Schmitthenner, Paul
- Lebensdaten
- 1884 – 1972
- Geburtsort
- Lauterburg (Elsaß)
- Sterbeort
- München
- Beruf/Funktion
- Architekt ; Städtebauer ; Hochschullehrer
- Konfession
- evangelisch
- Normdaten
- GND: 131945793 | OGND | VIAF: 25750545
- Namensvarianten
-
- Schmitthenner, Paul
- Schmitthenner, Paul August Wilhelm
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Schmitthenner, Paul
Architekt, Städtebauer, * 15.12.1884 Lauterburg (Elsaß), † 11.11.1972 München, ⚰ Kilchberg bei Tübingen. (evangelisch)
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Genealogie
Aus d. jüngeren Rheinpfälzer Linie e. nassau. Offz.- u. Pfarrerfam.;
V →Johann Friedrich (1849–1927), Ger.Vollzieher in L.;
Ur-Gvv Johannes (1746–92), aus Bergzabern;
M Pauline Kirchner (1857–1940);
Halb-B →Friedrich (1876–1945), Dr., Chemiker, seit 1913 Leiter d. Entwicklungsabt. mit weinchem. u. bakteriol. Labor d. Seitz-Werke in Bad Kreuznach;
– ⚭ 1) 1908 Charlotte Schütz (1884–1959), 2) 1960 →Elisabeth Prüß (* 1921), Dipl.-Ing., Architektin;
2 S aus 1) u. a. →Hansjörg (1908–93), 1930-36 Schausp. in Berlin, Köln, Weimar u. M., Schriftst., Dramaturg in M., Schriftleiter d. „Weltlit.“ im Verlag v. Müller u. Kiepenheuer (s. Kosch, Lit.-Lex.³; Kürschner, Lit.-Kal., Nekr. 1971-1998, 1999; Internat. Nekr., 1993; Munzinger), 1 T aus 1), 1 S aus 2); Verwandte Friedrich Jakob (s. 1), →Heinrich (s. 3). -
Biographie
S. besuchte das humanistische Gymnasium in Schlettstadt (Sélestat), verließ es jedoch ohne Abschluß. 1902-07 erhielt er seine Ausbildung an der Archilekturabteilung der TH Karlsruhe, wo →Max Läuger (1864–1952) und →Carl Schäfer (1844–1908) die für ihn entscheidenden Lehrer waren, letzterer besonders für die Vermittlung konstruktiven Denkens. Eine erste Anstellung am Hochbauamt von Colmar im Elsaß gab S. 1909 wieder auf, da ihm seine Kenntnisse im praktischen Bauen zu gering erschienen; statt dessen begann er – nach dem Vorbild von William Morris, dem Gründer der arts and crafts-Bewegung – eine Lehre bei →Richard Riemerschmid (1868–1957) in München. Daß ein Architekt ohne handwerkliche Ausbildung als Blender und Formalist anzusehen sei. blieb seine grundlegende Überzeugung.
Bei Riemerschmid hatte S. 1909-10 an der Planung der ersten dt. Gartenstadt in Hellerau bei Dresden teilgenommen. 1914 wurde er als Architekt im Reichsamt des Innern angestellt und errichtete dort bis 1917 für Munitionsarbeiter eine Serie genossenschaftlicher „Reichsgartenstädte“; von diesen wurde insbesondere die Siedlung Staaken bei Berlin im architektonischen Gewand einer märkischen Kleinstadt zum vielbeachteten Modell. Die hier weit vorangetriebene Normung und Typisierung (800 Wohnungen bei nur fünf Grundrißtypen) beherrschte den Bauprozeß, ohne tonangebend für das Ortsbild zu werden – ein entscheidender Unterschied zu den Quartieren des „Neuen Bauens“ der 20er Jahre. Als gefragter Fachmann für den dringend benötigten Kleinwohnungsbau wurde S. 1918 in den „Arbeitsrat für Kunst“ geholt und 1926 zur Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen. Er war Regionalist und Traditionalist, gleichzeitig aber modern genug für die zeitgenössischen Architekturdiskurse, z. B. über den sozialen Auftrag der Architektur, das wirtschaftliche Bauen, die Typisierung und Normung, die industrielle Vorfertigung sowie über den Zusammenhang von Konstruktion und Form. Mit seiner Schnellbauweise „Fafa“ baute er mit vorgefertigten Wandteilen kostensparender als die konkurrierenden Architekten der Avantgarde (Siedlung Im Hallschlag, Stuttgart 1929–30).
