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Klangräume der Erlebnisgesellschaft: Eine phänomenologische Untersuchung

Wir leben in Klangwelten, die unser Erleben einer lebendigen Wirklichkeit prägen. Wir suchen nach außeralltäglichen Klangerlebnissen in aufwändig inszenierten Spiel-Räumen. Diese Spiel-Räume sind Räume der erlebten Interaktion, es sind fremde Räume, in denen wir zu uns selbst finden wollen und die als Heterotopien Zerstreuung vom Gewöhnlichen versprechen. Die in diesem Buch vorgenommene phänomenologische Untersuchung beschreibt die Ästhetisierung des Lebens anhand der Klangräume der Erlebnisgesellschaft. Es ist eine Aufforderung zum kritischen Hinhören und ein Plädoyer für die Planungsrelevanz klanggeographischer Lebenswirklichkeiten. The book is a phenomenological study of the sonorous dimension of ludic spaces. Drawing mainly on introspection, the study approaches various heterotopias like theme parks, stadia, protest marches, rock concerts and religious places through listening. The author explores a broad range of phenomenological literature on sound and space, including conceptual works on atmospheres.

Wahrnehmungsgeographische Studien Herausgeber Jürgen Hasse Rainer Danielzyk Ingo Mose Wahrnehmungsgeographische Studien 27 Band Simon Runkel Klangräume der Erlebnisgesellschaft Eine phänomenologische Untersuchung BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Titelfoto: Alexander Friess, Spielplatz, Hinterhof Zugweg, Köln Oldenburg, 2014 Verlag/Druck/Vertrieb BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Postfach 2541 26015 Oldenburg E-Mail: [email protected] Internet: www.bis-verlag.de ISBN 978-3-8142-2306-3 Gewidmet meinem Doktorvater Jürgen Pohl (†) Inhalt 11 Vorwort 1 Einleitung 13 2 Die Phänomenologie als Erkenntnisweg und Methode 17 2.1 Die Phänomenologie als Erkenntnisweg 17 2.2 Phänomenologie und Geographie 20 2.3 Die methodische Umsetzung 23 3 Analysemodell Ansätze zum Verständnis von auditorischen Erlebnissen im Raum 29 3.1 Wie klingt das Leben? 29 3.2 Konturen der Hör-Gegenstände 31 3.3 Modell erlernter Strukturen 33 3.4 Begriffsklärungen: leibliche Kommunikation, Einfühlung und Interaktion 35 3.5 Strukturgeleitete Handlung 39 3.6 Strukturbildung im Erlebnis und Lusterlebnis 40 3.7 Räume der Hörwahrnehmung 42 3.8 Das Spiel und sein(e) Raum(-nahme) 52 3.9 A-priori-Strukturen 55 4 Spiel-Räume der Erlebniswelt Versuch einer Typologie 57 Andere Räume 57 4.1 4.2 Exkurs: zum Begriff des Events 60 4.3 Ab- und Eingrenzungen: Miniaturen des Daseins und Klangkulissen 62 Der Raum in der Musik Gedanken zu Shopping Malls, Roadtrips und iPods 67 5.1 Das Phänomen räumlichen Musikerlebens 67 5.2 Exkurs: Musikhören und Autofahren 72 5.3 Musik, Interaktion und erlebnisweltliche Effekte 75 5.4 Exkurs: Klang, Raum und Macht 81 6 Klangraum, Atmosphäre und das Mitten-drin-Sein Gedanken zur Andächtigkeit und Brachialität von Spiel-Räumen in Kirchen und auf Rockkonzerten 85 6.1 Heilige Räume und die Anmutung des Numinosen 85 6.2 Exkurs: Räume des Gebets 89 6.3 Von der Stille zum heiligen Lärm: die Freisetzung der Urkräfte 90 6.4 Körper, Tanz und Leib: intensive Erfahrungen im Klangraum 96 7 Fremderfahrung als Erlebnis Die Entdeckung der Welt an fremden Orten, in Achterbahnen und Science Center 103 7.1 Fremdheit, Staunen und die Selbstvergessenheit 103 7.2 Exkurs: Sich selbst fremd sein – der eigene Schrei in der Achterbahn 108 7.3 Faszination Technik 109 7.4 Exkurs: Medien und Computer als virtuelle und physische Erlebnisse 111 7.5 Zwischen Erinnerung, Illusion und Wirklichkeit 115 7.6 Spiel, Zweck und Erschöpfung im Science Center 117 5 7.7 Exkurs: Räume der Langeweile – Räume der Kreativität – Lernräume 120 Gedanken zur Ordnung Funktionale Klänge als A-priori-Strukturen 125 8.1 Typologie der Signale: Funktion und Charakter 125 8.2 Das Pfeifen 131 8.3 Die Klingel 133 8.4 Die Glocke und der Gong 134 9 Das Gemeinschaftserlebnis Kodizes, Kulte, Kommunikation – Fußballstadien, Public Viewing und Studentenstreiks 137 9.1 Mimesis und Interaktionsdynamik 137 9.2 Zuhören und Zugehören: Mimesis im Fußballerlebnisraum 139 9.3 Gehorchen und (Über-)Hören: Ziviler Ungehorsam und Protestbewegungen 146 9.4 Eskalation, Efferveszenz und das Erlebnis „Raum“ 149 9.5 Exkurs: der Raum des Familiären 153 10 Die Stille 155 11 Anwendungsbezüge 161 11.1 Klangliche Gestaltung und Planung von Spiel-Räumen 161 11.2 Klänge als Gegenstand der Raumforschung 165 11.3 Die Phänomenologie innerhalb einer konstruktivistischen Geographie 166 Literatur 171 Internetquellen 187 Danksagungen 189 8 12 9 Vorwort Die Erlebnisgesellschaft, der Klangraum, die Phänomenologie: Jeder dieser drei Begriffe erscheint, für sich genommen, als bekannte Größe. Aber diese drei Größen zu vereinen, nicht einfach in einer Zeile, in einem Kapitel oder in einem Buch, sondern im Denken, braucht den ausdrücklichen Mut zum Neuen. Simon Runkel ist das gelungen. Ich vermute zwar seit geraumer Zeit, dass Geographinnen und Geographen, gemäß der Kraft ihres Faches zur Synthese, dazu prädestiniert sind, Verbindungen zwischen verschiedenen Feldern begrifflicher Gravitation zu knüpfen; wenn aber jemand dies konkret unternimmt und leistet, ist es trotz des Bestätigungscharakters jedes Mal eine Überraschung. In La vida es sueño hat Calderón de la Barca vor rund 350 Jahren die Unsicherheit über den Status der erfahrbaren Welt zum Thema gemacht. Mit ihm, mit der Bühne, und gleichzeitig mit dem Thema der traumartigen Simulation schließe ich an die Gedanken des Autors im vorliegenden Text an. „Simulation ohne Wahrheitsprüfung“, „Komposition wichtiger als Substanz“, „Freiheit der Gestaltung ohne Notwendigkeit eines freien Willens“ höre ich als Tenor heraus. Vor allem beginnt das Begriffswort Spiel-Räume seine subversive Arbeit. Die Geographen haben sich im Besonderen mit der sublunaren Welt des Unpräzisen und sich ständig Verschiebenden auseinandergesetzt. Von der Vermessung der physischen Welt zur Metrik der Ökonomik hat sich zwar eine scheinbare Präzision entwickelt. Auch wenn sich die Berge nach wie vor hart im Raum stoßen, bleibt doch stets ein Staunen, wie in der Welt der gedanklich präzisen Durchdringung immer wieder Ellbogenraum ist, in dem die Dinge Wege finden, die eigentlich nicht sein können. Runkel trägt dem mit der Begriffsbildung von den „zeit-räumlichen Miniaturen des Daseins“ Rechnung, die über „Spiel-Räume“ der Erlebniswelt mit „fremden Räume, in denen wir zu uns selbst finden wollen“ und den gleichzeitigen sozialen Räumen korrespondieren. 11 Was für Soziographinnen und Sozigraphen der Erlebnisgesellschaft naheliegt, für Erforscherinnen und Erforscher der Soundscape vertraut klingt: könnte das „Spiel“ für die Phänomenologen ein Problem darstellen, indem es das Phänomen der Einklammerung entzieht? Taugen Spiel-Räume, die Verkörperung des Unpräzisen und Spielerischen, die im Moritzschen Sinne mit der Kapazität zu grundlegender Verwandlung begabt sind, als wissenschaftliche Kategorie? Sie tun es, denn Runkel befasst sich nicht mit dem Persistenten, das die Geographie so sehr schätzt, sondern mit dem Performanten, das die Soundscape Studies und die Begriffe von Klang- und Hörraum fordern. Das selbstvergessene kindliche Spiel, das Spiel des Steuerrads, das Spiel der Schauspielerin verweisen auf ein wahrnehmend und gestaltend tätiges Sein, das vom Abstand zur vermeinten Wirklichkeit lebt. Dieser Abstand ist es schließlich, der in einer Dialektik von Eintauchen in den Klangraum (dem Sein im Hören) und Distanz haltender Betrachtung (dem Sein im Sehen) „spielt“ und „webt“ und das phänomenologische Beobachten und Beschreiben zu Wissenschaft macht. Das Paradigma der Soundscape ist essenziell, denn es führt immer wieder zur Leiblichkeit zurück, zur Resonanz der Unruhe der Welt in der Person, die ihre Erscheinung betrachtet. Das ist nicht die gerade Linie rationaler Empirie, sondern das systematische Mäandrieren einer gewissermaßen empathischen Phänomenologie, die das persönliche Beobachten ernst nimmt ohne es zu verabsolutieren. Justin Winkler Basel/Graz, 3. Juni 2014 12 1 Einleitung „Was wollen wir eigentlich? Was gefällt uns? Wollen wir das, was wir zunächst zu wollen glaubten, auch wirklich?“ „Es ist deshalb weder erstaunlich, daß unsere Gesellschaft nicht glücklich scheint, noch ist der steigende Aufwand unerklärlich, mit dem sie nach Glück sucht.“ Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft Die Postulierung der Erlebnisgesellschaft durch Gerhard Schulze liegt nun schon einige Jahre zurück. Die Intensität und Dichte der Erlebniswelten hat seither zugenommen. Unser Hunger ist noch nicht gestillt. Die Inszenierungstechniken sind ausgefeilter geworden. Die ästhetische Ökonomie boomt nach wie vor. Großveranstaltungen als Massenerlebnisse nehmen unweigerlich zu. Immer neue Spielwelten werden kreiert und atmosphärisch inszeniert. Neue technische Spielzeuge verschaffen ungewohnte Lust-Erlebnisse. Alltagsgegenstände werden in ästhetischer Hinsicht ‚optimiert‘. In diesen Zusammenhängen werden neue Antworten gesucht und neue Anforderungen gestellt. Die Beschäftigung mit Klängen nimmt Bezug auf einen wichtigen Aspekt der Erlebnisorientierung: die Ästhetisierung des Lebens. Klänge sind wichtige Bestandteile der Kulissenwelten, in denen wir uns bewegen. Sowohl Architekten als auch Geographen und Sozialwissenschaftler1 haben sich bereits intensiv mit der visuellen Ästhetisierung auseinandergesetzt. Die Klangforschung hingegen fristet nach wie vor ein Nischendasein. Der dominante Visualismus im Erkenntnisprozess lässt sich bis zur griechischen Philosophie zurückverfolgen, wo „wissen“ mit „sehen“ gleichgesetzt wurde. Die Dominanz ist bis heute spürbar und Anlass vielfältiger Kritik gewesen.2 1 2 An Stellen, an denen es der Lesefluss erlaubt wurden beide Formen genutzt. An anderen Stellen habe ich mich entweder für die männliche oder weibliche Form entschieden. Dies schließt aber die jeweils andere Form natürlich mit ein. Vgl. Ihde, Don (2007): Listening and Voice – Phenomenologies of Sound. 2. Ausgabe. Albany: State University of New York Press. S. 3ff. 13 Eine methodische Schwierigkeit der Klangforschung lässt sich zudem mit folgender Frage pointieren: Wie beschreibt man Klänge? Die Verbindung von Klang und Raum erfordert darüber hinaus noch Grundlagenarbeit, da ebenfalls wie in anderen Disziplinen3 auch in der Geographie das Visuelle eine Vorrangstellung genießt.4 Gleichwohl beflügelt R. Murrays Schafers bahnbrechendes Konzept der „soundscapes“5 bis heute noch zahlreiche Klangforscher und regt bis heute zu Widerspruch, Kritik und Weiterentwicklung an.6 Systematisch berücksichtigt wird die Klangforschung aber nach wie vor nicht und erliegt wie andere Themen an der Schnittstelle von sinnlicher Wahrnehmung und Geographie einer wissenschaftlichen Marginalisierung. Der phänomenologische Zugang zum Thema erscheint als probates Mittel, um sich sowohl thematischen als auch methodischen Schwierigkeiten anzunehmen. Grundsätzlich stellt die phänomenologische Methode sicher, dass das thematische Feld offen genug ist, um die Aspekte der klanglichen Ästhetisierung und der Suche nach Glück und Erlebnis in unserer Zeit zu begreifen. Klänge zu erfassen erfordert einen Zugang, der Zuhören ermöglicht. Die Introspektion als Form der Erfassung bewussten Erlebens bietet sich an, um den Klängen des Lebens ein Ohr zu leihen und einen Ausdruck zu ermöglichen. Gleichwohl ist von vornherein anzumerken, dass die analytische Herauslösung des Hörsinns aus der synästhetischen, ganzheitlichen Erfahrung der Welt phänomenologisch schwierig ist. Aus diesem Grund wird in viel- 3 4 5 6 14 Vgl. Friedrich, Malte (2010): Urbane Klänge. Popmusik und Imagination der Stadt. Bielefeld: Transcript. S. 8 Für die deutschsprachige Geographie sind im Folgenden einige aktuelle Arbeiten über Klang genannt. Insbesondere auf die „soundscape studies“ und Schafers Arbeiten bezieht sich: Wissmann, Torsten (2014, angekündigt): Geographies of Urban Sound. Aldershot, Burlington: Ashgate. Des Weiteren Lenk, Karsten (2013): Wenn Klangräume zu Sprache werden (müssen) – Die Problematik der Erforschbarkeit und Deutung von Klangwahrnehmung für räumliche Prozesse. Vortrag im Rahmen der Tagung „Neue Kulturgeographie X: Das ‚Feld‘ und dessen Neue Kulturgeographie. 2.–3. Februar 2013 in Leipzig. Manuskript online: https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geographie/ mitarbeiter/lenk/ wenn_klangraeume_zu_sprache_werden_muessen.pdf (Zugriff: 07. Februar 2014); Winkler, Justin (2013): Walking, Talking, Listening. S. 62. In: Breitsameter, Sabine/ Leonardson, Eric (Hrsg.) (2013): Ways of listening, figures of thought: A Festschrift for R. Murray Schafer on the occasion of his 80th birthday. Dieburg Series on Acoustic Ecology, 3. Soundscape & Environmental Medialab/Hochschule Darmstadt: Darmstadt. Schafer, R. Murray (1994): The Soundscape – Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Rochester: Destiny Books. Ingold, Tim (2011): Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description. Abingdon, New York: Routledge. S. 136ff. facher Hinsicht in dieser Studie das Klangliche an andere leibliche Erfahrungen zurückgebunden.7 Es ist eine Schwierigkeit gewesen, die geeignete Form der Darstellung zu finden. Zum einen, da Klänge zu beschreiben wie Tanzen zu Architektur ist.8 Das Breitband der verschiedenen Klänge erforderte ferner eine Bereitschaft verschiedene Pfade und Wege zu begehen und zu denken. Diese Arbeit ist ein System an Gedanken und Deskriptionen, die, nach Schopenhauer, „allemal einen architektonischen Zusammenhang haben, d. h. einen solchen, in welchem immer ein Theil den andern trägt, nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel getragen wird, ohne zu tragen.“9 Die analytischen Ausführungen zu Beginn werden von den beispielhaften Ausführungen getragen. Die Beispiele, deren Beschreibung und Erfassung den empirischen Anteil am Vorgehen stellen, ergeben sich aus den Analysemodellen und führen gleichsam zurück. Die Lektüre soll einen Klangraum aufspannen, der die von mir beschrittenen Wege zumindest gedanklich mitschreiten und -erleben lässt. Nur im Erlebnis selbst verstehen wir dieses. Der phänomenologische Ansatz der Arbeit möchte genau diesem Anspruch gerecht werden. Zweifelsohne ist der literarische Stil und die Form innerhalb der deutschsprachigen Geographie ungewohnt. Die Phänomenologie ist innerhalb einer weitgehend konstruktivistischen Geographie sehr stark an den Rand gedrängt. Es braucht Mut phänomenologisch zu arbeiten, sowohl was die Forschungslandschaft betrifft, die man gedanklich zu bereisen hat, als auch die inneren Zwiespalte des Verlassens tradierter Pfade und der Schwierigkeit sich selbst zu beobachten und abzuhören. Gleichwohl lässt sich doch feststellen, dass innerhalb der deutschsprachigen Geographie wieder eine große Offenheit gegenüber (post-)phänomenologischen Zugängen besteht, die sehr ermutigend und vielversprechend ist. Diese Arbeit möchte dies unterstützen und Wege, Möglichkeiten und Chancen phänomenologischen Arbeitens skizzieren. Insbesondere in der Lehre und der Ausbildung von Studierenden ergeben sich eine 7 8 9 Ihde (2007), S. 44; vgl. zur Geschichte der Sinne: Jütte, Robert (2000): Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München: C.H.Beck. Diese Aussage wird gemeinhin Frank Zappa zugeschrieben, gleichwohl die Quellenangaben dazu sehr stark variieren. Schopenhauer, Arthur (1998): Die Welt als Wille und Vorstellung. Gesamtausgabe. 4. Auflage. München: dtv. S. 7 15 Vielzahl didaktischer Chancen für die Vermittlung geographischen Wissens mit bewährten Methoden der Beschreibung von Phänomenen. Bevor nun die Erlebnisse in den verschiedenen Spiel-Räumen, die Reisen in den ‚Orient‘, die Andächtigkeit in den Kirchen und das Glück im Fußballstadion den Leser und die Leserin beschäftigen können, benötigt die Arbeit aber klare Ausgangspunkte. Im ersten Schritt war es notwendig den Zugang selbst zu umreißen. Die Phänomenologie als Erkenntnisweg und Methode soll zumindest in einer kurzen Skizze deutlich werden. Darauf folgt das Herzstück der Arbeit, das die Aus- und Eingänge jeglicher Beschäftigung mit dem Thema bildet. Das als Analysemodell überschriebene Kapitel ist ein Versuch, die Zusammenhänge auditorischer Erlebnisse im Raum zu begreifen. Das Kapitel ist wie eine Schneekugel, die man dreht und schüttelt, sodass man unterschiedliche Ansichten gewinnt. Diesen An- und Einsichten folge ich dann exemplarisch unter bestimmten Modi des Interesses. Die Vielfalt der in diesen als papierne Erlebniswelten gestalteten Kapitel wird aber auch dadurch deutlich, dass das Tempo der möglichen theoretischen Konfrontation und thematischen Abbiegungen stets hoch bleibt. Die thematischen Ausflüge enden schließlich in einem Ruheraum, einem Kapitel über die Stille. Von dort aus wird die Arbeit dann mit einigen praktischen Gedanken zu Anwendungsbezügen, sowohl gestalterischer als auch theoretischer Art, abgeschlossen. 16 2 Die Phänomenologie als Erkenntnisweg und Methode 2.1 Die Phänomenologie als Erkenntnisweg „Zu den Sachen selbst!“10 – Edmund Husserls berühmter Ausspruch beschreibt die Phänomenologie als eine Wesenslehre. Das Wesen der Sachen steht im Vordergrund. Als Grundlage aller Wissenschaften, als „erste Philosophie“, nimmt die Phänomenologie die Aufgabe wahr, sich damit zu befassen, wie uns die Welt in unserem Bewusstsein und Erleben gegeben ist.11 Es handelt sich um Denk-Erlebnisse, um intentionale Bewusstseins-Erlebnisse.12 Sei es die sinnliche Wahrnehmung, das Wünschen von etwas, das Erinnern, das Urteilen etc. Phänomene sind dabei die intentionalen Gegenstände sowie die intentionalen Bewusstseinsakte: alles Seiende, sofern und wie es dem Bewusstsein gegeben ist. Dabei ist dem Bewusstsein die Welt, wie sie ist, gegeben. Ebenso, wie das Bewusstsein ist, durch die Richtung auf Gegenstände. Im Husserl‘schen Verständnis interessiert also das Werden der Welt in der Konstitution der transzendentalen Subjektivität. Methodisch muss dabei auf die transzendentale Subjektivität zurückgegangen werden. Diesen Rückgang benennt Husserl als Reduktion in Stufen der „Epoché“ (einer Enthaltung). Husserl identifiziert vier Reduktionen. Zu- 10 11 12 Mit „Sachen“ meint Husserl weder die Gegenstände einer äußeren Erfahrung noch die Inhalte der inneren Erfahrung. Es sind keine „Tatsachen“, sondern „begriffene Wirklichkeiten“. Vgl. Fellmann, Ferdinand (2006): Phänomenologie – zur Einführung. Hamburg: Junius. S. 28f. Eine vorzügliche Einführung in die phänomenologische Methode findet sich hier: Danner, Helmut (1998): Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik. 4. Auflage. München: E. Reinhardt. Eine Definition von Intentionalität: „Intentionalität meint die doppelte Zentrierung alles psychischen Lebens, daß alles Bewußtsein Bewußtsein von ... ist, und jede Gegenständlichkeit, ob als Wirklichkeit oder Möglichkeit, als mir geltende mit einer konkreten Form des Gerichtetseins korreliert.