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Bibliotheken in der Literatur

2020, Treffpunkt Bücherei 4

BIBLIOTHEKEN Illustration: © Andreas Arnold Bibliotheken in der Literatur In der Literatur begegnet man diesen Aspekten – Wissenssymbol, kulturelles Archiv/Gedächtnis, Ordnung/ 14 Auffällig ist, dass der exterritoriale Ort Bibliothek in der Moderne oft als ein Gefängnis beziehungsweise Labyrinth vorgestellt wird (Eco, Saramago, Moers, Murakami) – oder gleich die ganze Welt zum Biblio- Literaturhinweise: „Bibliothek“, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.): Lexikon literarischer Symbole, 2. Aufl., Stuttgart: Metzler/Springer, 2012, S. 49f. Kirsten Dickhaut: Verkehrte Bücherwelten, München: Fink, 2004. Mirko Gemmel/Margrit Vogt: Wissensräume. Bibliotheken in der Literatur, Berlin: Ripperger & Kremers, 2013. Dietmar Rieger: Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur, München: Fink, 2002. Günther Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis. Das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20.Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997. Dr. Matthias Hennig Literaturwissenschaftler und Journalist Berlin Dr. M ig atthias Henn /C on nel desi gn Labyrinth & Welt, Leben & Tod thekslabyrinth wird (Bibliothek von Babel). Der Aufenthalt in ihr wird bei Eco, Borges oder Murakami (Die unheimliche Bibliothek) zum existentiellen Erleben und zu einem ernsthaften Spiel mit den Universalien – oder absoluten Metaphern – von Welt, Leben und Tod. Letztlich führt die Anhäufung von Büchern in Bibliotheken vor Augen, dass wir Menschen ohne Buchstaben keine Identität besitzen: Ohne Schrift sind wir als Menschen ein Nichts. Wessen Geschichte nicht erzählt und überliefert wird, der hat vor den Augen der Welt nicht gelebt; er kann auch nicht existieren ohne Name und Unterschrift auf Geburtsurkunde, Ausweis oder Grabstein. Die Verbindung von Schrift, Erinnerung/ Gedächtnis und persönlicher und kollektiver Identität, von Ich (Benutzer) und Raum, berührt auch einen Wesenskern der Bibliothek. Nicht nur darum ist diese Verbindung das thematische Herzstück von Texten wie Ecos Name der Rose, Borges Bibliothek von Babel, Canettis Blendung, José Saramagos Alle Namen oder W.G. Sebalds Austerlitz. Fo to: © Bibliotheken in der Literatur Unordnung, Macht/Ohnmacht – im Zusammenhang mit dem Motiv der Bibliothek sehr häufig; oft auch im Sinne eines intertextuellen und selbstreferentiellen Spiels mit dem Buch im Buch, das Wege in andere Welten und Räume öffnet. Dabei wird die Bibliothek zum Symbol einer anderen, und mehr oder weniger hermetisch in sich geschlossenen Welt: ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos repräsentiert. Zentraler Handlungsraum ist sie etwa in Elias Canettis Die Blendung, in Jorges Luis Borges vielzitierter Bibliothek von Babel, Umberto Ecos Name der Rose, Walter Moers Die Stadt der träumenden Bücher oder Haruki Murakamis Die unheimliche Bibliothek bzw. Kafka am Strand. Die Bibliotheken in diesen Texten sind „Orte außerhalb der Realität“1 und jenseits to der Zeit – sie existieren, mit ihren eS ob Ad © : Benutzer:innen, Besitzer:innen (Cao t Fo nettis Blendung) oder Bewohner:innen (Borges, Murakami) einer Eigenzeit oder einer Zeit, die stehen geblieben ist. ck .co m Die Bibliothek repräsentiert das kulturelle MakroGedächtnis einer Nation, Sprache, Stadt oder Region – oder aber den Geist ihres menschlichen Besitzers. Mit ihren Systematiken und Katalogen stellt sie Möglichkeiten der Erkenntnis bereit und lässt sich darum als ein Nullpunkt des Wissens verstehen, von dem oft auratische Kraft und Macht ausgehen. Die Überlegenheit von Schrift, Bildung, Gelehrsamkeit und Information spiegelt sich in der kulturgeschichtlich – und auch nachrichtendienstlich – traditionell engen Verbindung von Wissen und Macht wieder. Bibliotheken konzentrieren Wissen und Macht auf einen räumlich oder digital fixierten Punkt, dessen Zugang kontrolliert und reglementiert wird. Auf Seiten der Nutzer:innen kann sich diese Überlegenheit des Wissens in einem Gefühl der Ohnmacht niederschlagen – angesichts der überwältigenden Fülle von Bücher- und Wissensmassen, die größer als jedes Ich sind. Das Prinzip des Suchens und Findens ist der Bibliothek daher ebenso eingeschrieben wie das der Ordnung und Unordnung. 1 Haruki Murakami: Kafka am Strand, München: btb, 2008, S. 529 2 Matthias Henning: Bibliothektslabyrinthe, in: ders: Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur, Paderborn: Fink, 2015, S. 119-164 TREFFPUNKT BÜCHEREI 4 I 2020 15