1918 wurde S. auf den Lehrstuhl für Baukonstruktion und Entwerfen der TH in Stuttgart berufen. Zusammen mit →Paul Bonatz (1877–1956) war er hier die treibende Kraft bei der sofort begonnenen Modernisierung des Architekturstudiums, mit der die auf →Theodor Fischer (1862–1938) zurückgehende sog. „Stuttgarter Schule“ ihre definitive Form erhielt, mit Praktikum, starkem Akzent auf handwerklicher Solidität und gut durchgebildeten Details. Im Unterricht entwickelte S. eine spezielle Rhetorik mit knappen Begriffen (Stoff, Fügung, Naht, Notwendigkeit, Maß, Überfluß u. a.), die er später in der Lehre von der „Gebauten Form“ zusammenfaßte. Während der 20er Jahre entstanden in Stuttgart und anderen Orten die von Zeitlosigkeit, Gediegenheit und zurückhaltender Bürgerlichkeit geprägten Wohnhäuser, u. a. in Badenweiler 1922/23 für die Schriftsteller →René Schickele und →Annette Kolb. S.s Erfolg beim Publikum gründete nicht zuletzt in der Affinität zur Aura des Goetheschen Gartenhauses in Weimar. Die Häuser präsentierte er in seinem Werk „Das deutsche Wohnhaus“, einem der seltenen populären Architekturbücher der Epoche (1932), das allerdings von nationalistischen Tönen durchsetzt war. Im zunehmend politisierten Architekturstreit der Weimarer Republik stand S. im konservativen Lager. Er verließ 1928 den Deutschen Werkbund und gründete mit Bonatz, →Paul Schultze-Naumburg (1869–1949) u. a. die der Avantgarde entgegengesetzte Architektenvereinigung „Block“.
Nachdem sich S. schon 1931 dem nationalsozialistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“ zur Verfügung gestellt hatte (Parteimitglied 1933), brachte er 1933 die in Stuttgart geplante Holzsiedlung des Werkbundes zu Fall, um das Projekt mit anderen Architekten selbst durchzuführen (Am Kochenhof). Gleichzeitig verhandelte er über eine Berufung an die TH Charlottenburg sowie über eine Referentenstelle, die ihm im Preuß. Kulturministerium bei →Bernhard Rust die Kontrolle über alle Architekturschulen in Preußen erlaubt hätte. Nicht wenige sahen ihn bereits als künftigen ersten Architekten des „Dritten Reiches“. Nach längeren Verhandlungen lehnte S. jedoch ab und zog sich, nachdem →Adolf Hitler 1934 seinen Entwurf eines deutschen Pavillons für die Weltausstellung in Brüssel als zu wenig monumental verworfen hatte, auf seine Professur in Stuttgart zurück. Um 1939 entwickelte S. eine bemerkenswerte öffentliche Kritik an der Staatsarchitektur des Nationalsozialismus. Sein bis 1943 mehrfach abgedruckter, von →Adalbert Stifter inspirierter Vortrag „Das sanfte Gesetz in der Kunst“ stellte eine nur oberflächlich chiffrierte Abrechnung mit der Maßstabslosigkeit der Planungen →Albert Speers (1905–81) dar.
Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ von seiner Professur suspendiert, erreichte S. 1947 die Entnazifizierung als „Unbelasteter“. Die Rückberufung an die TH Stuttgart scheiterte jedoch am Widerstand der modernen Architekten, die in einer Pressekampagne an S.s Bekenntnisse von 1933 erinnerten. Die danach bis Mitte der 1960er Jahre entstandenen Bauten des Spätwerks standen konträr zur modernistischen Haltung der Wiederaufbauzeit in Westdeutschland.