“ – Graumann, Carl Friedrich/Métraux, Alexandre (1977): Die Phänomenologische Orientierung in der Psychologie. S. 42. In: Schneewind, Klaus A. (Hrsg.) (1977): Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie. 1. Auflage. München: E. Reinhardt. 17 nächst die erste Epoché, die als der Weg von einer vorurteilsbelasteten theoretischen Welt zur natürlichen Einstellung einer primären Lebenswelt gekennzeichnet ist. Genau dort setzt dann die phänomenologische Reduktion an, die sich des naiven Hinnehmens enthält. Die Welt wird nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert. Der Phänomenologe wird zum unbeteiligten Zuschauer, der sich auf die Denk-Erlebnisse und intentional gegebenen Gegenstände richtet. Werner Marx schreibt dazu, dass „der Phänomenologe [...] durch dieses Nicht-mehr-Interessiertsein zum uninteressierten Zuschauer [wird], der jetzt eine Position ‚über‘ der Welt bezogen hat.“13 In der folgenden eidetischen Reduktion profiliert sich dann das Wesen, das Eidos des Gegebenen. Die eidetische Reduktion als Wesensschau basiert fundamental auf der Variation, einer schöpferisch-aktiven Denkarbeit, die das Unveränderliche, das Allgemeine, den „Wesenskern“14 des Gegenstands herausarbeitet. Der letzte Schritt in der Phänomenologie nach Husserl, ist die transzendentale Reduktion, der Rückgang auf ein Ich, in dem das Welt-Vorgegebene und die Weise der Gegebenheit zusammengehörig sind. Diese Ebene beschreibt die Konstitution der Welt in der transzendentalen Subjektivität. Der Franzose Maurice Merleau-Ponty folgt einer Richtungsgebung Husserls, indem er die Phänomenologie als Philosophie der Lebenswelt skizziert. Merleau-Ponty geht der Frage nach, inwiefern die subjektive Konstitution der Welt auf der Ebene der transzendentalen Subjektivität in Zusammenhang mit der Welt der Anderen steht. Zwar hatte sich Husserl mit dieser Frage in seinem Ansatz der transzendentalen Intersubjektivität im Zusammenhang mit der Krisis beschäftigt, Merleau-Ponty aber vollzieht den Ansatz, indem er sich vom transzendentalen Interesse an der Lebenswelt abwendet und der Lebenswelt eine Priorität vor dem Bewusstsein einräumt. Er argumentiert, dass es keine Welt ohne ein Sein-zur-Welt gebe. Damit stellt er das cartesianische „cogito ergo sum“ auf den Kopf: „sum ergo cogito“ – die Weise meiner Existenz bestimmt mein Denken.15 In der Fortführung (und letztlich auch Loslösung) von Husserl macht Merleau-Ponty Raum, Zeit und Welt des „Lebens“ zu den Gegenständen der (philosophischen) Wissenschaft. Dabei geht es immer weniger um die Reinigung von Vorurteilen als um die Reflexion dieser. Zu diesem Zwecke defi13 14 15 18 Marx, Werner (1987): Die Phänomenologie Edmund Husserls. München: Wilhelm Fink. S. 25 Mayring, Philipp (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. 5. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz. S. 108 Vgl. auch Marx (1987), S. 31ff. niert Merleau-Ponty das Subjekt als ein leibliches. Bei Husserl findet sich schon der Begriff der „Kinästhesen“, das (spontane) Fungieren des Leibes, das waltende Vollziehen. Marx schreibt darüber: „Daß ich mich selbst – in meinen Leibesorganen kinästhetisch mich verhaltend – mit wahrnehme, wann immer ich wahrnehme, dieses seltsame Dabeisein meiner selbst im Sehen, Hören, Tasten usw. macht das Eigentümliche des leiblichen Wahrnehmungsvollzugs des Menschen aus. Dieses Sichselbstwahrnehmen im Leib bildet ein Orientierungszentrum aus. Für jedes einzelne Subjekt konstituiert sich ein sinnlicher Orientierungsraum mit dem Sinne eines relativen Hier für ein mögliches relatives Dort und in eins damit ein Richtungssystem des Rechts-Links und des Oben-Unten.“16 Das Verhältnis zur Welt ist durch den Leib bestimmt.17 Dieser ist beständiger Bewusstseinsinhalt. Nie habe ich ihn eigentlich vor mir, er ist immer am Rand meiner Wahrnehmung, er ist mit mir. Die Welt habe ich also durch meinen Leib hindurch, ich existiere leibhaft und habe leibhafte Erfahrungen. Folglich ist die Welt auch eine durch unsere Leiblichkeit interpretierte Welt; mein Leib „ist ein für alle anderen Gegenstände empfindlicher Gegenstand, der allen Tönen ihre Resonanz gibt, mit allen Farben mitschwingt und allen Worten die Art und Weise, in der er sie aufnimmt, ihre ursprüngliche Bedeutung verleiht.“18 Wir nehmen sinnlich wahr, wir hören etwas, und wir „wissen“ dank unseres Leibes. Der Leib hat sein eigenes Verstehen. Dieses Verstehen ist immer, wir existieren leiblich. Unsere Existenz ist ebenso nicht ohne Welt denkbar, im Leib sind wir zur Welt. Der phänomenologische Erkenntnisweg im Anschluss an Husserl und MerleauPonty ist zentraler Ausgangspunkt dieser empirischen Studie. Husserls transzendentale Phänomenologie wurde von einer Reihe von Philosophen weiter ausgearbeitet. Insbesondere zu nennen ist dabei die Fundamentalontologie Martin Heideggers und die Sozialphänomenologie nach Alfred Schütz. In 16 17 18 Marx (1987), S. 66 Zum Problem der Intersubjektivität bei Husserl: „[...] daß ich den anderen nicht nur als ein Duplikat meiner selbst apperzipiere, ihn nicht etwa als mit der räumlichen Orientierung ausgestattet sehe, wie sie mir von meinem Hier aus selbst zueigen ist, sondern mit einer solchen, wie ich sie selbst haben würde, wenn ich dorthin ginge und dort wäre. [...] nicht nur den Sinn vom Körper des anderen, sondern den Sinn des Leibes, in dem das Ich des anderen sich als Gehaben ausdrückt.“ – Marx (1987), S. 91f. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. 6. Auflage. Berlin: Walter de Gruyter. S. 276. 19 enger Verbindung zur Phänomenologie sind Hermeneutik, Existenzialismus und Lebensphilosophie als wesentliche Strömungen der Philosophie zu nennen. Jüngere Weiterentwicklungen, die zudem wesentliche Kritiken an der traditionellen Phänomenologie berücksichtigen und vor allem anwendungsorientiert und empirisch konzipiert sind, haben diese Arbeit des Weiteren wesentlich geprägt. Dies ist zum einen die Leibphänomenologie nach Hermann Schmitz19 und zum anderen die „Postphänomenologie“ nach Don Ihde20, die Aspekte des Pragmatismus adaptiert hat sowie vor allem Subjektivität durch den Leib ersetzt. Einer grundsätzlich erkenntnistheoretischen Debatte möchte ich mich im Rahmen dieser Arbeit enthalten. Gleichwohl scheint es geboten einige Worte zur Phänomenologie innerhalb der deutschsprachigen Humangeographie zu verlieren. 2.2 Phänomenologie und Geographie In der angelsächsischen Geographie ist unter dem Rubrum „humanistic geography“ in den 1970er Jahren eine Antwort auf den Positivismus und strukturalistischen Marxismus entworfen worden, in welcher die Dimensionen der menschlichen Erfahrungen zum Kernanliegen der Forschung mittels ethnographischer, partizipatorischer als auch literarischer Herangehensweisen gemacht wurden. Dabei wurde sich vornehmlich auf phänomenologische, hermeneutische, existenzialistische und lebensphilosophische Positionen bezogen. Aufgrund verschiedener Kritiken hat der Einfluss der „humanistic geography“ mit den 1980ern Jahren zwar wieder abgenommen, aber viele der von Autoren wie Anne Buttimer, David Seamon, Yi-Fu Tuan, Edward Relph und weiteren vorgebrachten Argumente sind nach wie vor zentral in Debatten rund um den etwas jüngeren Diskurs der Neuen Kulturgeographie und leben in verschiedenen poststrukturalistischen Herangehensweisen fort.21 19 20 21 20 Eine gute Einführung zu dieser sogenannten „Neuen Phänomenologie“ findet sich in: Schmitz, Hermann (2009): Der Leib, der Raum und die Gefühle. 2. Auflage. Bielefeld, Basel: Aisthesis Verlag. Ihde, Don (1993): Postphenomenology. Essays in the Postmodern Context. Evanston: Northwestern University Press. Eine kurze Einführung findet sich in Sharp, Jo (2009): Humanistic Geography. S. 356–358. In: Gregory, Derek/Johnston, Ron/Pratt, Geraldine/Watts, Michael/Whatmore, Sarah (Hrsg.) (2005): The Dictionary of Human Geography. 5th Edition. Malden, Oxford, Chichester: Wiley-Blackwell. In seinem Überblickswerk „Entwicklungslinien der Sozialgeographie“ konstatiert Peter Weichhart kurz und bündig, dass die „humanistische Geographie“22 „im deutschen Sprachraum [...] so gut wie gar nicht Fuß gefasst“ hat.23 Seine Aussage ist sicherlich wenig überraschend und auch nicht völlig unzutreffend. Wolf-Dietrich Sahr vermeldet in seiner pointierten Analyse des „cultural turn“ in der Geographie dennoch einige Namen, die sich durchaus in einer „individualtheoretische[n] Wende“ bemüht haben „Anschluss an die amerikanische Diskussion der Humanistic Geography zu finden“.24 Neben Peter Weichhart selbst reiht er noch Peter Sedlacek, Jürgen Pohl und Benno Werlen ein, deren Fokussierung des Subjekts und Einbeziehung einer Handlungstheorie von ihm zwar stark rationalistisch, so doch in der Nähe zur „humanistic geography“ eingeordnet werden. Insbesondere Jürgen Pohls Entwurf der Geographie als hermeneutische Wissenschaft, so lässt sich ergänzen, ist dabei herauszustellen.25 Zudem sei ebenfalls darauf verwiesen, dass Anne Buttimer (via München) Einzug in die deutschsprachige Geographie fand.26 Zur selben Zeit diskutierte Sabine Tzschaschel in ihrer Darstellung und Kritik einer Mikrogeographie die „humanistic geography“ ausgiebig.27 22 23 24 25 26 27 Auf der Tagung „Neue Kulturgeographie VII.“ in Mainz 2010 frotzelte Wolf-Dietrich Sahr in der Diskussion nach einem Vortrag von Holger Jahnke zum Thema „Über das Vergessen – oder: Auf der Suche nach einer Humanistischen Geographie“, dass sich der Begriff „humanistische Geographie“ in Deutschland nicht durchgesetzt habe, da er so sehr nach „humanistisches Gymnasium“ klänge. Interessanterweise scheint es aber, dass vor allem Geographen, die zunächst eine Laufbahn als Lehrer eingeschlagen hatten, sich später an den Universitäten vor allem in literarischer und schöngeistiger Weise mit geographischen Fragestellungen auseinandersetzten. Die Nähe zwischen „humanistic geography“ und didaktischer Geographie scheint kein Zufall zu sein. Dieser Gedanke wurde in einem persönlichen Gespräch mit Jürgen Pohl entwickelt. Weichhart, Peter (2008): Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. S. 140. Sahr, Wolf-Dietrich (2003): Der Cultural Turn in der Geographie. Wendemanöver in einem epistemologischen Meer. S. 241f. In: Gebhardt, Hans/Reuber, Paul/Wolkersdorfer, Günter (Hrsg.) (2003): Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag. Pohl, Jürgen (1986): Geographie als hermeneutische Wissenschaft. Ein Rekonstruktionsversuch. Münchener Geographische Hefte, Nr. 52. Kallmünz/Regensburg: Verlag Michael Lassleben. Buttimer, Anne (1984): Ideal und Wirklichkeit in der angewandten Geographie. Münchener Geographische Hefte, Nr. 51. Kallmünz/Regensburg: Verlag Michael Lassleben. Tzschaschel, Sabine (1986): Geographische Forschung auf der Individualebene. Darstellung und Kritik der Mikrogeographie. Münchener Geographische Hefte, Nr. 53. Kallmünz/ Regensburg: Verlag Michael Lassleben. 21 Ebenfalls hat sich Jürgen Hasse um eine stärkere Berücksichtigung der Phänomenologie in der geographischen Disziplin verdient gemacht. Insbesondere, aber nicht ausschließlich über ästhetische Fragestellungen spürt er den Empfindungen und Gefühlen in der Raumproduktion und dem Raumerleben nach. Er rekurriert dabei stark auf die Leibphänomenologie und die Lebensphilosophie. Sein Verdienst ist es vor allem auch empirische Arbeiten in die Diskussion einzubringen. Zudem tauchen hier und dort einzelne Arbeiten und Publikationen auf, die sich mitunter zum phänomenologischen Vorgehen bekennen, aber zumeist konzeptionelle Beiträge darstellen.28 Vor allem erwähnenswert sind auch die Arbeiten von Justin Winkler, auf die immer wieder zurückzukommen sein wird. Zudem ist mit der Dissertation von Werner Bischoff zur olfaktorischen Wahrnehmung im städtischen Kontext eine herausragende humangeographische Wahrnehmungsstudie erschienen.29 Weichharts ÜberSEHEN dieser Arbeiten deutet folglich mehr auf die Debatte der Menschenbilder in der Geographie hin, die von besonderer Bedeutung ist. Jürgen Hasse betont dabei, dass der Mensch „auch als affektiv Betroffener lebt“, und wirbt entsprechend dafür, dass die Leiblichkeit des spürenden Menschen berücksichtigt wird statt in konstruktivistischer Weise den Menschen als „denkenden Körper“ zu reduzieren.30 In der Abschlussdiskussion wird noch einmal detaillierter auf die Menschenbild-Debatte eingegangen. Mit dieser Arbeit möchte ich im Rahmen dieser Debatte einen empirischen Impuls geben und somit einen phänomenologischen Beitrag zur Geographie des Menschen leisten.31 Dies geschieht auch in der Hoffnung, dass sich weitere Arbeiten anschließen und die leider im deutschsprachigen Raum stark unterrepräsentierte phänomenologische Geographie durch sowohl empirische als auch konzeptionelle Beiträge bestärkt wird. 28 29 30 31 22 Zum Beispiel Scheiner, Joachim (1998): Aktionsraumforschung auf phänomenologischer und handlungstheoretischer Grundlage. S. 50–66. In: Geographische Zeitschrift, 86(1). Bischoff, Werner (2007): Nicht-visuelle Dimension des Städtischen. Olfaktorische Wahrnehmung in Frankfurt am Main, dargestellt an zwei Einzelstudien zum Frankfurter Westend und Ostend. Wahrnehmungsgeographischen Studien, Band 23. Oldenburg: BIS-Verlag. Hasse, Jürgen (2003): Die Frage nach den Menschenbildern – eine anthropologische Perspektive. S. 11–31. In: Hasse, Jürgen/Helbrecht, Ilse (Hrsg.) (2003): Menschenbilder in der Humangeographie. Wahrnehmungsgeographische Studien, Band 21. Oldenburg: BISVerlag. Helbrecht, Ilse (2003): Humangeographie und die Humanities – Unterwegs zur Geographie des Menschen. S.169–179. In: Hasse, Jürgen/Helbrecht, Ilse (Hrsg.) (2003): Menschenbilder in der Humangeographie. Wahrnehmungsgeographische Studien, Band 21. Oldenburg: BIS-Verlag. In den folgenden methodischen Überlegungen wird der Weg, den ich eingeschlagen habe, skizziert und mit Beispielen aus dem Arbeitsprozess erläutert. 2.3 Die methodische Umsetzung Im Kern dieser phänomenologischen Untersuchung stehen introspektive Berichte und subjektive Deskriptionen. Descartes verstand die Introspektion als einzige „Form von Erkenntnis und Voraussetzung der Wahrnehmung der äußeren Welt“32. Die psychologische Introspektion untersucht den inneren Raum der Erfahrung. Sebastian Deterding definiert die Introspektion in seinem Überblick in vierfacher Weise: zum einen als „bewusstes Erleben“, dann als „bewusstes Erleben des subjektiven Anteils der Phänomene“, im Zusammenhang mit Qualia als „bewusstes Erleben mentaler Zustände“ und schließlich als „bewusstes Erleben mentaler Zustände, die äußeren Beobachtern nicht direkt zugänglich sind“.33 Die von Deterding vorgestellten Verfahren, die auf introspektive Datenerhebung ausgerichtet sind, sind psychologische bzw. soziologische Methoden wie das laute Denken34, das Descriptive Experience Sampling (DES) (z. B. nach Hurlburt) und die gruppengestützte dialogische Introspektion35. In dieser Arbeit wird standardisierte Introspektion vermieden. Dem cartesianischen Verständnis von Introspektion als Erkenntnis schließe ich mich in pragmatischer Weise zunächst an und betone zudem ein offenes Verständnis der Introspektion als „bewusstes Erleben“. Wenn Introspektion also das Erfahren von etwas ist und es nichts gibt, was uns nicht als Erfahrung gegenüber tritt, so kann eben diese Erfahrung nicht fehlerhaft sein. Durch Besuche der Orte und Raumerfahrungen, mit denen sich die vorliegende Arbeit beschäftigt, oder durch erinnerte Erfahrungen (retrospektive Berichte), konnte ich diese und der ihnen eigenen Klänge mittels der Introspektion beobachten und reflektieren. 32 33 34 35 Deterding, Sebastian (2008): Introspektion – Begriffe, Verfahren und Einwände in Psychologie und Kognitionswissenschaft. S. 328. In: Raab, Jürgen (et al.) (Hrsg.) (2008): Phänomenologie und Soziologie – Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Deterding (2008), S. 329 Vgl. Duncker, Karl (1974): Zur Psychologie des produktiven Denkens. Berlin: Springer Verlag; Ericsson, K. Anders/Simon, Herbert A. (1980): Verbal Reports as Data. S. 215– 251. In: Psychological Review, Vol. 87, Nr. 3. Burkart, Thomas/Kleining, Gerhard/Witt, Harald (Hrsg.) (2010): Dialogische Introspektion. Ein gruppengestütztes Verfahren zur Erforschung des Erlebens. Wiesbaden: VS Verlag. 23 Einwände und Probleme sind damit zwar reduziert, aber nicht vollkommen ausgelöscht. Zum einen muss sich die Introspektion der Kritik insofern stellen, als dass sie prinzipiell unvollständig ist. Genau dies stellt aber auch eine Herausforderung dar, da die Frage, was „bewusstes Erleben“ erfasst und was nicht, als ein Wesenskern der Untersuchung begriffen und gedeutet werden kann. Zum Anderen sah sich die Introspektion oftmals dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt, da sie als nicht objektiv galt.36 Hier lässt sich entgegnen, dass introspektives Material stets anhand weiterer Quellen, literarischer Zeugnisse und analytischer Überlegungen eingebettet und überprüft wird. Es lässt sich zudem die rhetorische Frage stellen, ob Introspektion nicht zudem in vielerlei Hinsicht Teil jedweden Forschungsprozesses ist und damit geisteswissenschaftlichen Untersuchungen stets immanent ist. Größtmögliche Naivität und Offenheit gegenüber den Denk- und SchreibErlebnissen war ein Grundprinzip meiner Untersuchung. Die stete Verfeinerung der Selbstbeobachtungen, des Denkens, des Erinnerns, des Erzählens und Nachvollziehens ist dabei wesentlicher Prozess der Arbeit gewesen. Denk-Erlebnisse bringen im besten Falle den Forscher selbst zum Staunen. Dennoch ist auch die vorliegende Arbeit nicht gänzlich ohne Regeln als Art „Ankerpunkte“ ausgekommen. Fündig wurde ich bei den Hamburger Sozialforschern Kleining und Witt und ihrer Methodologie qualitativer Heuristiken.37 Ihr Ziel ist es, die Qualitäten der Entdeckung („exploration and discovery“) der sozialwissenschaftlichen Forschung wieder zugänglich zu machen. Ihre grundsätzlichen Regeln zur Optimierung von Entdeckungen boten eine hilfreiche Stütze für den Aufbau meines eigenen Vorgehens. Die Regeln sind weder dogmatisch zu verstehen und zu nehmen, noch sind sie für sich allein gültig. Es sind miteinander verknüpfte Leitfäden, die von mir in den Arbeitsprozess eingewebt wurden. Als erste Regel sollte der Forscher und die Forscherin offen sein für neue Konzepte und bereit sein, Vorurteile fallenzulassen, wenn die Daten nicht 36 37 24 Mayring (2002), S. 31 Kleining, Gerhard/Witt, Harald (2000): The Qualitative Heuristic Approach: A Methodology for Discovery in Psychology and the Social Sciences. Rediscovering the Method of Introspection as an Example. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 1(1), Art. 13. URL: https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/ view/1123/2495 (Zugriff: 31. Juli 2010); ebenso auch Kleining, Gerhard (1995): Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung. Bd. 1 – Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik. Weinheim: Beltz, PsychologieVerlagsUnion. damit übereinstimmen. Dies erwies sich in der Arbeit durchaus als schwierig und Vorurteile waren oft hinderlich. Dabei zeigte sich im Arbeitsprozess auch eine spürbare Reife, eine Art Loslassen vorgefasster Meinungen. Dem vermeintlich Bekannten als Fremden zu begegnen erfordert auch Mut, der sich erst nach einer Weile entwickeln kann. Je mehr die Arbeit Fortschritte machte, desto mehr „Ballast an Vorurteilen“ konnte schließlich abgeworfen werden. Aspekte, denen ich zu Beginn der Arbeit unweigerlich zugestimmt hatte, stellten sich nach einigen Wochen plötzlich selbst in Frage. Dies erforderte aber auch Bereitschaft Absätze zu löschen, das theoretische Modell erneut zu hinterfragen und zu modifizieren. Gleichsam gestaltete sich die umfassende Überarbeitung dieser Untersuchung mit dem Abstand einiger Jahre als ein durchaus herausforderndes Unterfangen. Eine zweite Regel nach Kleining und Witt ist, dass das Thema der Forschung vorläufig ist und sich während des Forschungsprozesses ändern kann. Zwar war die Grundausrichtung der Untersuchung von Anbeginn an klar konturiert, aber es vollzogen sich einige Wechsel und Umschichtungen von nicht unerheblicher Bedeutung. Dabei gelang eine stetige Annäherung an die Hörphänomene. Friedrich und Gleiter sprechen in diesem Zusammenhang von „Erfüllung“ und „Enttäuschung“ des Wahrnehmens: „Hört man zum Beispiel das zunehmende Geräusch beginnenden Regens, das sich steigernde Rauschen fallender Tropfen, und merkt plötzlich, dass lediglich ein Windhauch die Blätter der Baumkronen in der Nähe stehender Pappeln in Bewegung gesetzt hat und dies Grund des Rauschens ist, spricht der Phänomenologe von Enttäuschung. Aus Regenfall ist Blätterrauschen geworden. Das zuerst Gehörte ist unwiderruflich verloren. Man kann es meist gar nicht glauben, vorher etwas anderes gehört zu haben. Aus Gehörtem ist Ungehörtes (Nichtvorhandenes) geworden. [...] So führt das Wechselspiel von Erfüllung und Enttäuschung zu einer stetigen Näherbestimmung des Gegenstands.“ 38 Die dritte Regel besagt, dass Daten unter dem Paradigma maximaler struktureller Variation (der Perspektiven) erhoben werden sollten. Natürlich unterliegt die Art der Variation der Themenstellung bzw. der gerichteten Bewegung des Forschens. Die Phänomene, mit denen ich mich auseinandersetzte, 38 Friedrich, Thomas/Gleiter, Jörg H. (2007): Einleitung. S. 25. In: Friedrich, Thomas/Gleiter, Jörg H. (Hrsg.) (2007): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst. Berlin: LIT Verlag. 25 halten sowohl thematisch als kulturell und geographisch ein hohes Maximum an möglicher Variation bereit. Aus praktischen Gründen musste die Arbeit natürlich begrenzt werden, um nicht zeitlich und thematisch auszuufern. Dies schlägt sich vor allen Dingen in der Auswahl der Beispiele nieder. Dabei dient die Erlebnisgesellschaft als eine Hintergrundfolie und werden vor dieser die herausgehobenen Inseln der außergewöhnlichen Erfahrung aus der Perspektive der lebensweltlichen Teilhabe beschrieben. Dabei zeigte sich auch, dass das von mir untersuchte Phänomen durchaus als mehrere ineinander verschränkte Phänomene wahrgenommen werden kann. In der Arbeit habe ich mich bemüht möglichst breit sowohl Klänge als auch Spiel-Räume und Erlebniswelten zu untersuchen. Diese Entscheidung zog auch nach sich, dass bestimmte Gegenstände eventuell über- und andere wiederum unterrepräsentiert sind. Zeitliche, finanzielle und geographische Gebundenheit ermöglichten mir folglich nur eine begrenzte Auswahl. Dennoch habe ich mich bemüht ein dem Titel angemessenes Panorama aufzuspannen, dass sich aber ebenfalls sehr stark an den mir zum Zeitpunkt der Untersuchung gegebenen Möglichkeiten und Erfahrungen abarbeitet. Die vierte und letzte Regel Kleinings und Witts betont, dass die Analyse auf die Entdeckung von Ähnlichkeiten ausgerichtet ist. Dies war auch mein implizites Ziel bei der Arbeit und erklärt das Zustandekommen der jeweiligen Kapitel. In den Vorüberlegungen zur Arbeit eröffneten sich mir gedankliche Bilder, poetische Annäherungen und Denk-Erlebnisse. Die Verquickung dieser und anderer Beispiele aufgrund von Ähnlichkeiten ist allerdings nicht immer plakativ und deutlich. Vieles ist auch einer geeigneten Darstellung und Aufarbeitung geschuldet, da sich die textuellen Anordnungen mitunter als Quadratur des Kreises erwiesen. Die Gliederung und Reihenfolge der Kapitel stellen somit keine Rang- oder Abfolge dar, sondern sind gleichsam aus dem Analyse-Teil abgehende Gedankenpfade. Die Leser und Leserinnen sind natürlich zur kritischen Lektüre aufgefordert, da die in dieser Arbeit verschriftlichten Annäherungen von einer Positionalität geformt sind, die durchaus blinde Flecke bzw. taube Winkel produzieren mag. Die Denk-Arbeit wurde von praktischen Methoden begleitet. Zur Unterstützung der Denkschritte und der Erinnerung habe ich mit einem Ton-Aufnahmegerät Aufzeichnungen der Klänge machen können, ebenso wie ich in Notizbüchern und Protokollen gedankliche Schritte festgehalten habe. Darüber hinaus war auch das Schreiben an der Arbeit selbst ein wesentlicher Teil des introspektiven Vorgehens. Im Schreiben offenbarten sich Brüche, Lücken 26 sowie spontane Schließungen und Öffnungen. Der Forschungsprozess war nicht linear, sondern dialektisch. Ich habe den Protokollen und Aufzeichnungen „Fragen“ gestellt und aus den möglichen „Antworten“ neue Fragen entwickelt.39 Aus protokollierten Erinnerungen entstand nach und nach ein in sich verzahnter Text, es ergaben sich Muster und Pfade. So zeigten sich in der Arbeit auch Spuren, die ich für eine Weile gesondert verfolgt habe. Diese habe ich als Exkurse gekennzeichnet. Sie eröffneten mir die Möglichkeit für eine Weile „abzubiegen“. Exkurse entstanden in der Arbeit oft aus Randnotizen und -bemerkungen.40 Konkrete introspektive Erfahrungen habe ich schließlich, wie in zwei Absätzen zuvor ersichtlich, wie Zitate behandelt und darüber hinaus gesondert gekennzeichnet. Sie verweisen auf die ursprünglichen Ausgangspunkte, auf die subjektiv-intentionalen Deskriptionen.41 Der konkrete Verweis ist insofern angebracht, als dass der Charakter einer induktiven Vorgehensweise erhalten bleiben soll, wiewohl sich die Konfrontationen mit raumphilosophischen, geographischen und soziologischen Theorien sowie die Abstimmung und das Nachvollziehen anderer Phänomenologien wie eine schablonierte Maske über die gemachten Erfahrungen legen. Die erwähnte Literatur ist auf eine unterstützende Art eklektisch. Die konkreten introspektiven Erfahrungen sind in der Ich-Form ausgedrückt, während der Text auf einer nächsten Ebene – sofern nicht direkt subjektive Denkschritte beschrieben werden – in der Wir-Form verfasst ist und Bestätigung in der Literatur sucht, findet oder diese in Frage stellt. Im folgenden Absatz möchte ich – als Verweis auf methodische Vorüberlegungen und Nachbereitungen – die Vorgehensweise mit einem musikalischen Remix vergleichen: 39 40 41 Vgl. Kleining, Witt (2000) An dieser Stelle auch der Hinweis, dass der Arbeitsprozess natürlich nicht auf das „nur“ Niedergeschriebene reduziert werden kann. Introspektion bedeutet auch, sich selbst stets zu begleiten. Manche dieser alltäglichen Erfahrungen finden sich in der Arbeit wieder. Sei es der Einkauf im Supermarkt, Joggen am Rhein, Lesen im Park, das Fernsehen oder das Radiohören im Auto. All diese Orte und ihre spezifischen Denk-Erlebnisse fügen sich ein, verklären sich, ergänzen, klammern aus. Vgl. Mayring (2002), S. 110 27 „Der Prozess kann sich als eine Art essayistischer Remix verstehen lassen: als Grundlage für die Arbeit legt sich zum einen der methodische Hintergrund als eine Art Impuls-gebender Beat, der Takt und Rhythmus vorgibt, unter die erlebten und erinnerten Erfahrungen, die wie eine Art Klangteppich der Melodie der Arbeit den Rückhalt geben. Im nächsten Schritt werden aus dem Klangteppich im Löschen, im Editieren, im Abmischen, im Vor- und Zurückspulen die Variationen, die das Wesen des eigentlichen Songs offen zeigen. Darauf folgen die eklektischen Samples, die dem Song Dichte und Relevanz geben und die Struktur mit Theorien, Ideen und anderen Phänomenologien konfrontieren.“ Der Interpretation und Synthese von Bedeutungseinheiten zu einer Gesamtaussage über das Phänomen ging die Diskrimination von Bedeutungseinheiten unabhängig von der Literatur voraus.42 Insbesondere das Gliedern der Untersuchung durch die dialektische Zusammenführung von Beispielen auf einer höheren Ebene ist eine Abstraktion, die nur aufgrund der theoretischen Sequenzierung möglich war.43 Der theoretisch-analytische Teil der Untersuchung ist somit Ausgangs- und Endpunkt der Untersuchung gewesen. Die Interpretation und Synthese der Bedeutungseinheiten wiederum fundiert folglich maßgeblich auf den theoretisch-analytischen Überlegungen, obschon sie ebenso auch Lücken und Brüche aufzeigt. Eine Phänomenologie beginnt irgendwo und endet irgendwo, weswegen die vorliegende Arbeit ein unvollständiger Ausschnitt ist, der aber eine analytische Sättigung erreicht. Die Untersuchung ist ein Ansatz und eine Hinwendung auf etwas. Ausgehend von hier kann weitere Forschung und Verdichtung angestrebt werden. Die Untersuchung endet mit Anwendungsbezügen, was als ein Etappenziel gelten kann. 42 43 28 Vgl. Mayring (2002), S. 110 Vgl. Mayring (2002), S. 109 3 Analysemodell Ansätze zum Verständnis von auditorischen Erlebnissen im Raum 3.1 Wie klingt das Leben? „Betrachte jedes Einzelne mit jeglichem Sinne genau, inwiefern es klar liegt, und halte nicht etwa den Blick in weiterem Umfang für vertrauenswürdig als dies im Vergleich zum Gehöre [zulässig ist], oder [schätze] das brausende Gehör höher als die deutlichen Wahrnehmungen des Gaumens, und stelle nicht etwa [um dieser willen] die Glaubwürdigkeit der übrigen Organe zurück, soweit es nur eben einen Pfad der Erkenntnis gibt, sondern erkenne jedes Einzelne nur soweit es klar liegt.“ Empedokles aus Agrigent, Fragmente, Über die Natur, 444 Wir versetzen uns zurück in eine flüssige, organische Welt, in der wir den Puls der Mutter hören, ebenso unseren eigenen Puls. Wir hören das Leben pulsieren, ein anderes Leben, das uns trägt. Der erste Rhythmus des Lebens. Ungeborenes Leben gilt als nicht taub gegenüber der äußeren Umgebung.45 Dies unterscheidet das Gehör bereits vom Beginn des Lebens an von anderen Sinneswahrnehmungen. Wir beginnen zu strukturieren. Wir gelangen in eine äußere Umgebung, die von Helligkeit, Kälte und Lautstärke geprägt ist. Wir schreien vor Orientierungslosigkeit und Verwirrung aufgrund der Klangüberflutung. Wir sind völlig überwältigt von den auditiven Ansprachen. Unser eigener Schrei erschreckt uns umso mehr. Doch wir schreien um alles zu übertönen. Unser 44 45 Zitiert nach https://www.zeno.org/Philosophie/M/Empedokles+aus+Agrigent/Fragmente/ Aus%3A+Über+die+Natur (Zugriff: 17. Februar 2014). Vgl. Fassbender, Christoph (1993): Hören vor der Geburt. S. 268–275. In: Bruhn, Herbert/ Oerter, Rolf/Rösing, Helmut (Hrsg.) (1997): Musikpsychologie – Ein Handbuch. 3. Auflage. Hamburg: Rowohlt. Ihde spricht hier von „embodied language“ – Ihde, Don (2006): Forty Years in the Wilderness. S. 267–290. In: Selinger, Evan (Hrsg.) (2006): Postphenomenology. A Critical Companion to Ihde. Albany: State University of New York Press. 29 erster Schrei ist unsere erste (soziale) Interaktion. Doch noch trennen wir nicht zwischen dem Selbst und der Welt. Mit dem Beginn der mütterlichen Zuwendung erfahren und erleben wir den Widerhall der Welt. Die Welt um uns herum klingt in uns fort. Wilhelm Josef Revers schreibt dazu: „Wir sagten [...], der Widerhall offenbare die Räumlichkeit der Welt. Der von der Melodie durchtönte Raum ist für die innere Resonanz des Erlebens beseelter Raum, der Inbegriff beseelter Anwesenheit.“46 Mit der Stimme der Mutter erfahren und erleben wir ihre Zuwendung, wie wir angesprochen werden und dieser Klang in uns fortschwingt. Wir strukturieren im Erleben, deuten das „Du“ durch die Reflexion des Ichs.47 Aufbauend auf diesem strukturellen Grundelement, der Definition unseres Da-Seins in der Welt, durchmessen wir mittels der Hörwahrnehmung den Raum. Wir setzen uns mit dem uns umgebenden Raum in Beziehung, wir erleben ihn, wir leben uns. Ein wesentliches Merkmal der Hörwelt ist das Rauschen.48 Ich möchte es durch ein poetisches Bild deutlich machen: Am Anfang der Welt war das Rauschen. Die Erde war wüst und leer. Durch das Rauschen schallte das Wort. Das Wort grenzte sich ab und verwies alles andere in den Bereich des Undefinierten. Wir können also auch sagen: Am Anfang stand die Definition. Das gesprochene Wort Gottes ist die Geschichte der ersten strukturschaffenden Maßnahme. Wir situieren uns permanent in Orientierungsstrukturen, indem wir, basierend auf unserer Hörwahrnehmung, die Welt unterteilen, unterscheiden, differenzieren, sortieren, ordnen, zuschreiben, filtern. Vieles, was wir hören, wird gedeutet und einem Platz zugewiesen. Wahrnehmen kann als Zuweisen von Aufmerksamkeit verstanden werden. Felder der Bedeutung bilden sich heraus. Wir hören Formen, Flächen und „interiors“.49 Gleichwohl bleibt ebenfalls immer ein rauschender Rest, den wir spüren 46 47 48 49 30 Revers, Wilhelm Josef (1970): Das Musikerlebnis. Eine Schrift der Herbert v. KarajanStiftung, Düsseldorf, Wien: ECON. S. 129 Revers (1970), S. 128f. Vgl. Winkler, Justin (2005): Klangraum als Lebenswelt. S. 53–63. In: Landau, Annette, Emmenegger, Claudia (Hrsg.) (2005): Musik und Raum. Dimensionen im Gespräch. Zürch: Chronos. Eine phänomenologische Einführung zum Begriff des Rauschens findet sich zudem in Guzzoni, Ute (2010): Nächtliche Geräusche. Raumerfahrungen in literarischen Bildern. S. 85f. In: Hasse, Jürgen/Kozljanic, Robert Josef (Hrsg.) (2010): Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum. V. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2010/2011. München: Albunea Verlag. Ihde (2007), S. 61ff. mögen und der uns affiziert, aber den wir nicht vor einem Bedeutungshorizont begreifen können. Als habe man etwas gehört, strengt man die Ohren an, legt den Kopf schief und versucht das Gehörte zu deuten. Aus diesem Rauschen, das wir spüren und hören, entschlüsseln wir Reize, die wir kennen. Wir lernen zuzuhören. Geräusche und Klänge, die wir anhand ihrer Quelle und ihrer Bedeutung definieren können, beteiligen uns räumlich. Sie lassen uns den Raum erleben. Wir handeln – neigen das Ohr, drehen den Kopf, um das Gehörte mit den Blicken zu ertasten. Wir strukturieren den Raum. Bei v. Hornbostel findet sich ein schöner Vergleich, der dies nachempfindet: „Wie sehr das Gehör am Aufbau unserer Außenwelt beteiligt ist, merken wir beim Wechsel der Umgebung: in der neuen Wohnung klingen die Zimmer, Türen, Klinken, Schubladen und Lichtschalter fremd, und dem akustisch Veranlagten bleiben diese Stimmen als wesentliche, persönliche Züge von Dingen und Situationen jahrelang im Gedächtnis.“50 Nach und nach lernen wir im Lauf des Lebens die Klänge in ihrer Bedeutung zu sortieren. Zwar sind wir noch betroffen von den Geräuschen, aber wir hören nicht mehr immer hin. Wir gewöhnen uns an den Klang des Lebens, unserer Lebenswelt. Wir lernen die Grundstrukturen kennen, handeln zweckgebunden danach, aber sie ergreifen uns nicht mehr. Erlernte Strukturen verlieren ihren „wunderbaren“ Charakter durch die Gewöhnung. 3.2 Konturen der Hör-Gegenstände Bevor ich aber ein Modell der Hörwahrnehmung entwickeln kann, ist es notwendig, die Gegenstände des Hörens terminologisch zu fassen. Im Titel habe ich den Begriff des Klangs fest verankert, der in einer technischen Definition als periodische Schwingung gekennzeichnet werden würde. Im Rahmen dieser Arbeit halte ich es aber für sinnvoll, den Begriff „Klang“ weiter zu fassen und ihn als „das, was klingt“, zu begreifen. Nicht die physikalische Schwingung erscheint mir phänomenologisch interessant, sondern das Erleben des Klingens, die in mir fort schwingt. Ich verstehe den Begriff „Klang“ in weitgehender Übereinstimmung mit dem englischen Begriff „sound“, obwohl es unterschiedliche Nuancen gibt. Der Anthropologe Tim Ingold begreift 50 Hornbostel, Erich Moritz von (1986): Tonart und Ethos. Aufsätze. Leipzig: Reclam. S. 317 31 „sound“ – analog zu meinem Verständnis von Klang als Erlebnis – als “phenomenon of experience – that is, of our immersion in, and commingling with, the world in which we find ourselves”.51 Bei meinen Überlegungen taucht auch immer wieder die Unterscheidung zwischen Lautereignis und Lautkomposition auf, wobei ich Laut nicht auf menschliche und tierische Laute begrenze, sondern gleichsetze mit Ton. Dabei schließe ich jegliche sich der Hörwahrnehmung bietenden Laute bzw. Töne ein, sowohl Geräusche, Stimmen als auch Signaltöne. Während Lautereignisse auf etwas hinweisen, hindeuten, erheben sich Lautkompositionen, je nach Dichte, über genau diese Eigenschaft hinaus. Doch nur Musik erreicht diese nahezu vollkommene Dichte. Musik ist die klangvollste Lautkomposition und ein emergentes Phänomen. Dies knüpft auch an die Erörterung der Begriffe bei Erwin Straus in seinem oft zitierten Essay über die „Formen des Räumlichen“52 an. Allerdings werden dort die begrifflichen Ebenen nicht ganz deutlich: „Die räumliche Daseinsweise des Schalls kommt erst in den Tönen der Musik zur reinen Ausprägung. Wir müssen daher [...] von dem Ton ausgehen und weiterhin zeigen, wie bei den Geräuschen, die noch die Gegenwart oder Nähe eines Dinges anzeigen, der reine räumliche Charakter des Klangs durch die Funktion des ‚Hinweisens auf etwas‘ verändert wird.“53 Dabei interessiert Straus zunächst der reine Fall, um das Wesen einer Erscheinung zu untersuchen, weswegen er den Begriff „Ton“ benutzt. Da mich im Rahmen der Arbeit der Ton an sich aber weniger interessiert als der Klang an sich, stellt sich das Problem einer fassbaren Definition bzw. umschreibenden Verdeutlichung wieder anders dar. Um dieses Problem pragmatisch zu lösen knüpfe ich deswegen nur partiell an Straus an, indem ich Klänge immer als Kompositionen verstehe, die je nach Dichte ihre Funktion des Hinweisens auf etwas einbüßen. Dies gilt folglich auch für das Stimmengewirr oder eine Geräuschkulisse, die uns in den Ohren „klingt“: „In dem Maße, als Geräusche verworren werden, als sie ihre auf bestimmte Gegenstände hinweisende Funktion einbüßen, in dem glei- 51 52 53 32 Ingold (2011), S. 137 Straus, Erwin (1960): Psychologie der menschlichen Welt – Gesammelte Schriften. Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer-Verlag. Straus (1960), S. 145 chen Maße nähern sie sich der phänomenalen Gegebenheitsweise der Töne der Musik.“54 Dabei ist aber nicht zu verwischen, dass Geräusche zwar eine sprachliche Nähe zum Rauschen haben, aus diesem in der Wahrnehmung allerdings herausgelöst sind. Ebenso können Klangkompositionen das Rauschen übertönen. Festzuhalten ist auch, dass je nach betrachtetem Aspekt die Definition von Klang variieren muss und nicht starr bleiben kann. Genau in diesem Sinne ist auch der einleitende Titelsatz „Wie klingt das Leben?