechischen Kronprinzessin Sophie, zahlreiche Eintrittskarten für ein „Propagandafest“ aufkaufen ließ, mit dem sich die Olympiamannschaft aus Berlin verabschiedete.
Zwar konnte Gebhardt letztendlich nur eine „Anstandsvertretung“ von 21 Athleten nach Athen führen, immerhin gehörte ihr aber die „Musterriege“ der Deutschen Turnerschaft an, was bei Gebhardts Widersachern neue Zornesadern hervorrief. Selbst als diese „Turn-Rebellen“ dann voller Begeisterung und mit sechs Olympiasiegen im Gepäck aus Athen zurückkehrten, erwartete sie statt Anerkennung eine Wettkampfsperre, die erst nach und nach abgemildert wurde.
Vor der Abreise nach Athen hatte das Komitee Gebhardt einstimmig als seinen Vertreter im IOC bestimmt, was Coubertin, dem eher an klangvollen Namen und Titeln lag, zögernd akzeptierte. Doch es war eine gute Wahl, zumal beide seelenverwandt waren. Wie der Baron wollte auch Gebhardt Menschen und Völker mit Hilfe des Sports zusammenzuführen. In der Olympischen Bewegung erblickte er „einen Kulturträger ersten Ranges, der den Völkern den Frieden bringen wird“. Gebhardt war aber auch Praktiker, wie er bei der ersten Zusammenkunft der sieben in Athen anwesenden Mitglieder unter Beweis stellte. Er schlug vor, nationale olympische Komitees zu bilden und bot Berlin als Austragungsort der Spiele von 1904 an.
In der Folgezeit entwickelte sich eine konstruktive Zusammenarbeit, bei der Spannungen nicht ausblieben. Gebhardt reiste 1897 vorzeitig vom Olympischen Kongress in Le Havre ab, nachdem ihn Frankreichs Staatspräsident Felix Fauré wegen seiner fehlenden französischen Sprachkenntnisse brüskiert hatte. Dafür empfand zwei Jahre später Coubertin seinen Berliner Empfang als „schmachvoll“. Doch selbst die chaotisch organisierten Spiele von Paris 1900 und der im nächsten Jahr von Coubertin vehement abgelehnte deutsche Vorschlag, zukünftig alle zwei Jahre „abwechselnd in Athen und anderen großen Städten der Kulturstaaten“ die Spiele auszutragen, führten nicht zu einer Entfremdung. Wäre es anders gewesen, hätte Coubertin wohl kaum Gebhardt und den Ungarn Ferenc Kémeny als offizielle IOC-Vertreter zu den Spielen von St. Louis 1904 entsandt, auf die er selbst verzichte.
Um 1896 hatte Gebhardt im Berliner „Karlsbad“ eine „Lichtheilanstalt“ gegründet. Er entwickelte Patente und Gebrauchsmuster und sprach auf Kongressen über die „Heilkraft des Lichtes“, über die er unter diesem Titel 1898 auch ein Buch veröffentlichte. Doch der große Erfolg blieb ihm versagt, weshalb er 1903 im „Deutschen Komitee für die Olympischen Spiele in St. Louis 1904“ eine Stelle als Schriftführer annahm. Nachdem er dieses Komitee ein Jahr später in den ständigen „Deutschen Reichsausschuss für Olympische Spiele“ (DRAfOS) umgewandelt hatte, konnte er sich ganz seinen olympischen Plänen hingeben, zu denen weiterhin die Spiele in Berlin gehörten, für die es aber noch kein Stadion gab, das er sich inmitten einer Pferderennbahn im Grunewald vorstellte. Auch über dessen Funktion hatte er klare Vorstellungen: Dort wollte er nicht nur internationale und nationale Olympische Spiele austragen, sondern er konzipierte es auch als „Zentralstelle“ des deutschen Sports mit Trainingsstätten und Einrichtungen für Forschung und Lehre sowie zur medizinischen Betreuung.
Doch als Berlin endlich vom IOC den Zuschlag für 1916 erhielt und mit der Errichtung des Deutschen Stadions begonnen wurde, war der Ideengeber längst vergessen. Gebhardt hatte schon 1906 seine Anstellung als DRAfOS-Geschäftsführer verloren und war drei Jahre später – unmittelbar vor der IOC-Session in Berlin – auch noch aus dem IOC zugunsten des Grafen Zeppelin ausgetreten, obwohl dieser anschließend eine Mitgliedschaft ablehnte.
Zur Kränkung, beiseite gedrängt worden zu sein, kamen neue existentielle Nöte. Denn auch seine Ehefrau Katherina, die er 1908 geheiratet hatte, erreichte mit der von ihr erfundenen Kaffeemaschine ebenso wenig Erfolg wie mit der Herstellung von flüssigen Kaffee-Extrakten, an denen das Paar in seiner kleinen Wohnung unermüdlich experimentierte.
Der Weltkrieg beendete Berlins olympische Träume. Als sich der Reichsausschuss Anfang 1917 zudem der Bezeichnung „für Olympische Spiele“ entledigte, beschwor ihn Gebhardt, nicht alle Brücken abzubrechen. Doch auch das Verhalten Coubertins, der nach Kriegsende den Ausschluss Deutschlands nicht verhindert hatte, traf ihn hart. Eine Perspektive sah er nur noch in einem „Völkerbund für Olympische Spiele“, dessen Gründung er vorschlug. Aus den Niederlanden, wo er sich seit 1918 aufhielt, bot er sich Coubertin als „ehrlichen Makler“ an. All seine Appelle blieben ohne Widerhall, was dazu beitrug, dass er an seinem Lebensende ein gebrochener Mann war. Er starb auf dem Berliner Kurfürstendamm, wo ihn ein Auto erfasst hatte. Es sollte noch lange dauern, bis der deutsche Sport begriff, was er ihm verdankte.
Volker Kluge
Literatur zu Dr. Willibald Gebhardt:
Dr. Willibald Gebhardt: Soll Deutschland sich an den Olympischen Spielen beteiligen? Ein Mahnruf an die Deutschen Turner und Sportsmänner. Verlag Karl Siegismund 1896 (Nachdruck 1995).
Eerke Hamer: Willibald Gebhardt 1861-1921. Köln 1971.
Marc Cornelius Jänicke: Zu ausgewählten Problemen des Lebens und Wirkens von Dr. Willibald Gebhardt im deutschen und internationalen Sport. Berlin 2014 (Diplomarbeit, Humboldt Universität).
Roland Naul/Manfred Lämmer (Hrsg.): Schriftenreihe des Willibald Gebhardt Instituts, Band 3, 7 und 14. Aachen 1999, 2002 und 2012.