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Auszeichnungen
Mitgl. d. Preuß. Ak. d. Künste, Berlin (1927–45) u. d. Bayer. Ak. d. Schönen Künste, München (1949);
Dr.-Ing. E. h. (TH Dresden 1928);
Erwin-v.-Steinbach-Preis d. Goethe-Stiftung (1941);
Orden Pour le mérite f. Wiss. u. Künste (1952, 2. Vizekanzler 1959, 1. Vizekanzler 1964);
Gr. BVK mit Stern (1964). -
Werke
Weitere W u. a. Reichsgartenstadt Plaue b. Brandenburg, 1915/16;
Siedlung Ooswinkel,. Baden-Baden, 1918-24;
Haus Schmitthenner, Stuttgart, 1922 (kriegszerstört);
Dt. Auslandsinstitut, Stuttgart, 1923-25;
Haus Roser, Stuttgart, 1925;
Hohensteinschule, Stuttgart-Zuffenhausen, 1927-30;
zwei Häuser Am Fischtalgrund, Berlin, 1928;
Wiederaufbau Altes Schloß, Stuttgart, 1932-1943 u. 1958-68;
Siedlung Am Kochenhof, Stuttgart, 1933 (3 Häuser, davon 1 kriegszerstört, 2 modern überformt);
Haus Müller, Stuttgart, 1937-38;
Wettbewerb TH Linz, 1939;
Gutachten Wiederaufbau Freudenstadt, 1946-49;
Wiederaufbau Mainz, Projekt, 1947-49;
Kgn.-Olga-Bau, Stuttgart, 1949-55;
Haus Schmitthenner, München, 1953;
Rathaus Hechingen, 1955-58;
Schule Kilchberg, 1958-59;
Soldatenfriedhof Bourdon, Frankreich, 1960-67;
– Schrr.:
Die Gartenstadt Staaken, 1918 (mit F. Oppenheimer);
Die dt. Volkswohnung, in: Dairnler-Werksztg., 1919/20, S. 245-81;
Baugestaltung 1. Folge, Das dt. Wohnhaus, 1932, ²1940, ³1950, Nachdr. mit Vorw. v. H. Frank, 1984 (s. L);
Baukunst im Neuen Reich, 1934;
Das sanfte Gesetz in|der Kunst, Sonderheit in der Baukunst, eine Rede, 1943;
Gebaute Form, Aus d. Nachlaß bearb. u. hg. v. Elisabeth Schmitthenner, 1984;
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Nachlass
Nachlaß: Fam.bes., München.
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Literatur
W. Hegemann, Stuttgarter Werkbund-Ausst. u. P. S., in: Die Horen, 1928, S. 233-42;
Peter Meyer, P. S., Das dt. Wohnhaus, in: Das Werk, 1933, S. 58-61;
H. Frank, Der Fall S., in: Arch+, 1983, H. 68;
G. Müller-Menckens, Schönheit ruht in d. Ordnung, P. S. zum 100. Geb.tag: ein Gedenkbuch, 1984;
H. Frank, Schiffbrüche d. Arche, Anmerkungen zur Neuaufl. v. P. S.s „Baugestaltung“, in: P. S., Baugestaltung 1. Folge, Das dt. Wohnhaus, ⁴1984;
W. Voigt, Die Stuttgarter Bauschule, in: O. Borst (Hg.), Das Dritte Reich in Baden u. Württ., 1988, S. 250-71;
ders., Vom Urhaus zum Typ, P. S.s „dt. Wohnhaus“ u. seine Vorbilder, in: V. M. Lampugnani, R. Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Dtld. 1900-1950, Reform u. Tradition, 1992, S. 255-66;
M. Hirschfell, Der Kgn.-Olga-Bau v. P. S., Ein Stuttgarter Bankgebäude im Brennpunkt d. Wiederaufbaus, 1994;
M. Freytag, Stuttgarter Schule f. Architektur 1919-1933, Versuch e. Bestandsaufnahme in Wort u. Bild, Diss. Univ. Stuttgart 1996 (unveröff.);
K. Kiem, Die Gartenstadt Staaken (1914–1917), Typen, Gruppen, Varianten, 1997;
S. Plarre, Die Kochenhofsiedlung – das Gegenmodell zur Weißenhofsiedlung, P. S.s Siedlungsprojekt in Stuttgart von 1927 bis 1933, 2001;
W. Voigt, H. Frank (Hg.), P. S. 1884-1972, Ausst.kat. Dt. Architekturmus. Frankfurt 2003;
ThB;
Vollmer;
Klimesch (P);
Munzinger;
NDBA;
Baden-Württ. Biogrr. I, 1994;
– zur Fam.:
J. H. A. Schmitthenner, Geneal. d. Fam. S., 1884;
Forts. in: Dt. Fam.archiv V, 1956, S. 241 ff. -
Porträts
Foto v. Walter Hege, 30er J. (im Nachlaß);
Büste v. G. Marcks, Bronze, 1968 (Fam.bes., München), Abb. in: Gerhard Marcks, Das plast. Werk, hg. v. G. Busch, 1977, S. 450, Nr. 922. -
Autor/in
Wolfgang Voigt -
Zitierweise
Voigt, Wolfgang, "Schmitthenner, Paul" in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 246-248 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd131945793.html#ndbcontent