“ zu verstehen. Eben die subjektive, qualitative (Be-)wertung und (Be-)deutung von Lautereignissen – die sich übrigens eher selten wirklich singulär zeigen – und Lautkompositionen ist ein wesentlicher Aspekt der Hörwahrnehmung. Nicht die Schallquelle als interagierendes Ding entscheidet darüber, was für uns klingt, sondern wir selbst. Für manche ist insbesondere moderne Musik lediglich Geräusch, für andere ist es Musik. Das Motorengeräusch eines luftgekühlten VW-Käfer-Motors ist für einen Geräusch, für den nächsten ein Wohl-Klang. Versuche, eine exakte Terminologie folglich auf eine intersubjektive Ebene zu hieven, scheitern, weswegen ein offener Umgang mit den Begriffen notwendig ist. Die Begriffe erfahren ihre Bedeutung somit auf einer kontextuellen, inhaltlichen Ebene. Dabei erscheint es mir als irrtümlich Lautereignisse und Lautkompositionen essentialistisch zu verstehen, sondern sie werden im Rahmen dieser Arbeit stets in ihrem Erlebnischarakter kontextualisiert. Dies betrifft vor allem den begrifflichen Umgang mit Musik. 3.3 Modell erlernter Strukturen Im Folgenden ist ein Modell der Hörwahrnehmung im Raum dargestellt, das die Strukturbildung als erlernten Prozess darstellt. Von den Grenzen unserer Wahrnehmung an entfaltet sich ein Hörraum, dessen Horizont durch Rauschen gekennzeichnet ist. Dadurch, dass wir in der Wahrnehmung dem Rauschen definierbare Geräusche abgewinnen, indem wir sie durch ihre Zuwendung zu uns als leibliche Kommunikation mit uns erfahren, beteiligen wir uns räumlich durch Interaktion. Primärerfahrung, gleich dem Erlebnis, weist Bedeutung zu. Durch Lernprozesse erkennen wir nach und nach auch die Bedeutungslosigkeit vieler Geräusche für uns, sodass diese bezüglich ihrer interagierenden Kraft für uns in einen Bereich der Betroffenheit „zurückfallen“. Wir 54 Straus (1960), S. 147 33 hören diese Geräusche zwar noch, begreifen sie aber nicht als bedeutsam, fühlen uns nicht als „angesprochen“. Wir filtern sie unterbewusst aus der „aktiven“ Hörwahrnehmung heraus, obgleich wir immer noch von ihnen betroffen sind. Abb. 1 Modell erlernter Strukturen – Aus dem Rauschen heraus löst sich ein gedeutetes Geräusch, das zu räumlicher Beteiligung führen könnte.55 Mit anderen Worten: Aus dem Rauschen lernen wir im Lauf unseres Lebens Geräusche herauszulösen, die wir zuordnen, deuten, bedeuten. Dieser Lernprozess strukturiert den uns umgebenden, leiblich erfahrenen Raum56 in Felder der Bedeutung bzw. reichert ihn mit sich anbietenden Bedeutsamkeiten an. Wir schenken den Dingen Bedeutung, die mit uns interagierend in Bezug zu treten scheinen. Räumlich beteiligt sind wir durch die Umsetzung leiblicher Kommunikationen, die uns betreffen, in (soziale) Interaktionen. 55 56 34 Eigene Darstellung. Dass es sich um den „leiblich erfahrenen Raum“ handelt und dass das Hören eine besondere Bedeutung für die Ausbildung von Orientierungsstrukturen hat, zeigt Hugues de Montalembert in der autobiographischen Geschichte seiner Erblindung auf, wenn er vom „Passiv-Sonar“ spricht: „Man empfängt die Wellen einer Wand oder eines Hindernisses und ist – falls man diese Gabe besitzt – besser in der Lage, Gefahren oder Hindernissen auszuweichen.“ – Montalembert, Hugues de (2011): Der Sinn des Lebens ist das Leben. Köln: DuMont Buchverlag. S. 52. Ihde schildert ein eigenes Experiment dazu und nutzt den Begriff „echolocate“: Ihde (2007), S. 194f. 3.4 Begriffsklärungen: leibliche Kommunikation, Einfühlung und Interaktion In der Leibphänomenologie Hermann Schmitz‘ hat das Verständnis von Wahrnehmung als leibliche Kommunikation eine zentrale Rolle. Dabei bilden ganzheitlich gegebene Situationen den Kern für Verhaltensreaktionen.57 Schmitz erklärt dies eindrücklich am Beispiel eines einen Unfall vermeidenden Lenkers eines Fahrzeugs im Straßenverkehr, dessen augenblickliches, blitzartiges Verhalten des Ausweichens, Umfahrens, Bremsens, Beschleunigens keinem Standardverhalten entspricht, welches sein Geschick durch die Registrierung und Auswertung einzelner Sinnesdaten erlangt. Schmitz schreibt: „Was er vor und um sich sieht, ist nicht eine Konstellation von Sinnesdaten, sondern die Gefahr. Dies enthält zwar allerlei durch die Frontscheibe und die Spiegel erblickte Dinge, aber dieses Sammelsurium wird in der Wahrnehmung ganzheitlich zusammengehalten von einem Hof der Bedeutsamkeit, der durch die relevanten Sachverhalte, die Probleme drohender Zerstörung beim Weiterfahren oder Ausweichen und die Programme möglicher Rettung gebildet wird. Dieser Hof ist im Innern diffus, in dem Sinn, daß von dem Mannigfaltigen, das darin steckt, unter Umständen gar nichts, jedenfalls nicht alles, einzeln hervortritt und doch, wenn der Fahrer der Lage gewachsen ist, das Ganze soweit richtig gesehen wird, daß die optischen Voraussetzungen für geschicktes Handeln in der Gefahr erüfllt sind. Dieses Handeln muß blitzartig ablaufen [...] Das ist ein Beispiel für Wahrnehmung als leibliche Kommunikation, und zwar vom Typ der Einleibung. [...] Wenn man sieht, daß sich eine wuchtige Masse – z. B. ein Auto, ein Stein, eine schlagbereite Faust – drohend nähert, springt man nach Möglichkeit geschickt zur Seite [...].“58 Das Ausweichen eines Schlages aufgrund optischer Wahrnehmung stellt leibliche Kommunikation als Einleibung dar. Im Hören hingegen unterscheidet Schmitz als Typen der leiblichen Kommunikation an Gestalten wahrgenommene Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere: „Wenn man die Masse – z. B. eine Bombe oder Granate im Krieg – bloß heranbrausen oder -zischen hört, kann man sich höchstens ducken oder klein machen“59. Rhythmen beispielsweise begreift Schmitz als Bewegungssuggestionen, die 57 58 59 Vgl. Hasse, Jürgen (2005): Fundsachen der Sinne. Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens. Freiburg, München: Karl Alber. S. 113ff. Schmitz (2009), S. 30f. Schmitz (2009), S. 33 35 unter Umständen auf den „hörenden Leib“ überspringen können.60 Die einleibenden Charakterzüge der Bewegungssuggestionen unterscheidet er – anhand massenpsychologischer Effekte des Klatschens usw. – in antagonistisch, das heißt konfrontative Bewegungen, und in solidarisch, d. h. gleichförmige Anpassungen der Bewegungen. Bei synästhetischen Charakteren werden Klangerfahrungen anhand von Ähnlichkeiten zu anderen leiblichen Erfahrungen gedeutet.61 Synästhetische Charaktere können sich folglich mit Bewegungssuggestionen verbinden, da „hoch klingende Töne für hohe Stimmungen und tief klingende Töne für gedrückte, also tiefe Stimmungen stehen können“62. Leibliche Kommunikation lässt sich pointiert zusammenfassen: Man spürt am eigenen Leibe eine Betroffenheit durch Einleibung oder in sozialen Zusammenhängen durch Einfühlung. Wir spüren am eigenen Leibe etwas, „was ihm nicht angehört“.63 In der Einleibung verbindet sich der eigene Leib in leiblicher Kommunikation mit einer anderen Sache und bildet eine übergreifende, flüchtige Ganzheit.64 In der „wechselseitigen Einleibung“ entfaltet Schmitz schließlich die leibliche Dynamik sozialer Interaktion. Ein weiteres Konzept, welches dieser Arbeit implizit zugrunde liegt und im Begriff der Interaktion mitunter angedeutet werden soll, ist die Idee der Beseelung von Formen als Einfühlung. Leiblichkeit und Wahrnehmung gehen dabei insofern zusammen, als dass es zu einer „gefühlsmäßigen Selbstversetzung der eigenen Leibform ins Objekt“65 kommen kann. Die Ideen seines Vaters Friedrich Theodor Vischers zur Ästhetik aufnehmend, hat Robert Vischer den Begriff der Einfühlung theoretisch ausgeleuchtet und weiter ausdifferenziert.66 Nach Vischer verschmelzen Subjekt und Objekt in 60 61 62 63 64 65 66 36 Schmitz (2009), S. 33 Schmitz (2009), S. 35 Hasse (2005), S. 115 Schmitz (2009), S. 37 Schmitz (2009), S. 43 Friedrich/Gleiter (2007), S. 10. Vischer, Robert (2007 [1927]): Über das optische Formgefühl. S. 37–70. In: Friedrich, Thomas/Gleiter, Jörg H. (Hrsg.) (2007): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst. Berlin: LIT Verlag. Vgl. als Sekundärliteratur auch Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hrsg.) (2009): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts. München: Wilhelm Fink; Büttner, Frank (2003): Das Paradigma „Einfühlung“ bei Robert Vischer, Heinrich Wölfflin und Wilhelm Worringer. Die problematische Karriere einer kunsttheoretischen Fragestellung. S. 82–93. In: Drude, Christian/Kohle, Hubertus (Hrsg.) (2003): 200 Jahre Kunstgeschichte in München. der gefühlsmäßigen Vorstellung des Objekts von innen nach außen.67 Vischer verbindet sein Konzept der Einfühlung dabei mit der Symboltheorie. Vom Leib her entfaltet sich ein Signifikationsprozess, bei dem Bedeutung „durch die Übertragung der eigenen Seelenstimmungen und Körpergefühle auf ein wahrgenommenes Objekt“68 entsteht.69 Die Einfühlungstheorie wurde von verschiedenen Autoren wie beispielsweise Lipps, Wölfflin, Worringer und Volkelt weiterentwickelt und kann auch heute noch aktuellen Phänomenologien des Raumes wertvolle Impulse liefern. Eine Verbindung zwischen den vor allem im Visuellen verankerten Einfühlungstheorien und (ästhetischen) Hörerfahrungen zieht Christian G. Allesch mit Verweis auf den Begriff der Resonanz bei Wilhelm J. Revers.70 „‚Resonanz‘ und ‚Widerhall‘ sind für uns also ‚Bilder‘ der Welt unserer Existenz, die sich als beseelter ‚Spiegel‘ oder ‚Reflektor‘ offenbart, in dem wir unseres eigenen beseelten Daseins innewerden können. Die Fähigkeit, die Welt als Welt des Tönens erleben zu können, ist nicht im physischen Aufbau des Gehörs begründet, sondern hat ihren Grund in unserer Natur als erlebende Subjekte. [...] Für dies exzentrische Lebewesen ‚Mensch‘ ist die ertönende Welt des Widerhalls der Reflektor, der sein Erleben ‚herauslockt‘ und zum Selbst-Erleben ‚verführt‘. Sie ist die Welt, in der wir uns wieder finden, wenn wir ‚aus uns herausgehen‘: der lebenserfüllte Reflektor unserer lebendigen Wirklichkeit.“71 Schmitz‘ Begriff der leiblichen Kommunikation, der Begriff der Einfühlung im Anschluss an Vischer und die Begriffe Resonanz und Widerhall bei Revers bieten eine ganzheitliche Fundierung der Phänomenologie der in dieser Arbeit beschriebenen Klangräume. Der Begriff der Interaktion erwies sich als 67 68 69 70 71 Positionen, Perspektiven, Polemik 1780–1980. Münchner Universitätsschriften des Instituts für Kunstgeschichte, Band 2. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag. Vischer (2007 [1927]), S. 50; vgl. Wagner, Kirsten (2009): Die Beseelung der Architektur. Empathie und architektonischer Raum. S. 57f. In: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hrsg.) (2009): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts. München: Wilhelm Fink. Wagner (2009), S. 59 Ein in der Literatur wiederkehrendes, plakatives Beispiel dafür ist die einfühlende Beobachtung eines Seiltänzers. Allesch, Christian G. (2008): Resonanz als Sinnbild ästhetischer Erfahrung. Vortrag im Rahmen des Braunschweiger Ästhetik-Kolloquiums „Resonanz“, 22. Mai 2008. URL: https://www.uni-salzburg.at/fileadmin/oracle_file_imports/1751270.pdf (letzter Zugriff 21. Februar 2014). Revers (1970), S. 70 37 zeitgemäß und anschlussfähig, um die Dimension des Handelns und Reagierens auf Klänge angemessen zu integrieren. Dieser Begriff beschreibt in den Sozialwissenschaften eine Wechselwirkung zwischen Handelnden.72 Die Einbettung des Begriffs in diese Arbeit stützt sich allerdings vielmehr auf die bloße Bedeutung des Begriffs. „Inter-“ umfasst dabei die Ebene des Sich-Verbindens von etwas, während „-aktion“ ein Synonym für „Tat“, „Handlung“ oder „Ereignis“ ist. In den Zusammenhängen der vorliegenden Arbeit beschreibt „Interaktion“ folglich die sich mit etwas verbindende Tat oder Handlung. Die mit uns interagierenden Klänge sind eben jene Klänge, die zur Handlung führen, also zu räumlicher Beteiligung. Interaktion ist gleichsam „Reaktion“, ein Reagieren auf etwas, das wir wahrnehmen und das in uns Widerhall findet. Ebenso ist es eine Form der Ansprache in der Unterscheidung zwischen Subjekt und Welt. Wenn ich als Passant hinter mir ein Klingeln höre, dann deute ich dieses Klingeln als interagierend, indem ich zur Seite trete, um zum Beispiel eine zu erwartende Fahrradfahrerin vorbeizulassen. Dabei lässt sich Interaktion nicht direkt auf Subjekt oder Objekt zurückführen, sondern ist eine Realität sui generis. Leiblichkeit und Wahrnehmung verschmelzen hierbei. Der Klang der Klingel ist von der Quelle abgelöst und trifft mein Bewusstsein, dringt in mich ein, findet Widerhall und kann Handlung induzieren. Interaktion umschreibt folglich eine Handlung, die sich in der Wahrnehmung mit einem Klang verbindet. Es ist eine handlungsorientierte Situationsdeutung, basierend auf der Wahrnehmung von etwas.73 Dabei geht Interaktion über die bloße Wahrnehmung hinaus und erklärt, wie sich diese in räumliche Beteiligung umsetzt. Ebenso ist Interaktion mehr als Kommunikation im Sinne von „Mitteilen“, aber ähnlich einem Verständnis von „communicare“ als „teilnehmen lassen“. Im Rah- 72 73 38 Eine fundierte theoretische Einführung findet sich bei Wilson, Thomas P. (1981): Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung. S. 54–79. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.) (1981): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 5. Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag. An dieser Stelle möchte ich mich aber deutlich von den behavioristischen Reiz-ReaktionModellen abgrenzen. Wenn ich in der vorliegenden Arbeit von „Handlungen“ und „Interaktionen“ spreche, so geschieht dies allein zur Unterscheidung zwischen einem „Hören“ und einem „Hinhören“. Dieses „Hinhören“ bewegt uns und führt durch diese Ergriffenheit zu einer Handlung. Die nachfolgenden Ausführungen über die Strukturierung des Raumes wollen nicht die „Handlung“ oder „Interaktion“ an sich in den Vordergrund stellen. men dieser Arbeit betont Interaktion also den Unterschied zwischen Hören und Hören, das in räumliche Beteiligung versetzt.74 3.5 Strukturgeleitete Handlung Die Strukturierung des Raumes durch das Erleben ergibt sozusagen mentale Heuristiken der Hörwahrnehmung. Wir lernen nur auf das zu hören, was uns zweckgebunden für eine Handlung erscheint, was mit uns interagiert und uns bewegt. Diesen Prozess der Strukturierung kann man in die beiden Aspekte der Bedeutung und der Störung unterteilen. Wir schätzen die Bedeutung des Geräusches ein und/oder den Störungsgrad eines Geräusch. Dabei helfen zum Beispiel Distanz75, Lautstärke und Klangfarbe. Aus diesem (Be-)deuten ergeben sich Erfahrungswerte. Durch die Wertkategorien „Bedeutung“ und „Störung“ strukturieren wir den uns umgebenden Raum und handeln strukturgeleitet. Diese Gebundenheit an bereits erlernte, gewöhnte Strukturen vermeidet die ständige Neuverhandlung von Strukturen im Erleben. Strukturierung bedeutet, wie bereits kurz erwähnt, die Zerteilung des sich von den Grenzen der Wahrnehmung aus eröffnenden Raumes in Felder der Bedeutung und der Bedeutungslosigkeit. Dabei bildet sich ein Bedeutungsgefälle heraus mit spezifischen Schwellenwerten, die die Zustände von Betroffenheit und Beteiligung gegeneinander abgrenzen. Helga de la Motte-Haber argumentiert ähnlich, wenngleich sie das Rauschen – also den „letzten“ Bereich „vor“ den Grenzen der Wahrnehmung – ausklammert: „Die beim Hören vermittelte Raumerfahrung hat jedoch den Vorzug, daß wir mit den Ohren um die Ecke ‚sehen‘ können. Der durch den Gehörsinn erschlossene Umgebungsraum ist zugleich ein Nahraum.“76 Bedeuten und Deuten lässt sich anhand eines (gestaltpsychologischen) FigurGrund-Ansatzes erläutern. Wir können fokale Phänomene aus dem Rauschen 74 75 76 Dies steht in gewisser Analogie oder zumindest in Anerkennung zu Vischers Unterscheidung von „sehen“ und „schauen“ – Vischer (2007 [1927]), S. 40f. Revers schreibt: „Das Ohr gehört zu den Fernsinnen, ist Hören Wahrnehmen auf Distanz.“ – Revers (1970), S. 75; vgl. auch Motte-Haber, Helga de la (2005): Musikalische Räume. S. 135–143. In: Landau, Annette, Emmenegger, Claudia (Hrsg.) (2005): Musik und Raum. Dimensionen im Gespräch. Zürch: Chronos. Motte-Haber, Helga de la (2000): Raum-Zeit als musikalische Dimension. S. 33. In: Böhme, Tatjana/Mehner, Klaus (Hrsg.) (2000): Zeit und Raum in Musik und bildender Kunst. Köln: Böhlau. 39 herauslösen, sodass andere Phänomene in den Hintergrund treten. Der Philosoph Don Ihde erklärt dies wie folgt: “[...] this attention is keyed into personal-social structures of daily life in such a way that there are habitual and constant patterns of appearance to those things that normally remain fringe phenomena and those that may be focal.”77 Aber die Selektion der fokalen Phänomene basiert auf ihrer interagierenden Bedeutung. Allerdings erscheint mir der aus der Gestaltpsychologie stammende Figur-Grund-Ansatz für die Strukturierung des Raumes zu zweidimensional. Eine Strukturierung des Raumes durch (Be-)deutung der Interaktion gewinnt erst durch die räumliche Beteiligung an „Tiefe“. Dies ermöglicht dann auch den Plural von Feldern der Bedeutung, die zwar in sich, wie durch den Figur-Grund-Ansatz erklärt, erschlossen und be- bzw. gedeutet werden, die aber durch ihre interagierende Kraft eine Strukturierung des Raumes anhand eines Bedeutungsgefälles zulassen. Somit ermöglichen bzw. bedingen sie räumliche Beteiligung. Wenn sich eine solche Strukturierung nicht ergibt, geraten wir in Orientierungslosigkeit. Taube Menschen sind sich wohl bewusst, dass die Welt zu hören wäre, und kompensieren dies mit anderen Sinneswahrnehmungen, die ihnen eine Strukturierung der Welt erlauben;78 manch psychisch-kranker Mensch leidet darunter, dass er zwar hört, aber mitunter die Bedeutung der Zuwendungen der Welt nicht erfassen kann und somit wenig (oder andere) Strukturen herausbildet. In vielen Fällen können sie nur schwach zwischen sich und einer äußeren Welt unterscheiden.79 3.6 Strukturbildung im Erlebnis und Lusterlebnis Um sich dem Phänomen eines Hörerlebnisses zu nähern ist es wichtig wieder am Ursprung anzusetzen. Vor jeglicher Struktur steht die Erfahrung des Fremden. Revers schreibt dazu: „Erleben ist kein Zustand, sondern ein Prozeß, ein zeitlicher Vorgang, die Bewegung des Subjekts in der Zeit. Diese Bewegung richtet sich 77 78 79 40 Ihde (2007), S. 74f. Angemerkt sei hier, dass „kein Hörender [...] seine Muttersprache über die Schrift [lernt]; das kann auch keine gehörlose Person“ (Dotter 2003, S. 40). Vgl. Lowenthal, David (1961): Geography, Experience, and Imagination: Towards a Geographical Epistemology. In: Annals of the American Geographers, Vol. 51, Nr. 3. S. 241–260. auf etwas. Das erlebende Subjekt ‚bewegt sich selbst‘ im Erleben auf etwas hin, auf etwas, was nicht es selbst ist, was anders ist als es selbst.“80 Diese Erfahrung der Aneignung von Erkenntnis über Unvertrautes ist die ursächliche Herausbildung von Struktur. Durch die Lernprozesse oder die Gewöhnung geht dies verloren. Wir verlernen das Staunen über die Wunder. Wer alles zu Hörende hört, hört nichts mehr. Revers bringt es wie folgt auf den Punkt: „Das, womit wir alltäglich umgehen und was uns vertraut und zugehörig ist, das, an was wir uns gewöhnt haben, kann uns nicht verwundern. Wenn wir dagegen in unserer Welt Phänomenen begegnen, die wir nicht kennen und die uns unvertraut sind, so können sie unser Staunen erregen. Nur das Ungewohnte und Ungewöhnliche kann uns staunen machen.“81 In diesem Zusammenhang möchte ich kurz vorgreifen und den Begriff der Lebenswelt bezüglich Fremdheitserfahrungen einführen. Die Lebenswelt umfasst dabei alles, was uns in irgendeiner Art und Weise begegnet. „Fremde Lebenswelten treten synchron auf mit der eigenen Lebenswelt, so etwa die Musikwelt Afrikas und Indiens, oder sie sind diachron gegenüber der eigenen Lebenswelt verschoben, so etwa das Mittelalter mit seiner eigentümlichen Kirchen- und Hofmusik. Die eigene Lebenswelt verweist also auf eine geographische und historische Vielfalt fremder Lebenswelten, die sich mit der eigenen vielfach überschneiden, wobei eigene und fremde Elemente einander befruchten und herausfordern.“82 Die subjektive Lebenswelt ist eingebunden „in ein Geflecht interkultureller Lebenswelten“ und verweist gleichzeitig auf diese. Wenn ich im Fortgang von einem Lust-Erlebnis spreche, so meine ich eine Erlebnisorientierung unter Voraussetzung einer bereits gegebenen Struktur. 80 81 82 Revers (1970), S. 23. Hierbei greift Revers auf Wilhelm Stapel (1882–1954) zurück. Der Protestant Stapel – der Hinweis erscheint an dieser Stelle erwähnenswert – war ein Nationalist und Antisemit. Dies gilt es bei der Lektüre seiner Schriften im Hinterkopf zu behalten. Revers (1970), S. 39 Waldenfels, Bernhard (2001): Lebenswelt als Hörwelt. S. 19. In: Ehrenforth, Karl Heinrich (Hrsg.) (2001): Musik – unsere Welt als andere. Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch. Würzburg: Königshausen & Neumann; Vgl. auch Waldenfels, Bernhard (2008): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 41 Dies bedeutet, dass wir uns gezielt an Orte (bzw. Erlebniswelten) bewegen, die die Faszination eines Erlebnisses versprechen, und sei es durch inszenierte Illusion. Es sind folglich Erlebnisse um ihrer selbst willen: Lust-Erlebnisse. Somit setzt sich der Prozess der Strukturbildung im Erlebnis in Bewegung. Die Struktur folgt dem Erlebnishandeln. Erleben schafft schließlich Struktur. Dabei ist Erleben eine innere Orientierung, die sich dann in der Struktur nach außen kehrt. Die Verbindung von Innen und Außen stellt die permanente Interaktion in den Vordergrund und erhebt Gefühle zur richtgültigen Wertkategorie für eine Strukturierung; einer Art des gefühlvollen Vermessens. Das bedeutet auch, dass wir uns im Erleben öffnen, dass die Welt in uns einbricht und wir davon erfüllt werden. In unserem Enthusiasmus, in der Begeisterung, hallt das Echo der Welt in uns wieder.83 Man könnte auch sagen, dass wir gestimmt werden, dass wir in Überein-Stimmung mit der klanglichen Welt sind. Ein Indiz dafür, dass sich bei den Lust-Erlebnissen, um die es sich im folgenden handelt, nicht um Primärerfahrungen im Sinne der Erfahrung der Strukturierung des Hörraumes unseres Dasein handelt, sondern um ein erlebnisgesellschaftliches Phänomen unserer Zeit, ist der Aspekt der A-priori-Strukturen. Diese geben Hinweis darauf, dass Erlebnisse, bei denen es sich nicht um eine strukturierende Alltagserfahrung handelt, eine Zweckfreiheit beinhalten.84 3.7 Räume der Hörwahrnehmung Somit ergeben sich zwei Typen von Räumen der Hörwahrnehmung. Zum einen sind dies Räume, die einer zweckgebundenen Strukturierung unterliegen. Räume, in denen Laut-Ereignisse wichtiger sind als Lautkompositionen. Diese Räume können wir im weitesten Sinn als Räume des Alltags verstehen, obgleich der Alltag heutzutage mehr und mehr vom zweiten Raumtyp penetriert wird. Dieser zweite Typ ist gekennzeichnet durch die (Illusion der) permanente(n) Interaktion und durch das leibliche Spüren der Welt als in den Raum ergossene Gefühle. Um das Wechselspiel zwischen äußerem Einfluss und innerer Wertung zu fassen, nennen wir diese Räume Spiel-Räume der 83 84 42 „With the experience of echo, auditory space is opened up.“ – Ihde (2007), S. 69 Allerdings lassen sich auch vermehrt Erlebnisangebote beobachten, in denen Lust durch die Absage an A-priori-Strukturen generiert werden soll. Katastrophen- und Kriegstourismus treiben dies ebenso auf die Spitze wie gefährliche Extremsportarten. Erlebniswelt. In diesen Spiel-Räumen sind Klangkompositionen entscheidender als Lautereignisse, da sie ein Gefühl der Dichte und Permanenz erzeugen. Anders gesagt: Ein Erlebnis kann zu einem einzigen Feld der Bedeutung werden. Diese Spiel-Räume sind Räume des Erlebens, der Interaktion, es sind fremde Räume, in denen wir zu uns selbst finden wollen und Zerstreuung vom Gewöhnlichen suchen. Dabei stellt sich die Frage, wie wir diese Räume fassen und beschreiben können. Dies kann im Rahmen des Kontextes auf drei Ebenen geklärt werden. Zunächst erscheint es notwendig sich generelle Gedanken über den Raumcharakter des Schalls zu machen, bevor wir auf die Qualität von Räumen für die leibliche Befindlichkeit zu sprechen kommen. Schließlich sind die Spiel-Räume aber auch soziale Räume, die sich aufgrund ihrer jeweiligen A-priori-Strukturen von anderen Räumen abgrenzen. Zum Raumcharakter des Schalls findet sich eine interessante Betrachtung bei Erwin Straus. Er weist daraufhin, dass der Klang nicht wie die Farbe dem Gegenstand anhaftet, sondern sich von diesem ablöst. Durch diese phänomenale Gegebenheit des Klangs erscheint uns dieser immer als Tun: „Der Klang wird darum als Wirkung eines Tuns erlebt, weil es zum Wesen des Klangs gehört, daß er sich von der Schallquelle ablöst.“85 Somit wird klar, dass die Farbe eines Gegenstandes uns als Eigenschaft erscheint. Zumeist deuten wir den Schall als Interaktion bzw. als tätigende Wirkung eines Tuns, die klanglich in unserem Leib resoniert.86 Das Schwein ist rosafarben und es quiekt.87 In der Ablösung des Schalls von der Quelle kommt dieser auf uns zu und durchdringt uns. Straus drückt es als eine „Homogenisierung“88 des Raumes aus. Der Schall ist nicht auf eine einzelne Raumstelle zu lokalisieren. Hasse bringt das Beispiel eines Bachs: „das Geräusch ist eher in der Umgebung des Baches als an einer bestimmtes [sic!] Stelle ‚im‘ Bach.“89 Durch die Loslösung von Quelle und durch den Effekt der räumlichen Homogenisierung kann der Schall zu einem reinen Eigendasein gelangen, das aller- 85 86 87 88 89 Straus (1960), S. 147 Hasse (2005), S. 117ff. Vgl. Waldenfels (2001), S. 26f. Straus (1960), S. 146 Hasse (2005), S. 117 43 dings nur in der Musik seine Vollendung finden kann, wie bereits weiter oben ausgeführt. Ein weiterer Aspekt bei Straus ist die Unterscheidung zwischen der gnostischen und pathischen Wahrnehmung.90 Dies sind Momente, die ein Gesamterlebnis ausmachen. Straus unterscheidet wie folgt: „Das gnostische Moment hebt nur das Was des gegenständlich Gegebenen, das pathische das Wie des Gegebenseins hervor.“91 Er beschreibt das pathische Moment als Bestandteil des ursprünglichsten Erlebens – also auch auf Lust-Erlebnisse anwendbar –, das noch vor begrifflicher Kommunikation (folglich auch Interaktion) ist, die wir mit den Erscheinungen haben. Das pathische Moment umschreibt das Ergriffensein, die (leibliche) Anmutung in der Wahrnehmung von Gegenständen. Um für Hörerlebnisse die Wechselbeziehung zwischen dem gnostischen und pathischen Moment zu erläutern, greift er auf das Phänomen des Tanzens zurück. Der Tanz erscheint zunächst als zweckfrei, lässt Musik aber räumlich erscheinen. Der durch die Musik dargebotene Rhythmus initiiert Formen der Bewegung; das Akustische wird durch Optisches kontrastiert.92 Dabei wird auch deutlich, wie diffizil eine isolierte Betrachtung des Klangraumes ist. Bollnow formuliert dies im Anschluss an eine Betrachtung über Straus‘ „Formen des Räumlichen“ deutlich, wenn er schreibt: „[...] daß diese Eigenschaft nicht im Wesen eines Sinnesbereiches als solchen begründet ist, sondern tiefer im Wesen des Raumes allgemein verwurzelt ist [...]“93 Aufbauend auf seinen Überlegungen zum gnostischen und pathischen Moment entwickelt Straus den Begriff des „präsentischen Raumes“: „Alles Hören ist präsentisch. [...] Im Klange haben wir Geschehen präsentisch, in der Farbe erfassen wir distantes Sein.“94 90 91 92 93 94 44 Straus (1960), S. 150ff. Straus (1960), S. 151 Straus (1960), S. 154 Bollnow, Otto Friedrich (2004): Mensch und Raum. 10. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. S. 248. Straus (1960), S. 156 Schönhammer95 zitiert in diesem Zusammenhang ähnliche Positionen von Rousseau („Töne verflüchtigen sich“) sowie Binswanger („Gegenwärtigung der Raschheit“). Auch bei Simmel findet sich eine ähnliche Aussage: „Was wir hören, ist sein Momentanes, ist der Fluß seines Wesens.“96 Ebenso wie Straus kontrastiert auch Simmel das Hören mit dem Sehen. Er markiert dies anhand von soziologischen Überlegungen zwischenmenschlichen Kontaktes, bei denen das Sehen auch das Dauernde einer Person offenlegt, das Hören aber nur das Unveränderliche. Straus weist auch auf die sprachliche Verwandtschaft zwischen „hören“ und „gehören“, „hören“ und „hörig“, „horchen“ und „gehorchen“ hin. Es besteht – wie im Rahmen dieser Untersuchung ausgearbeitet – ein enger Zusammenhang zwischen Zuhören und sozialer Zugehörigkeit. Dem Gehörten können wir nicht entrinnen, und wir können es erst abwehren, wenn wir schon ergriffen sind. Über das Hören dringt die Welt permanent in uns ein. Und wenn Klangräume präsentisch sind, wie viel mehr unterliegen dann klangliche Spiel-Räume der Erlebniswelt dieser Eigenschaft. Das Zuhören versetzt uns in eine Zugehörigkeit. Ihde spricht in diesem Zusammenhang von der invasiven Gegenwart der Klänge.97 In ähnlicher Weise argumentiert Simmel weiter, wenn er das Ohr als das „egoistische Organ“ bezeichnet, das nur nimmt und nicht gibt, sondern nur vermittels mit Mund und Sprache geben kann. Simmel weiter: „[...] dem formalen Egoismus des Ohres [steht] sein eigentümliches Verhältnis zu den Gegenständen des Privatbesitzes gegenüber. Im allgemeinen kann man nur das Sichtbare ‚besitzen‘, während das nur Hörbare mit dem Moment seiner Gegenwart auch schon vergangen ist. Es ist eine wunderliche Ausnahme, wenn im 17. und 18. Jahrhundert die großen Familien Musikstücke zu besitzen strebten, die nur für sie geschrieben waren und die nicht publiziert werden durften. [...] Für unser Gefühl liegt hierin etwas Perverses, weil das Hören seinem Wesen nach überindividualistisch ist: was in einem Raume vorgeht, müssen eben alle hören, die in ihm sind, und daß der Eine es aufnimmt, nimmt es dem Andern nicht fort.“98 95 96 97 98 Schönhammer, Rainer (1988): Der „Walkman“ – Eine phänomenologische Untersuchung. München: P. Kirchheim. S. 20 Simmel, Georg (1992): Soziologie. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 729 Ihde (2007), S. 81 Simmel (1992), S. 730 45 Don Ihde argumentiert in seiner Phänomenologie des Klangs99 ähnlich wie Straus, obzwar er Klang und Raum nicht direkt zu verbinden vermag. Ihde geht von einem auditorischen Feld oder Hör-Feld aus, das sich als Öffnung zur Welt erweist. Die Dinge an sich erscheinen niemals allein, sondern immer innerhalb eines Feldes. Sie sind begrenzt und gebunden durch einen Kontext.100 Dieser Skizzierung eines Feldes stellt Ihde im zweiten Schritt einen Figur-Grund-Ansatz zur Seite, wie bereits weiter oben schon ausgeführt.101 Die räumliche Modellierung des Hör-Feldes gelingt Ihde aber nur bedingt: “Were it to be modeled spatially, the auditory field would have to be conceived of as a ‘sphere’ within which I am positioned, but whose ‚extent‘ remains indefinite as it reaches outward toward a horizon. But in any case as a field, the auditory field-shape is that of a surrounding shape.”102 Als die zwei Dimensionen des räumlichen Feldes führt Ihde die Ko-Präsenz von „surroundability“ (Umgebungshören) und „directionality“ (Richtungshören)103 an. Diese Bi-Dimensionalität ist aber auch variabel, wie Ihde betont, wenn auch er das Musikerlebnis als Beispiel bringt: “[...] when listening to the orchestra and in the highest moments of musical ecstasy, I can [...] by an act of will also raise the question of directionality; and while I continue to be immersed in the sound, there also emerges a stronger sense of direction.”104 Somit leistet Ihde auch einen wesentlichen Beitrag die Klänge des Lebens zu charakterisieren ebenso wie ihre Bedeutung zur Strukturierung des Raumes. Man könnte sagen, dass die Erfahrung von „directionality“ (Richtungshören) eine Art der Strukturierung des Raumes ist. Die mögliche Charakterisierung (durch Strukturierung des Raumes) der Klänge (in den Spiel-Räumen) deutet Ihde schließlich an: “[...] the hunter intent on bagging his game misses the musical sonority of the birdsong, not because it isn‘t there, but because it is the direction and location of his prey which motivates him. So, too, with 99 100 101 102 103 104 46 Ihde (2007), Kapitel 6 „The Auditory Field“, S. 73–83 Ihde (2007), S. 73 Ihde (2007), S. 74ff. Ihde (2007), S. 76 Ihde (2007), S. 77 Ihde (2007), S. 77f. most daily concerns, directionality is that which stands out and is sufficient for ordinary affairs.”105 Auch wenn Ihde von einem Feld statt von Raum spricht (obschon er „direction“ und „location“ erwähnt), kommt er dann auch zu dem Schluss, dass Lernprozesse, also die Gewöhnung, eine gewichtige Rolle spielen: “I may even become habituated to loud sounds to the point that they do not count for the same disturbing invasions of myself which they at first show. The factory worker learns to tune out the machinery. And the youth-cultist seems even to thrive in the presence of noise.”106 Dabei verliert sich bei Ihde allerdings wieder sein Argument der „directionality“ (Richtungshören). Eine Fortführung dieses Gedankens zeigt nämlich auf, dass genau diese Gewöhnung, von der Ihde spricht, eine Strukturierung des Raumes ist, durch (Be-)deutung des Geräuschs und die Lokalisierung dessen im Raum durch unter anderem eben die Richtung. In der Anerkennung von Klängen nun, die eine ähnliche Wirkungsweise wie Musik haben, führt Ihde den Begriff der „auditory aura“ (auditorische Aura)107 ein. Dies erläutert er am Beispiel einer Gesprächsrunde, in der wir uns sowohl fokussiert unterhalten als auch von den Geräuschen anderer eingenommen und umgeben sind. Dies wirft folglich die Frage nach der räumlichen Qualität von Klängen und weniger nach dem Raumcharakter des Schalls auf. Die Klangraumforscher Augoyard und Torgue zitieren in der Beschreibung des von E. Cherry benannten „Cocktailparty-Effekts“, also des selektiven Fokussierens von Klängen, den Akustikforscher Georges Canévet: “From the physical point of view, one of the predominant elements in the cocktail effect is the spatial separation of noise and speech. In consequence, we know that, on the psycho-physiological level, selective listening is governed by our capacity to discriminate sounds from different sources – that is, by our capacity to localize in the noise.”108 Bevor ich allerdings zur räumlichen Qualität kommen kann und damit zu einer Annäherung an den Begriff „Raum“ überhaupt, ist es notwendig einen 105 106 107 108 Ihde (2007), S. 79 Ihde (2007), S. 82 Ihde (2007), S. 79; Ihde schlägt ebenso den Ausdruck „auditory halo“ vor. Canévet (1989), S. 107 zit. in Augoyard, Jean-François/Torgue, Henry (2005): Sonic Experience – A Guide to Everyday Sounds. Montreal, Kingston, London, Ithaca: McGillQueen‘s University Press. S. 28 47 weiteren Begriff einzuführen: den Leib. Im Gegensatz zu „Körper“, das mit dem Blick des Anatomen gesehene uns Fremde, beschreibt „Leib“ unsere subjektiv erfahrene Natur.109 Daran anknüpfend möchte ich auch noch den Bogen vom Husserl‘schen Begriff der „Lebenswelt“110 hin zur „Erlebniswelt“ schlagen.111 Hitzler begreift „Lebenswelt“ „[...]als der allen Deutungen vorausliegenden Welt, wie sie dem Bewusstsein des erlebenden Subjekts gegeben und vorgegeben ist. Die Lebenswelt ist also ein egologisches Gebilde.“112 Diese Lebenswelt ist folglich individuell verschieden. Lebenswelten teilen aber Grundstrukturen miteinander. Der Klanggeograph Justin Winkler definiert darüber hinaus den Begriff der „klanglichen Lebenswelt“ wie folgt: „Klangliche Lebenswelt kann verstanden werden als der klangliche Aspekt der alltäglichen Erscheinung unserer Welt.“113 Dabei isoliert er auf künstliche Weise das Klangliche von der „übrigen“ Wahrnehmung, was er mit der beruhigenden Möglichkeit des Unterlaufens der Dominanz des Visuellen für die Erkenntnisgewinnung begründet. Hitzler löst nun aus diesen Lebenswelten „außergewöhnliche Bewusstseinsenklaven“114 heraus, die intersubjektiv angesprochen werden, obschon sie nur subjektiv erlebt werden können. Als Beispiele führt Hitzler folgende an: 109 Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 14 110 Husserl hat diesen Begriff in seinem Spätwerk in Zusammenhang mit der Krisis der neuzeitlichen Wissenschaften erwähnt. Er warf diesen Wissenschaften „Lebensweltvergessenheit“ vor. Für ihn zeigt sich die Bedeutung der Lebenswelt wie folgt: „Das wirklich Erste ist die ‚bloß subjektiv-relative‘ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens... Die Wissenschaften bauen auf der Selbstverständlichkeit der Lebenswelt.“ Husserl (1976), S. 280f. zit. in Ehrenforth, Karl Heinrich (2001): Lebenswelt – das „wirklich Erste“. S. 33. In: Ehrenforth, Karl Heinrich (Hrsg.) (2001): Musik – unsere Welt als andere. Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch. Würzburg: Königshausen & Neumann. 111 Bernhard Waldenfels (2001, S. 24ff.) entwickelt ebenso noch den Begriff der „Hörwelt“ in Zusammenhang mit der Lebenswelt. Er fokussiert sich dabei aber sehr stark auf „Musikwelt“ als Teilbereich der „Hörwelt“. Der Begriff „Erlebniswelt“ ist umfassender und dementsprechend für diese Arbeit zumindest besser geeignet. Dies gilt folglich auch für ähnliche Begriffe wie Alfred Schütz‘ „Alltagswelt“ oder „soziale Umwelt“. 112 Hitzler, Ronald (2008): Von der Lebenswelt zu den Erlebniswelten. Ein phänomenologischer Weg in soziologische Gegenwartsfragen. S. 131–140. In: Raab, Jürgen (et al.) (Hrsg.) (2008): Phänomenologie und Soziologie – Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 113 Winkler (2005), S. 54 48 „Insbesondere in Gesellschaften wie der unseren stehen kulturell aber auch mannigfaltige ‚Vehikel‘ zum Konsum bereit, die dezidiert dazu dienen, uns in außergewöhnliche Bewusstseinsenklaven, in Erlebniswelten zu befördern: z. B. legalisierte und nicht-legalisierte Drogen; z. B. technische Medien wie Bücher, Radio, Fernsehen, Filme, Internet usw.; aber eben auch soziale Veranstaltungen wie Online-Games, Kinos, Spielhallen, Nachtclubs, Gottesdienste, Kunstausstellungen, Sportwettkämpfe, Modeschauen, Volksfeste und dergleichen mehr.“115 Somit kann ich auch zu einem Verständnis des Begriffes der „klanglichen Erlebniswelt“ kommen. Um im folgenden die Begriffe noch klarer zu fassen, möchte ich von „Erlebniswelt“ sprechen, wenn ich die leiblich-psychische Erfahrung meine, und von „Erlebniswelten“, wenn es um konkrete Orte geht, die außergewöhnliche Erlebnisse versprechen, also Spiel-Räume der Erlebniswelt. In Abgrenzung zum euklidischen, zum geometrisch zu vermessenden Raum möchte ich mich einem Verständnis des Raumes als einen leiblichen Raum anschließen. Dieser Raum eröffnet sich uns, er hat auf den Leib bezogene Richtungen, die wiederum von Attraktionen und Schwerpunkten der Aufmerksamkeit gesteuert werden.116 Der leibliche Raum kann durch unsere Befindlichkeiten charakterisiert werden, strukturiert im Hören durch (Be-) deutungen. Die leibliche Spürbarkeit des Schalls im Raum ermöglicht dies. Dieses (Be-)deuten hängt unmittelbar mit Handeln zusammen, weswegen ich mich nicht scheue den leiblichen Raum im Zuge dieser Arbeit auch, zumindest sekundär betrachtet, als einen Handlungsraum117 zu verstehen. Wenn ich von räumlicher Beteiligung spreche, dann geht dieser auch eine Art der „Vermessung“ voraus, die sich aber nicht geometrisch ausdrücken lässt, sondern nur in Maßen leiblicher Befindlichkeit. Man könnte auch von einer räumlichleiblichen Beteiligung sprechen. 114 Hitzler, Ronald (2000): „Ein bisschen Spaß muß sein!“ – Zur Konstruktion kultureller Erlebniswelten. S. 401–412. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 115 Hitzler (2000), S. 135 116 Böhme (2006), S. 16 117 Handlungsraum im Sinne von Spielraum des Handelns; dieses Verständnis lehnt sich aber nur sehr schwach an den Begriff des „Handlungsraums“ als Raum einer zweckmäßigen Tätigkeit an. Vgl. Bollnow (2004), S. 202ff. 49 Um nun aber die vermittelnde Qualität zwischen leiblicher Befindlichkeit und konkret-materiellem Ort zu beschreiben, möchte ich eine Perspektive einnehmen, die sowohl leiblich erfahren als auch räumlich beschrieben werden kann: gestimmte Räume bzw. Atmosphären. Bollnow weist darauf hin, dass die Gestimmtheit eines Raumes ein Wesenszug ist, der stärker oder schwächer ausgeprägt ist, also in der Dichte variiert. Im Rückgriff auf Heidegger schreibt Bollnow über die Stimmung: „Die Stimmung ist selber nichts Subjektives ‚im‘ Menschen und nichts Objektives, was ‚draußen‘ in seiner Umgebung vorfindbar wäre, sondern sie betrifft den Menschen in seiner noch ungeteilten Einheit mit seiner Umwelt. Eben darum aber wird die Stimmung zum Schlüsselphänomen für das Verständnis des erlebten Raumes.“118 Hasse ergänzt kritisch zu Bollnows Verständnis der Stimmungen, dass in dessen Begriff „Atmosphären ohne und mit affektivem Betroffensein unterschiedslos aufgehoben“119 seien. Atmosphären als Stimmung setzen die Erfahrung der Ergriffenheit voraus, die sich nicht zwangsläufig mit dem Atmosphärischen einstellt. Aus diesem Grund ist eine klare Unterscheidung zwischen Atmosphären und Stimmungen angebracht. Hermann Schmitz führt dementsprechend eine Differenzierung von objektiver Situation ohne affektive Betroffenheit und subjektiver Situation mit affektiver Betroffenheit ein.120 Stimmungen sind auf der Subjektseite angesiedelt und bilden eine persönliche Grundbefindlichkeit. Atmosphären hingegen haben ihren „intensionalen Schwerpunkt [...] auf der Objektseite“121. Gestimmte Räume sind im Anschluss an Böhme als Atmosphären122 zu definieren. Böhme geht davon aus, dass Atmosphären sich räumlich ergie- 118 Bollnow (2004), S. 231 119 Hasse (2005), S. 120 120 Hasse (2010), S. 121; vgl. Schmitz, Hermann (2009): Der Leib, der Raum und die Gefühle. 2. Auflage. Bielefeld, Basel: Aisthesis Verlag. 121 Hasse (2005), S. 369ff. 122 Böhme (2006), S. 25; die Vielzahl der theoretischen Atmosphären-Ansätze einer wachsenden Anzahl von Theoretikern aus Architektur, Ästhetik, Geographie, Soziologie (mittlerweile haben sogar Systemtheoretiker das Gefühl (wieder-)entdeckt!), Kulturwissenschaften uvm. kann hier nicht diskutiert werden, sodass ich mich pragmatischerweise dem Verständnis von Böhme anschließen möchte. Eine gute Übersicht bietet Düttmann, Susanne (2000): Ästhetische Lernprozesse. Annäherungen an atmosphärische Wahrnehmungen von LernRäumen. Marburg: Tectum Verlag; ebenso auch Hasse (2005), S. 119. In Anlehnung an Jean-Paul Thibaud konzipiert Kazig Atmosphären nicht als Gegenstände der Wahrnehmung, sondern als Rahmenbedingungen der Wahrnehmung. – Kazig, Rainer (2007): Atmo- 50 ßen123 und durch die Beziehung von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen ermöglicht werden. Durch eine zumindest partiell mögliche Verständigung über Atmosphären (und dies geschieht in der Praxis laufend durch Erlebensbeschreibungen) kann man von einer Quasi-Objektivität von Atmosphären ausgehen. Spiel-Räume der Erlebniswelt sind oftmals atmosphärisch zudringlich, wenn auch meist unterschwellig, da wir uns stark an sie gewöhnt haben. Ein Ziel dieser Arbeit ist es das Ohr wieder für die Wahrnehmung zu sensibilisieren. Die Gedanken zum Raum schließen daran an, dass Atmosphären wesentliche Bestandteile von „Erlebniswelten“ (oder anders herum) sind und entsprechend programmatisch hergestellt werden.124 Dies bedeutet aber auch, dass diese Räume anders sind, und in ihrer Eigenschaft als Räumen sozialen Geschehens stellt sich die Frage, wie sich die Andersartigkeit dieser Räume fassen lassen kann. In Kapitel 4.1 möchte ich dazu Michel Foucaults Konzept der Heterotopien diskutieren. Diesem Konzept liegt auch ein Raumbegriff zugrunde, der sich im Rahmen nicht-euklidischer Raumpluralität wie insbesondere durch die bereits angeführten Ausführungen Bollnows, Straus‘ und anderer verschiedener anthropologischer Raumkonzepte angliedern lässt. Erwähnung finden soll auch das Konzept der Nicht-Orte des französischen Anthropologen Marc Augé. Er bezieht sich auf Michel de Certeaus Aussagen über den temporären Charakter von Nicht-Orten. Augé schreibt: „Ort und Nicht-Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue seine Spiegelung findet.“125 Der Raum des Nicht-Ortes ist davon gekennzeichnet, dass er keine eigene Identität besitzt und sich „weder als relational noch als historisch bezeichnen sphären – Konzept für einen nicht repräsentationellen Zugang zum Raum. S. 167–187. In: Berndt, Christian/Pütz, Robert (Hrsg.) (2007): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Bielefeld: Transcript. 123 Kritisch anzumerken ist hierbei, dass Böhmes Raumverständnis oft den Eindruck eines ‚Behälter‘-Denkens macht. Davon ist auch sein Atmosphären-Begriff betroffen, der vor allem von Architekturtheoretikern wohlwollend aufgenommen wurde (siehe Unterscheidung von ‚ambiance‘ und ‚atmosphere‘ im Englischen). Es bietet sich unter Umständen an eher vom Atmosphärischen zu sprechen als von ‚der‘ Atmosphäre. 124 Vgl. zur Ästhetik von Verkaufsräumen Hasse (2005), S. 348ff. 125 Augé, Marc (1992): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer. S. 94 51 läßt“126. Beispiele für Nicht-Orte sind bei Augé vor allem Transiträume (insbesondere die Räume des Reisenden) sowie Hotels, Feriendörfer, Freizeitparks und Einkaufszentren. Er betont dabei die Erfahrung der Passage, die für diese Nicht-Orte entscheidendes Charaktermerkmal sind. Ich möchte mich diesem Konzept insofern anschließen, als dass die Räume außergewöhnlicher Erfahrung auch als Nicht-Orte kartiert werden können, da die Erfahrung dieser Lust-Erlebnisse von Passagen gekennzeichnet sind. Würden wir diese Spiel-Räume nicht passieren, ginge uns das Lust-Erlebnis an sich verloren; hielten wir uns länger darin auf, so würden wir saturiert. 3.8 Das Spiel und sein(e) Raum(-nahme) Das Spiel ist eine bedeutende Form der Interaktion. Rollen werden zugewiesen, Positionen manifestiert, Aufmerksamkeit generiert. Spiel-Räume sind zumeist programmatische Orte der Interaktion. Dies sind vor allen Dingen konkret zu benennende Orte wie Spielstätten von Theater, Kunst, Sport, Vergnügen etc. Diese Orte sollen für die folgende Betrachtung auch zentral sein, was ich im folgenden Kapitel noch detaillierter ausführen werde. Dennoch gilt es festzuhalten, dass sich Spiel-Räume der Erlebniswelt nicht zwangsläufig an einen konkreten Ort knüpfen müssen. Kinder spielen ortsunabhängig, schaffen sich im Spiel Räume. Die Nähe zum Begriff „Spielraum“ ermöglicht dieses Gedankenspiel, insbesondere bezogen auf spontane Spiele, die sich Räume aneignen wie „flash mobs“, Konzerte oder Autotreffen. Ebenso ist auch das Hören dank technischer Ungebundenheit schon lange nicht mehr nur an konkrete Materialitäten geknüpft. Dieses Phänomen möchte ich „Verschiebung“ nennen. Verschiebung umschreibt die Überlagerung der Struktur eines konkreten Ortes mit einer im Erleben geschaffenen, wenn auch zeitlich begrenzten Struktur. Als Paradebeispiel gilt hier das Hören von Musik über Kopfhörer. Spiele sind Erlebnisse um ihrer selbst willen. Die Spiel-Räume, die sich eröffnen, grenzen sich zumeist, wie bereits erörtert, von den Räumen des Gewohnten ab. Während das Gewohnte zumeist einem höheren Endzweck zustrebt, ist der Zweck des Spiels diesem immanent. Spiele sind nicht zweckfrei, sondern führen ihren Zweck in sich mit. Dies bedeutet, dass Spiele sozu- 126 Augé (1992), S. 92 52 sagen zeitlich-räumliche Miniaturen des Daseins sind und oft genug auch eben jene Motive mit sich führen, meist in simplifizierter Form.127 Auch die Vorgabe solcher Miniaturen können wir durchaus als A-priori-Strukturen verstehen. Eugen Fink dazu: „Spiel ist Aktivität und Schöpfertum – und doch steht es in einer Nähe zu den ewigen und stillen Dingen. Das Spiel ‚unterbricht‘ die Kontinuität, den endzweckbestimmten Zusammenhang unseres Lebensganges; es tritt aus der sonstigen Weise der Lebensführung eigentümlich heraus, es ist in Distanz. Aber indem es sich dem einheitlichen Lebensfluß zu entziehen scheint, bezieht es sich gerade sinnhaft auf ihn: nämlich in der Weise der Darstellung. [...] Wir spielen den Ernst, spielen die Echtheit, spielen Wirklichkeit, wir spielen Arbeit und Kampf, spielen Liebe und Tod. Und wir spielen sogar noch das Spiel.“128 Dabei wird auch klar, dass uns Spiel-Räume aufgrund ihrer dem Dasein (vermeintlich) fremder Zwecke, oft genug staunen lassen. Das Hörerlebnis in den Spiel-Räumen nimmt sozusagen Bezug auf das Erlebnis der Primärerfahrung. Es sind Lust-Erlebnisse um ihrer selbst willen, wenn wir „neu“ zuhören lernen. Auch dies greift Fink auf: „Diese Spiellust ist Entzückung über eine „Sphäre“, Entzückung über eine imaginäre Dimension, ist nicht bloß Lust im Spiel, sondern Lust am Spiel.“129 127 Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis von Spiel-Räumen ist auch Turners (strukturalistische) Theorie des „Liminalen“ und „Liminoiden“. Ausgehend von der Ritualtheorie, bezeichnet Turner u. a. die spielerische Erprobung neuer kultureller und sozialer Möglichkeiten als Liminalität. Er wendet dies auch auf Zeiten und Räume an, und liminale Räume („liminal spaces“) sind Räume, die sich von den sonstigen alltäglichen Räumen des Sozialen abheben. Während liminale Phänomene vornehmlich traditionellen Gesellschaften zu Eigen waren, so sind liminoide Phänomene tendenziell eher Eigenschaften fragmentierter und hochdifferenzierter Gesellschaften. Seinen Platz findet Turner in der Event-Soziologie; Regina Bormann schreibt: „Moderne Spektakel sind typisch liminoide kulturelle Performances: Hier steht das Visuelle, das sinnlich Erfahrbare im Vordergrund, wie der Erlebnispark mit seinen vielfältigen visuellen, auditiven und olfaktorischen Reizen zeigt.“ – Bormann, Regina (2000): Eventmaschinerie Erlebnispark: Systemintegration durch performative Institutionen. S. 147. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 128 Fink, Eugen (1957): Oase des Glücks – Gedanken zu einer Ontologie des Spiels. Freiburg, München: Karl Alber. S. 25 129 Fink (1957), S. 28 53 Ein wesentlicher Aspekt, der sowohl das Spiel an sich als auch Spiel-Räume charakterisiert, ist der Aspekt der Spielgemeinde. Spiele sind zumeist soziale Phänomene, es ist ein Miteinanderspielen, ein Zusammenspielen. Spiel-Räume können somit in den meisten Fällen nur als soziale Räume gedacht werden. Um Handeln in sozialer Umgebung zu gewährleisten, lassen sich „Spielregeln“ identifizieren, wiederum A-priori-Strukturen. In den Spiel-Räumen sind zu hörende A-priori-Strukturen meist Signale bzw. „verspielte“ Charaktersignale. Das Spiel ist aber mehr als lustvoller Zeitvertreib. Wenn das Spiel als Erlebnis konzipiert ist und Erkenntnis im Erlebnis gewonnen wird, dann ist das Spiel auch ein wesentlicher Erkenntnisweg. Dies erklärt auch, warum in den folgenden Kapiteln die Fremderfahrung sehr ausführlich beschrieben wird. Ich möchte vermeiden den Begriff des „Erlebnisses“ zu definieren, obschon es sicherlich förderlich ist auf verschiedene Ansätze hinzuweisen.130 Eine erste Bestätigung findet sich in Rousseaus Pädagogik, der Erlebnis und Unmittelbarkeit als wesentliche Elemente zugrunde liegen. Nach Rousseau erlebt und erfährt der Mensch – das Kind folglich im Besonderen – die Welt durch die Sinne.131 Der Erlebnis-Begriff des Pädagogen Theodor Litt – geprägt durch Dilthey – betont, dass das Erlebnis „die ursprüngliche und konkrete Einheit [ist], in der die erlebende Totalität des Ich und die erlebende Totalität der Welt sich durchdringen“132. Dabei geht er von einem dem Erlebnis immanenten Wissen aus, das unmittelbar erlangt wird. Zentral für diese Untersuchung sind Gerhard Schulzes Erörterungen der „Erlebnisgesellschaft“. Für Schulze sind Erlebnisse ein Bestandteil des Subjekts, das wiederum den Wunsch hegt diese Erlebnisse steuern zu wollen. Davon ausgehend kann folglich die Argumentation angeschlossen werden, dass das Phänomen der Erlebnisrationalität darin besteht gezielt Spiel-Räume der Erlebniswelt aufzusuchen. Somit wird der Mensch zum „Manager seiner 130 Neben den hier nicht genannten ist auch noch die „Erlebnispädagogik“ von Kurt Hahn (Hahn, Kurt (1958): Erziehung zur Verantwortung. Stuttgart: Klett), sowie das motivationspsychologische Konzept „flow-Erlebnis“ von Mihaly Csikszentmihalyi (Csikszentmihalyi, Mihaly (1992): Das flow-Erlebnis. Stuttgart: Klett-Cotta) zu erwähnen. Cszikszentmihalyi weist in dieser Studie auf das ganzheitliche Gefühl eines völligen Aufgehens in einem Tun hin und untermauert dies in einer empirischen Studie mit Beispielen wie dem Schachspiel oder dem Tanzen zu Rockmusik. Vgl. ausführliche Diskussion zum Begriff „Erlebnis“ bei Hasse (2005), S. 154ff. 131 Müller, Wolfgang (2001): Erlebnismarkt und Menschenbild. Düsseldorf: Berneux Verlag. S. 18 132 Litt (1926), S. 40 zit. in Müller (2001), S. 25 54 eigenen Subjektivität, zum Manipulator seines Innenlebens“133. Im Rahmen seiner soziologischen Analyse der Erlebnisgesellschaft versteht Schulze Erlebnisse als „vorübergehende psychophysische Prozesse positiver Valenz“134, die der Mensch herbeizuführen sucht und sehnt. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, das Lust-Erlebnisse positive, schöne Ereignisse sind, die die ursprünglichen Erlebnisse der Erkenntnisgewinnung widerspiegeln.135 Es sind Erlebnisse der Neugier, des Staunens, des Fühlens, des Wunderns, des Begreifens und des (vermeintlichen) Verschmelzens zwischen Subjekt und Welt. 3.9 A-priori-Strukturen Da die Struktur im Erlebnis erst geschaffen wird und auch zumeist nur einen temporären Charakter hat, bilden sich für das Erleben A-priori-Strukturen heraus. A-priori-Strukturen sind Hilfen, die soziales Handeln vereinfachen und formalisieren. Wir irren nicht orientierungslos in den Spiel-Räumen herum.136 Während die Strukturierungsprozesse des Gewöhnlichen den Raum in Felder der Bedeutung und Bedeutungslosigkeit zerteilen, hat die Erlebnisstrukturierung das Problem, dass sich nahezu alles als „bedeutungsgeladen“ im Spiel erweist. Das Spiel erscheint als vollkommen wirklich. A-priori-Strukturen bilden sich auf unterschiedliche Weisen heraus um das Erleben zu einem – oft buchstäblichen – Überleben zu machen. Dies kann durch verschiedene Mechanismen funktionieren, die allerdings oft auch konter-interagierend sind und somit als Störung empfunden werden. Sehr wichtige A-priori-Strukturen sind Signale. Ein wesentlicher Aspekt von A-prioriStrukturen ist die Prämisse der Kollektivierung einer Audienz oder, wie Hubert Knoblauch schreibt, „situative Zugehörigkeitsbezeugung“137. Einer133 Schulze, Gerhard (2000): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 8. Auflage. Frankfurt am Main, New York: Campus. S. 40 134 Schulze (2000), S. 736 135 „Es gibt im Prinzip kein negatives Erlebnis.“ – Hasse (2005), S.154 136 Dramatische „Missverständnisse“ gibt es, wenn zum Beispiel sogenannte „Naturschauspiele“ zur Katastrophe werden, insofern als das es kaum A-priori-Strukturen aufgrund des natürlichen Wesens des Schauspiels gibt. Oder ebenso auch, wenn aufgrund technischer Unkontrolliertheiten A-priori-Strukturen versagen. 137 Knoblauch, Hubert (2000): Das strategische Ritual der kollektiven Einsamkeit. Zur Begrifflichkeit und Theorie des Events. S. 33–50. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 55 seits ist die Kollektivierung ein Teil der Überblendung durch Reproduktion von Inhalten und Assoziation mit Inhalten. Dieses Phänomen ist oftmals Teil der Inszenierung, somit geplante Interaktion bzw. wesentliche Interaktion des Spiel-Raumes (im Fußballstadion ist die Fankulisse gleich Geräuschkulisse), manchmal aber auch konter-interagierend (Störungen eines Konzerts durch Gespräche oder Telefonklingeln). Die Kollektivierung hat aber auch den Nutzen einer Vereinfachung formaler Strukturierungen, sodass mikroräumliche Nutzungsmuster gezielt gefördert werden können. Dies geschieht meist durch die Diversifikation der Interaktion (zum Beispiel nach Alter oder Geschlecht etc.). Aufgabe der Planung und Organisation von Spiel-Räumen der Erlebniswelt muss somit sein, a-priori-Strukturen zu schaffen. Andernfalls bilden sich unerwünschte Strukturen im Erleben heraus. A-priori-Strukturen sind also die in den Spiel-Räumen zu erlebenden Klänge begleitende Klänge, Interaktionen und Materialitäten. Sie sind aber nicht immer als solche zu identifizieren bzw. herauszulösen. 56 4 Spiel-Räume der Erlebniswelt Versuch einer Typologie 4.1 Andere Räume Eine Typologie der Spiel-Räume der Erlebniswelt zu schreiben ist kein einfaches Unterfangen. Denn zu unterschiedlich sind die in Betracht kommenden Räume und die spezifischen Orte, welche die Erlebnisgesellschaft prägen und von dieser ausgeprägt werden. Die Vielfältigkeit wird in den folgenden Kapiteln der Arbeit noch deutlicher, wenn Beispiele rangeführt werden. Nur auf einer höheren Ebene kann analytische Vergleichbarkeit geschaffen werden. Bevor ich also im Folgenden einige Spiel-Räume, die der gedanklichen Hinwendung zum Thema als Vorlage dienten, beschreibe, noch einige allgemeine Gedanken zu diesen „anderen Räumen“. Als ein umfassendes theoretisches Modell zur Beschreibung dieser Räume bietet sich Foucaults Konzept der Heterotopien an. Heterotopien sind nach Foucault „sozusagen Gegenplazierungen [sic!] oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“138 Foucault formuliert sechs Grundsätze als Wesenszüge von Heterotopien. Zunächst sind Heterotopien kulturelle Konstanten, die folglich historischem Wandel unterworfen sind. Er unterscheidet zwischen Krisenheterotopien wie Räumen der Adoleszenz, des Alterns und des Sterbens und Abweichungsheterotopien, wie Psychiatrien, Gefängnissen und Altenheimen. Aufgrund ihrer kulturellen Einbindungen können Heterotopien umfunktioniert werden, was sich zum Beispiel in der Stigmatisierung des Todes und der damit einherge- 138 Foucault, Michel (1990): Andere Räume. S. 65–72. In: Wentz, Martin (Hrsg.) (1996): Stadt-Räume. Frankfurt am Main, New York: Campus; vgl. auch Foucault, Michel (2005): Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 57 henden Auslagerung von Friedhöfen an die Peripherie zeigt. Heterotopien können davon gekennzeichnet sein, dass an einem realem Ort mehrere Orte nebeneinander platziert werden. Das kann durch zeitliche Serialität in Kinos oder Theatern der Fall sein, aber ebenso an Orten, die als Mikrokosmos angelegt sind, aber Makrokosmen widerspiegeln. Das ist bei Spiel-Räumen oftmals insofern der Fall, als dass die Welt in Miniatur nachgespielt oder dargestellt wird. Beispiele hierfür sind Themenparks oder botanische Gärten, die die Flora der Welt thematisch nebeneinander repräsentieren. Dabei reduzieren solche Themenwelten – wie von Steinkrüger139 am Beispiel von Vergnügungsparks und zoologischen Gärten eindrücklich dargestellt – die Wirklichkeiten von Räumen und Zeiten. Heterotopien sind folglich an Heterochronien gebunden, d. h. an zeitliche Diskontinuitäten. Zeitheterotopien sind zum Beispiel Museen oder Bibliotheken, also Orte, an denen Zeit akkumuliert wird. Chronische Heterotopien sind Orte, an denen „flüchtige Zeit“ festlich begangen wird. Man denke hier an Jahrmärkte und Feriendörfer. Zumeist weisen Heterotopien komplexe Formen des Ein- und Austritts auf. Es sind Schwellenerfahrungen, manchmal gar rituell oder illusionär. Die Gestaltung von Motels in Brasilien zum Beispiel zeigt deutlich auf, dass es sich hierbei um Heterotopien handelt, die abgeschirmten, verborgenen und oft auch illegalen Sex ermöglichen.140 Ebenso können Heterotopien binär bestimmt sein, zum Beispiel durch reflektierte Kompensation. Das Schiff zum Beispiel ist für Foucault eine Heterotopie par excellence, ein Reservat der Imagination. Im Folgenden möchte ich bei Spiel-Räumen zwischen programmatischen Spiel-Räumen und spiel-räumlichen Programmatiken unterscheiden. Programmatische Spiel-Räume sind damit zumeist an konkrete Materialitäten geknüpft, die extra geschaffen wurden. Das sind vor allen Dingen klassische Spielstätten wie Konzertsäle141, die Oper, das Theater, das Museum oder Sportspielstätten wie Schwimmbäder, Stadien und Arenen. In jüngerer Zeit hingegen haben sich auch diese klassischen Spielstätten diversifiziert, sodass 139 Steinkrüger, Jan-Erik (2013): Thematisierte Welten. Über Darstellungspraxen in Zoologischen Gärten und Vergnügungsparks. Bielefeld: Transcript. S. 131. 140 Viele dieser Motels in Brasilien tragen diesem Umstand dadurch Rechnung, dass sie baulich so gestaltet sind, dass die Parkplätze vor den jeweiligen Zimmern von der Straße nicht einsehbar sind. 141 Zur Kulturgeschichte des Konzerts siehe Salmen, Walter (1988): Das Konzert. München: C.H.Beck. 58 es in Abgrenzung zu Schwimmbädern mittlerweile Erlebnisschwimmbäder gibt, das Theater sucht sich neue Räume zur Aufführung142, die Architektur neuerer Operngebäude bricht mit alten Traditionen und vormalige Sportstätten werden zu Erlebnisarenen für die ganze Familie umgestaltet.143 Programmatische Spiel-Räume werden zunehmend an die Erlebnisorientierung angepasst und inszeniert.144 Sich spontan eröffnende Spiel-Räume werden hingegen spielerisch angeeignet. Zumeist ist das Spiel die Aneignung selbst. Deswegen möchte ich die Aneignung des Raums als Inszenierung unter dem kategorischen Begriff der programmatischen Spiel-Räume beschreiben. Das geschieht zum Beispiel in Phänomen wie „flash mobs“ oder bei spontanen Konzerten oder TheaterAufführungen an außergewöhnlichen Orten, bei Kunstveranstaltungen im öffentlichen Raum oder in spontanen Gottesdiensten in nicht-liturgischen Räumen. Spontane Spiel-Räume sind oftmals verschobene Klangräume, da eine vorhandene (und zumeist subjektv, bereits erlernte Struktur) überblendet wird oder zumindest umgedeutet wird. Somit fällt unter die spontanen SpielRäume der Erlebniswelt auch das Raumerleben durch Musikhören. Diese Überblendungen sind aber allzu oft unmittelbar als Teil der Inszenierung zu verstehen. Spiel-Räume sind auch Räume des Außergewöhnlichen, des Fremden. Als wesentliche Fremderfahrung ist hier beispielhaft die Erfahrung des Reisenden zu nennen. So können fremde Orte in vor allem fremd-kulturellen Räumen Spiel-Räume sein. Zwar sind solche Erfahrungen komplex und sehr variabel, dennoch werde ich in den folgenden Kapiteln auf meine Erfahrungen auf einer Reise nach Damaskus in Syrien zurückgreifen. Aber nicht nur solche Fremderfahrungen können als Beispiele herangezogen werden. Auch die inszenierte Illusion einer solchen Erfahrung – und letztlich ist die Erfahrung des Reisenden ebenso aufbauend auf einer spezifischen „geographical imagination“, die die Wahrnehmung gegebener Materialitäten beeinflusst – in Safari- oder Themen-Parks oder auch Center Parcs oder ähnlichen „exoti142 Vgl. Kröniger, Birgit (2007): Der Freiraum als Bühne. Zur Transformation von Orten durch Events und Inszenierungen. München: Martin Meidenbauer. 143 Zum Ausdruck „Arena“ als Raumanordnung für Ereignisse siehe Kröniger (2007), S. 38f. Zur Umgestaltung von Fußballstadien zu Erlebnisarenen vgl. exemplarisch Goch, Stefan (2006): Stadt, Fußball und Stadion – Zusammenhänge am Beispiel Gelsenkirchen. S. 34– 47. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, 1. 144 Vgl. Hasse, Jürgen (1994): Erlebnisräume. Vom Spaß zur Erfahrung. Wien: Passagen Verlag. 59 schen“ Erlebnisparks und -schwimmbädern ist hier als Beispiel zu nennen. Hier ergeben sich theoretische Parallelen zu den heterochronischen „anderen Räumen“ Foucaults, die diesem Verständnis der Spiel-Räume zugrundeliegen. 4.2 Exkurs: zum Begriff des Events Der englische Ausdruck des „Event“ wird in jüngerer Zeit vor allem für Groß- und Massenveranstaltungen verwendet. Auch die Soziologie hat sich diesem Thema zugewandt.145 Aufgrund des breiten Gebrauchs dieses Ausdrucks in alltäglichen Kontexten erscheint es als notwendig diesen zu definieren. Die übersetzte Bedeutung des englischen Wortes ergibt eine Vielzahl möglicher Entsprechungen im Deutschen, hervorstechend sind dabei vor allen Dingen „Ereignis“, „Begebenheit“, „Erscheinung“ und „Veranstaltung“. In dieser Arbeit werde auch ich den Begriff verschiedentlich benutzen, verstehe darunter aber vornehmlich Veranstaltungsereignisse bzw. schließe mich dem weitgehend umgangs- und alltagssprachlichen Gebrauch an. Dabei ist mir zeitliche Begrenztheit des Ereignisses weniger wichtig als die räumliche Erscheinung. Dennoch halte ich es im Rahmen dieser Arbeit für folgerichtig mich von Winfried Gebhardt abzugrenzen, der basierend auf Siemons Events unter anderem als planmäßig erzeugte, einzigartige und exklusive (Zeit-)Ereignisse bzw. Erlebnisse charakterisiert.146 Gebhardt definiert das Event als spezifische Variante des Festlichen, indem er in Anlehnung an Agnès Villadary die Veralltäglichung des festlichen Erlebnisses betont. Nichtsdestotrotz sind Feste und Feiern nach wie vor nicht gänzlich gewöhnlich, was ihre Klänge angeht.147 Im vorangegangenen Kapitel habe ich die Unterscheidung der 145 Einen guten Überblick zum Begriffsverständnis findet sich bei Kröniger (2007), S. 22ff. 146 Gebhardt, Winfried (2000): Feste, Feiern und Events. Zur Soziologie des Außergewöhnlichen. S. 17–31. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 147 Ein Beispiel, wo eine ganze Stadt zum Event wird, sind zum Beispiel Kneipenfestivals wie das Honky Tonk oder das Monkey Jump, Stadtjubiläen und städtische Festivals oder Festspiele. Die Bayreuther Festspiele zum Beispiel, begünstigt durch den provinziellen Charakter der Stadt, lassen in der Stadt kaum „Raum“ für andere Ereignisse. Die ganze Stadt steht „im Zeichen Wagners“ und so auch ihre sinnliche Wahrnehmung. Die Musik Wagners ist omnipräsent. Dies veranlasst Arnold Zingerle auch dazu, von einem „Passagenraum“ zu sprechen, der sozusagen thematisch auf das Ereignis hinführen soll. Dabei liegt es auf der Hand, dass eine „andere“ Ereignishaftigkeit kulturpolitisch ausgegrenzt wird. – Zingerle, Arnold (2000): Monothematisches Kunsterlebnis im Passagenraum. Die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele als Event. S. 183–202. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/ 60 Räume des Gewöhnlichen mit den Räumen des Außergewöhnlichen auf die Zweckorientierung bezogen. Der Begriff des „Außergewöhnlichen“ als Charaktereigenschaft der Spiel-Räume, bezieht sich folglich auf den präsentischen Raum des Lust-Erlebnisses. Spiel-Räume also die räumliche Erscheinung von Events, zeichnen sich durch außergewöhnliche Hörerlebnisse aus. Im Rahmen dieser Arbeit sehe ich damit nicht die Notwendigkeit Events näher zu fassen, da ich mich weniger mit ihnen selbst als ihrem Erleben beschäftigen möchte. Der Begriff Spiel-Räume bietet sich an, da er Events – wie auch immer sie definiert werden könnten – miteinschließt, ebenso wie Feste und Feiern durchaus als Lust-Erlebnisse – hier auch wieder der Hinweis auf die subjektive Relevanz dieser Feste und Feiern148 – verstanden werden können. Die anthropologischen Überlegungen von Hubert Knoblauch149 zum Ausdruck „Event“ bestätigen meine Skizzierung der Spiel-Räume. Er betont die leibhaftige Selbst-Repräsentation der Gemeinschaft im kollektiven Ritual sowie die soziale Interaktion mit einem gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit. Dabei eröffnet er die Möglichkeit über die Zusammenhänge zwischen Vorführung, Partizipation und Performance nachzudenken. Gerhard Schulze bezeichnet Events als „soziale Ur-Idee: gemeinsam aus dem Fluss des Alltagsgeschehens herauszutreten und eine Enklave in Raum und Zeit zu schaffen, in der ein Arrangement zwischen Akteuren und Beobachtern gilt – der Tausch von Aufmerksamkeit gegen eine bemerkenswerte Darbietung“.150 Auf dem Hintergrund des Begriffes der „Erlebniswelt“ halte ich Schulzes Verständnis des Begriffes „Event“ für geeignet diesen weitgehend mit Spiel-Räumen in Bezug zu setzen. Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 148 Das außergewöhnliche Erlebnis zeichnet sich eventuell in Anlehnung an Schulze (2000, S. 145ff) weniger durch den Inhalt als durch die Form aus, worunter man ebenso auch die räumliche Form des Erlebnisses – also weniger das was, als das wie und wo – verstehen könnte. 149 Knoblauch (2000), S. 33ff. 150 Schulze, Gerhard (1999): Kulissen des Glücks – Streifzüge durch die Eventkultur. 2. Auflage. Frankfurt, New York: Campus. S. 79 61 4.3 Ab- und Eingrenzungen: Miniaturen des Daseins und Klangkulissen Spiel-Räume müssen in den meisten Fällen – ausgenommen das im Folgenden nur zur Verdeutlichung als Beispiel angefügten Raumerleben durch Musikhören – als soziale Räume erfasst werden. Es sind Räume, die ein Miteinander ermöglichen und in denen das Miteinander, das heißt die Ko-Präsenz, oft genug das Erlebnis überhaupt erst ausmacht. Das heißt zwar, dass Gemeinschaftserlebnisse nicht zwangsläufig sind, stellt man sich aber die Abwesenheit parallel interagierender Personen vor, erscheinen viele Orte als bedrohlich, als sei man dort zurückgelassen worden. Es sind folglich Orte hier angesprochen, an denen – um Elias Canetti151 zu paraphrasieren – die klangliche „Berührungsfurcht“ aufgehoben ist. Soziale Spiel-Räume sind zum Beispiel Sportstätten und Konzerte, BowlingCenter, Reptilienmessen, inszenierte Kundencenter152 oder Auto bzw. Tuning-Treffen153. Dabei wird auch deutlich, dass die permanente Interaktion in diesen Räumen als wesentlicher Aspekt zu beachten ist. Unter Berücksichtigung dieses Aspektes können dann auch rein theoretisch Flughäfen, Bahnhöfe und Shopping Malls hinzugerechnet werden. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern eben diese Räume schon Teil des Alltags geworden sind und kaum noch als außergewöhnliche Räume gelten. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die assoziative Kraft der Spiel-Räume. Allzu oft sind Spiel-Räume Miniaturen des Daseins, greifen ähnliche Motive auf oder kopieren eine Wirklichkeit. Auch hier sieht man wiederum die theoretische Nähe zum Konzept der Heterotopien: die Gleichzeitigkeit verschiedener Orte an einem realen Ort. Das gilt natürlich vor allem für Themenparks oder zum Beispiel auch Paintball-Anlagen154, Science-Center etc. Wie be- 151 Canetti, Elias (2001): Masse und Macht. 27. Auflage. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag. 152 Zum Beispiel die Autostadt in Wolfsburg: Pohl, Jürgen (2005): Urban Governance à la Wolfsburg. S. 637–646. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 9/10.2005. 153 Bröckerhoff, Julia (2003): Meisterwerk statt Massenfahrzeug. Auto-Tuning als Event. S. 245–272. In: Hepp, Andreas/Vogelsang, Waldemar (Hrsg.) (2003): Populäre Events. Wiesbaden: VS Verlag. 154 Eisenbürger, Iris/König, Markus (2003): Paintball: Sport oder Kriegsspiel? – Räuber und Gendarm als Event für Erwachsene. S. 183–202. In: Hepp, Andreas/Vogelsang, Waldemar (Hrsg.) (2003): Populäre Events. Wiesbaden: VS Verlag. Eine überarbeitete Version dieses Artikels ist in der Neuauflage dieses Sammelbands von 2010 noch mal erschienen, allerdings unter Angabe einer komplett verschiedenen Autorenschaft. Ob es sich dabei um „gute“ wissenschaftliche Praxis handelt, sei dahingestellt; verwirrend ist es allemal. 62 reits erwähnt, werden allerdings die Räume des Alltags nach und nach mit ähnlichen Intentionen umgestaltet. In Deutschland richten die Menschen ihre Wohnung im mediterranen Stil oder im Landhaus-Stil ein, Innenstädte werden atmosphärisch umgestaltet155 und oft genug orientieren sich Planer an romantischen Vorstellungen wie dem „südeuropäischen Flair“. Oftmals beschränken sich solche Gestaltungen allerdings auf visuelle Aspekte, obzwar der Einsatz von Musik ähnliche Effekte zu produzieren scheint, was die Musikwissenschaftler und Anthropologen Bohlman und Tragaki in der Betrachtung der spezifischen Imaginationen in europäischer Popmusik aufzeigen.156 Der Sozialforscher Gerhard Schulze spricht in seinem Essay „Kulissen des Glücks“ von zwei Arten von Kulissen: den lügnerischen und den spielerischen.157 Die lügnerischen Kulissen verschleiern die Wirklichkeit, die spielerischen Kulissen stellen Wirklichkeit her. Dies lässt sich auch auf potentielle Spiel-Räume anwenden. Schulze schreibt: „Die Inszenierungen der Gegenwart sind nicht lügnerisch, sondern spielerisch; sie täuschen nicht, sondern wollen gestalten; sie sind eine unserer Kultur eigentümliche Form von Wirklichkeit. Das Wesen dieser Form besteht darin, dass Menschen sich selbst wirklich machen, indem sie sich in Szene setzen.“158 Spiel-Räume können nicht als isolierte Räume fernab des alltäglichen Treibens gesehen werden. Die Formen der Inszenierung sind nicht mehr nur örtlich gebunden, sondern gehen darüber hinaus. Für unsere Analyse bedeutet dies auch, dass Randunschärfen in der Eingrenzung von Spiel-Räumen immer gegeben sind. Ein Gang durch die Innenstadt kann zu einem Tappen von einem Spiel-Raum in den nächsten sein. Wie schon erwähnt, können sich Spiel-Räume spontan eröffnen, genauso aber auch spontan entschwinden. Für die Beschäftigung mit Klängen bedeutet dies aber auch, dass wir genau zuhören müssen, um dazuzugehören. Die Dichte der Klänge sowie die Dichte 155 Hasse, Jürgen (2012): Atmosphären der Stadt: Aufgespürte Räume. Berlin: Jovis Verlag. 156 So identifizieren sie für den Eurovision Song Contest der 2010er Jahre einen „borealist turn“. Bohlman, Philip V./Tragaki, Dafni (2013): Europa borealis: Reflections on the 2013 Eurovision Song Contest Malmö. Oxford Music Online, 31. Mai 2013. Online abrufbar: blog.oup.com/2013/05/europa-borealis (Zugriff: 18. November 2013). Vgl. dazu auch Bohlman, Philip V. (2007): The Politics of Power, Pleasure, and Prayer in the Eurovision Song Contest. In: Musicology 7. S. 39–67. 157 Schulze (1999), S. 7ff. 158 Schulze (1999), S. 11 63 der Abfolge ziehen uns oft genug in eine räumliche Beteiligung, in der uns Handeln abverlangt wird, wir aber überwältigt von den Reizen sind, sodass wir diese kaum noch kanalisieren können. Bemerkenswert ist dazu auch Schulzes Äußerung, dass die „Kulissenwelt den Raum des Menschenmöglichen inzwischen so dicht besetzt hat, dass jeder nur mögliche Gegensatz darin enthalten ist“159. Aber nicht nur das, auch die interne Diversifikation von Spiel-Räumen ist stark ausgeprägt. Die Beobachtung und Nutzung von Spiel-Räumen zeigt unterschiedliche Muster auf, einen unterschiedlichen Grad der Gewöhnung, sodass in der Vielfalt der Nutzungsmöglichkeit auch das Potential der Imitation und Abgrenzung wohnt. Auch eine Typologie der Spiel-Räume anhand der sich bietenden Klänge erscheint als schwierig, da die Klangvielfalt meist sehr ausgeprägt ist. Musik ist fast überall zu hören oder als wesentlicher Bestandteil der atmosphärischen Inszenierung eingefügt. 160 Möglich wäre eine Typologie anhand der Klangdichte oder anhand der Erlebnisintensität. Dabei rückt wieder die eigene, leibliche Befindlichkeit in den Vordergrund. Ein weiterer Indikator wäre die Anziehungskraft dieser Spiel-Räume, gemessen am Verhältnis der Kapazität und der Nachfrage. Die Verfügbarkeit vergleichbarer Zahlen ist allerdings gering, und die Abhängigkeit von vielen weiteren Faktoren lässt nicht zwangsläufig auf die Anziehungskraft schließen. In meiner Auswahl der Spiel-Räume habe ich mich somit weitgehend darauf beschränkt, Orte und Veranstaltungen zu untersuchen, die im Anschluss an die Gesellschaftsdiagnose Schulzes für die Erlebnisgesellschaft exemplarisch erscheinen. Einige Orte habe ich folglich bewusst ausgeklammert, da sie ihm Rahmen dessen nicht vergleichbar sind oder ihre Klänge eine ganz andere Tragweite haben. Dazu zählt zum Beispiel der Erlebnisraum Kino, den man zwar durchaus als Spiel-Raum erfassen könnte, dessen Mechanismen des Raumerlebens im Hören aber eine besondere Bedeutung haben, die sich von anderen Beispielen abheben.161 Als ebenso schwierig unter den gegebenen Gesichtspunkten zu erarbeiten empfand ich „Naturereignisse“ wie Naturschauspiele 159 Schulze (1999), S. 13 160 Zu Musik und urbanen Atmosphären vgl. Friedrich (2010), S. 283ff. 161 An dieser Stelle sei auf die enge Beziehung zwischen Film und Geographie verwiesen als auch die besondere Rolle, die Klang dabei spielt. Vgl. Zimmermann, Stefan (2009): Filmgeographie – Die Welt in 24 Frames. S. 291–313. In: Doering, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.) (2009): Mediengeographie: Theorie – Analyse – Diskussion. Bielefeld: Transcript; Wissmann, Torsten/Zimmermann, Stefan (2010): From hear to there. Sound and the cognitive construction of world in popular audioplays. S. 371–383. In: Erdkunde, 64(4). 64 und ihre Klänge (das Rauschen des Wasserfalls, der Donner, das Grollen) oder menschliche Naturbezwingung und ihre Klänge (man denke hier an die Apollo 11 und die berühmten Funksprüche).162 Davon ausgenommen sind eventuell noch die künstlichen Inszenierungen von ‚Natur‘ in Erlebnisschwimmbädern, Freizeitparks, Aquarien oder Science Centern. Bestimmte Spiel-Räume an der Grenze zur Legalität oder außerhalb gesellschaftlicher Normativität wurden hierbei natürlich ebenso ausgelassen: erwähnt seien hier dafür exemplarische Phänomene der Schaulustigkeit (z. B. bei Schadensereignissen, etc.) oder ethisch unvertretbare Lust-Ereignisse bestimmter Individuen, die anderen Schaden zufügen bzw. durch den Schaden anderer zum Ereignis werden oder wurden.163 Ein weiterer Aspekt, der angesprochen werden sollte, ist die Vielzahl von Spiel-Räumen, die nur unter bestimmten Voraussetzungen wie zum Beispiel kulturelles Kapital, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit etc. zutrittsoffen sind. Ebenso können sich auch Spiel-Räume eröffnen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Unter diesen Voraussetzungen ist die Wahrnehmung und das Erleben solcher Räume mit ihren spezifischen (oft symbolbehafteten) Klängen und A-priori-Strukturen differenziert zu sehen. Wenn Johnny Cash in den Jahren 1958 und 1969 sowie die Rockband Metallica im Jahr 2003 Konzerte im amerikanischen Staatsgefängnis San Quentin gegeben haben, so haben diese Spiel-Räume der Erlebniswelt sicherlich eine kaum vergleichbare Wirkung. Das Gefängnis an sich stellt schon eine Heterotopie dar, ein Konzert im Gefängnis eröffnet einen seltsam und schwierig zu fassenden Spiel-Raum. Ebenso ist das nordkoreanische Arirang-Festival – laut Guinness-Buch der Rekorde die größte Massenveranstaltung der Welt – ein SpielRaum der Erlebniswelt, der aufgrund der Einbettung in den Kontext der 162 Exemplarisch dazu Keller, Reiner (2000): Zur Chronik angekündigter Katastrophen. Die Umweltkrise als Dauerevent. S. 263–285. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 163 Vgl. Steinkrüger (2013); Blanchard, Pascal et al. (Hrsg.) (2008): Human Zoos. Science and Spectacle in the Age of Colonial Empires. Liverpool: University Press. Neben solchen historischen Phänomen, die sich zum Beispiel auch durch öffentliche Exekutionen als Schauspiel ergänzen lassen, gibt es auch zeitgenössische Phänomene einer Schaulustigkeit auf Kosten anderer. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit „dark tourism“ und „hot war tourism“ wird zum Beispiel auch „Kriegstourismus“ oder „post-konfliktueller Tourismus“ beschrieben. Vgl. Lennon, John/Foley, Malcolm (2000): Dark Tourism. The Attraction of Death and Disaster. New York: Continuum; Piekarz, Mark (2007): Hot War Tourism: The Live Battlefield and the Ultimate Adventure Holiday? S. 153–169. In: Ryan, Chris (Hrsg.) (2007): Battlefield Tourism: History, Place and Interpretation. Amsterdam: Elsevier. 65 Politwillkür des brutalen Regimes Nordkoreas eine besondere Brisanz hat. Die Bedeutung von Zwang und Macht in diesem Spiel-Raum ist vergleichbar mit nationalsozialistischen Massenveranstaltungen und der typischen Ästhetisierung.164 Die vorliegende Auswahl der Untersuchungsorte erreicht somit keine keine Vollständigkeit. Vor dem Hintergrund des zeitdiagnostischen Begriffs der Erlebnisgesellschaft von Schulze entspricht die Auswahl aber mehrheitlich der sozialen Wirklichkeit und individuellen Verfassung vieler in der westlichen Hemisphäre. 164 Schöps-Potthoff, Martina (1984): Die veranstaltete Masse. Nürnberger Reichsparteitage der NSDAP. S. 148–170. In: Pross, Helge/Buß, Eugen (Hrsg.) (1984): Soziologie der Masse. Heidelberg: Quelle & Meyer, UTB. 66 5 Der Raum in der Musik Gedanken zu Shopping Malls, Roadtrips und iPods 5.1 Das Phänomen räumlichen Musikerlebens Musik erscheint mir im Rahmen dieser Arbeit als ein Sonderfall, da Musikhören sowohl kommunikative als auch imaginative Züge hat. Redewendungen wie „mit Musik ist man weniger allein“ schreiben der Musik eine Gleichartigkeit mit beseelten Erscheinungen zu.165 Musik in essentialistischer Weise zu definieren ist ein müßiges Unterfangen. Die Musik entsteht in situativen Hörkontexten als unmittelbare kommunikative und imaginative Erfahrungen affektiver Bewegungen und Atmosphären. Ihde nutzt dafür den Begriff der „auditory imagination“: “[...] auditory imagination as a whole displays the same generic possibilities as the full imaginative mode of experience. Within the active imaginative mode of experience lies the full range from sedimented memories to wildest fancy. In memory I can recall the voice of my grandmother‘s quaint Germanic ‘oncet’s’ and my grandfather’s mumbled dinner grace beginning with, ‘Komm‘n Sie Jesu’. In fantasy I can presentify and represent the sound of the world. I can imaginatively hear the strains of a flute or a cello or both [...].”166 Aus diesem Grunde erscheint es mir notwendig, die Verflechtung von Musik und Raum im Folgenden gesondert zu betrachten, bevor dann Ableitungen über Spiel-Räume der Erlebniswelt gezogen werden können. Musik kann als organisierte Klangkomposition von Geräuschen unterschieden werden. Gleichwohl direkt John Cages Beobachtung anzuschließen ist, dass auch zufällige Ereignisse oder Stille als musikalisch begriffen werden 165 Zur Bewegung durch das Musische (der Sprache) bei Platon: vgl. Revers (1970), S. 103f. 166 Ihde (2007), S. 131 67 können, solange sie in einem künstlerischen Kontext auftreten.167 Dabei wird auch klar, wie situationsgebunden Musik (und ihre Bedeutung) ist. Musik als bloße Form der Kommunikation zu verstehen, greift zu kurz, um die Verflechtung von Musik und Raum in der Hörwahrnehmung zu erläutern. Dennoch gilt, dass Musik eine assoziativ-imaginative Kraft hat, die sich auf das Raumerleben nachhaltig ausdrückt. Helga de la Motte-Haber beschreibt diese Art der Verschiebung wie folgt: „Wenn wir Musik hören, wird die Raumerfahrung noch komplizierter, weil in Interaktion mit dem umgebenden Raum und doch höchst eigenständig sich ein Hörraum ausbildet, der dem umgebenden Raum ähnelt, ihn jedoch nicht abbildet.“168 Musik trägt in sich eine räumliche Tiefe. Musik als Raumkunst zu beschreiben, ist vermutlich eine recht provokante These, obzwar der Musik immer auch eine Zeitgestalt zugewiesen wurde.169 Dies ist vor allem darin, dass Musik Zeit bewusst macht. Bedeutsam ist aber vor allem, dass Musik gleichermaßen direktional als auch atmosphärisch erfahren wird.170 Geräusche vermitteln im Allgemeinen das Gefühl von Lebendigkeit und Bewegung. Ihde charakterisiert dies am folgenden Beispiel: “[...] when sound is added to abstract figures, they ‘come alive’. I go to a movie, and a short cartoon feature precedes the main show. It consists of black and red dots that already start to ‘come alive’ when they begin to move across the green ground. But as they bounce off one another, jumbled noises mimicking speech are presented. Suddenly the moving dots in their lines and bumpings, in the presence of the ‘speech’ and sounds of ‘yelling’ become soccer players seen from above. The dots are animated by the sound that makes their motion anthropomorphically understandable.”171 Vor allen Dingen zeigen Geräusche und Klänge in Filmen dieses Phänomen auf. Der animierte Film „Waltz with Bashir“ des israelischen Regisseurs Ari 167 Cage, John (2012 [1961]): Silence. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 49. Vgl. zudem Hargreaves, David J./MacDonald, Raymond/Miell, Dorothy (2005): How do people communicate using music? S. 2. In: Miell, Dorothy/MacDonald, Raymond/ Hargreaves, David J. (Hrsg.) (2005): Musical communication. Oxford: University Press. 168 Motte-Haber (2000), S. 34 169 Vgl. Dahlhaus, Carl (1967): Musikästhetik. Köln: Hans Gerig. 170 Ihde (2007), S. 187 171 Ihde (2007), S. 82 68 Folman wird insbesondere von einigen Szenen geleitet, indem der Protagonist Gespräche mit ehemaligen Kriegskameraden führt. Dabei wirkt der Film trotz seiner cartoon-artigen Zeichnungen erstaunlich realistisch. In einer Rezension schreibt Marcel Krenzin in Bezug auf ein nicht näher angegebenes Interview mit dem Regisseur, dass erst die Tonspuren aufgenommen wurden und dann die 2300 Illustrationen zu einem Film umgesetzt wurden. 172 Die Bebilderung fand also nach der Aufnahme der Tonspur statt und basiert auf authentisch-räumlichen Geräuschen. Neben (möglichst authentischen) Geräuschen ist aber die Bedeutung von Musik in Filmen immens. Ihde berichtet eine Anekdote vom Dreh des Kubrick‘ Filmes „In 2001: A Space Odyssey“, bei welchem herausgefunden wurde, dass das langsame Driften des Raumschiffs im All nur mit Hintergrundmusik überhaupt wahrgenommen wurde.173 Musik verleiht den Bildern Bewegung und damit auch Räumlichkeit. Auch beim Stummfilm – man denke zum Beispiel an die Bildgewaltigkeit von Fritz Langs „Metropolis“ aus dem Jahr 1927 – erhielten die Bilder räumliche und emotionale Tiefe.174 Böhme weist in diesem Zusammenhang noch auf Hörspiele hin, bei denen das Gesprochene/Geschehende mit einer „Atmo“, einer Atmosphäre, unterlegt wird.175 Zwei wesentliche Aspekte, die auch aufzeigen, dass Musik räumliche Tiefe hat und somit für räumliche Folgeerfahrungen offen ist, sind zwei wesentliche Handlungen der Musikrezeption: zum einen der Tanz, wie bereits schon ausgeführt, zum anderen das Dirigieren. Im Dirigieren wird die Räumlichkeit von Musik gestisch angedeutet, in Bezug gesetzt zur Anordnung des Orchester oder Chors zum einen, aber auch imaginativ in der räumlichen Aufnahme von Höhe und Tiefe sowie Dynamik. Wenn Musizieren an sich als Raumkunst zu diskutieren wäre, so kann es doch für das Dirigieren klar festgehalten werden. Dirigenten haben ein ausgeprägtes räumliches Hörvermögen.176 Nicht nur für das Dirigieren, das die Räumlichkeit der 172 Krenz, Marcel (2009): Ein langsamer Walzer der Erinnerung: „Waltz with Bashir“. S. 25. In: Hear the World – Magazin für Hör-Kultur. Nr. 10. 173 Ihde (2007), S. 83 174 Böhme (2006), S. 78 175 Böhme, Gernot (2013): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin: Suhrkamp Verlag. S. 267; Wissmann/Zimmermann (2010), S. 374ff. 176 Vgl. Münte, Thomas F. (et al.) (2001): Neuroperception: Superior auditory spatial tuning in conductors. In: Nature, 409, 580 (1. Februar 2001). URL: https://www.nature.com/nature/ journal/v409/n6820/pdf/409580a0.pdf (Zugriff: 31. Juli 2010). 69 Musik aufnimmt, sondern auch für die Rezeption – verstärkt durch technische Möglichkeiten wie Dolby Surround – ergibt sich in imaginativer Hinsicht in der Erlebniswelt eine räumliche Umsetzung von Musik: „Das ‚De Profundis‘ des estnischen Komponisten Arvo Pärt ist ein imposantes Werk für Orgel und Gesang; einstimmiger gregorianischer Gesang. In seinem, mit dem Text des Psalm 129 (Vulgata), korrespondierenden Wechselspiels zwischen Tiefen und Höhen, bauen sich mit den Stimmen der Männer gewaltige Gesangssäulen auf, fundiert von der Orgel. Doch nicht nur Tiefen und Höhen, sondern auch in der Dynamik, dem Hervortreten und Nachlassen von Hall und Echo, schafft Pärt eine klangliche Architektur. Im Dolby-Surround tritt das Werk in einer räumlich-kontrastierten Schärfe an mich.“ Zumeist geschieht die „Verräumlichung“ der Musik in der Visualisierung von imaginativen „Klangbildern“. Musikvideos als popkulturelle Phänomen arbeiten mit ähnlichen Visualisierungen. Inbesondere Motive der Weite und Enge werden thematisch aufgenommen und umgesetzt. Musik birgt also eine räumlich-assoziative, atmosphärische Kraft. Das Musikhören über Kopfhörer beschreibt Böhme als ein Hören des „Draußens“. Es wird deutlich, dass „der Hörraum ein Raum leiblicher Anwesenheit ist, der von der Existenz konkreter Dinge unabhängig ist. Hörend ist der Hörende in gewisser Weise draußen“.177 Somit gestaltet Musik einen Raum, der leiblich anmutet. Böhme spricht davon, dass „die Musik den Raum leiblicher Anwesenheit modifiziert, [... und somit] unmittelbar auch die Modifikation des Befindens gegeben [ist]“.178 Genau dies bezeichne ich als Phänomen der Verschiebung179, da die Musik sich mit den anderen Sinneswahrnehmungen zu einem quasi-neuen Raumerleben fügt. Ein Beispiel, das viele sicherlich kennen werden: Musikhören am Strand: 177 Böhme (2006), S. 89. Ergänzend anzumerken ist an dieser Stelle eventuell, dass phänomenologisch im Hören ein „innen“ und „außen“ zusammenfluten mag. 178 Böhme (2006), S. 90 179 Ein dem Musikhören durch Kopfhörer ähnliches Phänomen ist der Blick durch eine schallisolierte Scheibe. 70 „Der Oberkasseler Sandstrand liegt rechtsrheinisch, den Rheinauen gegenüber. Durch Buhnen gewinnt der Rhein hier einen Buchtcharakter, bei ausreichender Schifffahrtsbewegung plätschern kleine Wellen an den Strand. Ich höre das typische Motorengeräusch des Fracht- und Freizeitverkehrs. Ab und an brausen Züge, in einer Entfernung von vielleicht 40 Metern parallel zum Strand, hinter mir vorbei. Eine Familie mit Kindern baut eine Sandburg, weiter entfernt sitzen Jugendliche, trinken Bier, lachen laut und hören House-Musik aus einem plärrenden Abspielgerät. Ich verschließe meine Ohren der Welt mit Kopfhörern, wähle auf meinem iPod Musik, die sich als ‚ambient pop‘ einstufen lässt. Es sind ruhige, entspannte Lieder; teils elektronisch, teils analoge Instrumente. Gesang wird, wenn überhaupt, eher als eine Art Instrument eingesetzt. Es scheint das Richtige für den Moment. Und während sich der Song in mir öffnet, erfasse ich die mich umgebende Welt wie neu. Enthoben einer alltäglichen Wirklichkeit. Ich denke darüber nach, dass, wenn ich mein Blickfeld verringern würde, den Post-Turm, die Autobahn, die Frachter ausblenden könnte, und nur auf den schmalen Wellengang blicken würde, dann könnte ich auch woanders sein. An einem fremden Ort, an einem Südseestrand, weit entfernt von Alltagshektik, von Verpflichtungen und Besorgungen. Die Musik entwirft den Raum um mich herum, als würde ich ihn soeben neu erleben. Ein Lächeln zieht meine Mundwinkel nach oben, ich fühle mich wohl.“ Die assoziative Kraft der Musik erhebt sozusagen im Erleben die Erlebniswelt zu einem quasi-alleingültigen Bedeutungsfeld, sodass wir den Raum von „innen“ heraus strukturieren.180 Damit verschiebt sich die Wahrnehmung von einer tatsächlich gegebenen Struktur hin zu einer Idee über Struktur. Das Raumerleben wird von einer sich aus der Erlebniswelt ergebenden Vorstellung geleitet. Dies schließt auch das vermeintliche Alleinsein ein, in dem man die Musik anschaltet und somit die äußere Welt „ausschaltet“. Im Vorwort von Augés Überlegungen zur Einsamkeit erzählt er von der Reise des Pierre Dupont: 180 Vgl. hierzu die ethnografischen Studien zu musikalischen Lebensentwürfen bei Vogt, Sabine (2005): Clubräume – Freiräume. Musikalische Lebensentwürfe in den Jugendkulturen Berlins. Kassel: Bärenreiter. 71 „Ein wenig träumerisch legte Pierre Dupont das Magazin zur Seite. Der Hinweis ‚Fasten seat belt‘ war erloschen. Er setzte sich die Kopfhörer auf, wählte Kanal 5 und ließ sich vom Adagio des Konzerts Nr. 1 in C-Dur von Joseph Haydn forttragen. Ein paar Stunden lang (während sie das Mittelmeer, das Rote Meer und den Golf von Bengalen überquerten) würde er nun endlich alleine sein.“181 Schönhammer nennt das, was ich als Verschiebung bezeichne, „Raumspaltung“, was eine ähnliche Metapher ist. Dies halte ich allerdings insofern für schwierig, da nicht der Raum gespalten wird, sondern es zu einer Verschiebung in der Wahrnehmung kommt. Schönhammer schreibt über das Hören von Musik über Kopfhörer (von Walkmen): „Er, der dieses Befremden erzeugt, erlebt ein komplementäres FremdWerden: er spaltet den Raum, lebt in zwei Welten. [...] er hört einen Raum, der von dem verschieden ist, in dem er steht und geht. Von mir befragte Nutzer des Geräts sprachen von einem ‚ganz anderen Raumgefühl‘; ein junger Amerikaner umschrieb sein Erleben mit der Formulierung ‚you feel spaced out‘; ein Elektromeister sagte, er fühle sich ‚wie in einem schalltoten Raum‘.“182 Es lässt sich beobachten, dass Menschen mit wenig Erfahrung des Hörens über Kopfhörer nach dem Abnehmen dieser zunächst zu laut reden. Auch kennen wir diesen kurzen Moment der Orientierung, wenn wir die Kopfhörer abnehmen. In Anlehnung an v. Dürckheim erwähnt Schönhammer auch den Verlust der „Vitalqualität“ des Raumes.183 5.2 Exkurs: Musikhören und Autofahren „Und am Wochenende steht das Auto schon vor der Schultüre, damit ja keine Minute kostbarer Freizeit dahin ist. Müde Kinder steigen zu gestreßten Eltern, und die Straßenjagd kann beginnen, unterstützt von schnellen Rhythmen, um schneller am Ziel der Erholung auf Befehl zu sein. Hat man sich befehlsgemäß erholt bei einem atemberaubenden Waldlauf oder einem Schnellmarsch den Berg hinauf und einem kurzen Blick den Berg hinunter (der Blick ist ohnedies immer derselbe), dann – auf in den Stau. Nervös dreht der Knabe am Radioknopf, weil 181 Augé (1992), S. 12 182 Schönhammer (1988), S. 29 183 Schönhammer (1988), S. 30; vgl. hierzu auch Friedrich (2010), S. 68ff. zur „Privatisierung des öffentlichen Raums durch mobilen Musikkonsum“. 72 er in die Disco und seine Mutter vor den Bildschirm will, also überholen wir die Kolonne. Wir ertragen nichts mehr, das sich nicht schnell genug bewegt. Aber nichts bewegt sich schneller, wenn wir uns von schneller Musik behämmern lassen. Nur ermöglicht uns die nervöse Motorik unserer Zeit offenbar kein anderes Verhalten mehr. Schnelle und laute Musik in Autos gehört schlicht verboten.“184 Diese Polemik aus den 1980ern von Elisabeth Haselauer ist amüsant und wirft zugleich Fragen auf. Warum lieben wir es beim Autofahren Musik zu hören? Wie beeinflusst das Gehörte unsere Fahrweise und unser Raumerleben? Ob Radio, Kassettendeck, CD- oder MP3-Spieler – bei vielen Autofahrern ist die Musik mit an Bord, auch wenn insbesondere jugendliche Fahrer dadurch auffallen, dass sie zumeist eine erhöhte Lautstärke spielen. Musik bei Jugendlichen kann als identitätsstiftend angesehen werden, womit sich diese Tendenz des Nach-außen-Tragens der „eigenen“ Musik eventuell deuten lässt: ‚hört, hier bin ich, so klinge ich‘.185 Die Hörwahrnehmung beim Autofahren ist zunächst fast ausschließlich auf die Tätigkeit, die Handlung des Fahrens, gerichtet und somit auch abhängig von den interagierenden Klängen und Signalen der Verkehrsumwelt. Die Klänge des Fahrzeugs sind die Motorengeräusche, die Signale der Fahrzeugelektronik, also die dem Auto innewohnenden Klänge. Diese Klänge machen zumeist auch das leibliche Erlebnis des Fahrens aus. Die meisten der externen Interaktionen im Straßenverkehr sind visueller Natur, und doch sind einige dieser visuellen Signale mit auditorischen Signalen verbunden: die Sirene, die Hupe anderer Verkehrsteilnehmer, das Klingeln einer sich herabneigenden Schranke. Die Sirene ist gepaart mit dem Blau- bzw. Blinklicht, ebenso wie die sich herabneigende Schranke. Die Hupe der anderen Verkehrsteilnehmer ist das einzige Signal, das nicht direkt mit einem visuellen Signal gekoppelt ist (die „Lichthupe“ außenvor gelassen). Aber darauf kann auch verzichtet werden, frei nach dem Kalauer „wer noch hupen kann, kann auch noch bremsen“. Die Welt außerhalb des Fahrzeugs ist heutzutage im Fahrerlebnis (unangenehm) still. Die geschlossene Kabine des Wagens ist weitgehend isoliert von 184 Vgl. Haselauer, Elisabeth (1986): Berieselungsmusik. Droge und Terror. Graz, Wien: Böhlau. S. 41f. 185 Vgl. Friedrich (2010), S. 71. 73 der klanglichen Dramaturgie der Umgebung. Auf Autobahnen ist sogar das Visuelle durch Bepflanzungen oder Sicht- und Schallwände oftmals eliminiert. Musikhören gibt dem Raum wieder Klang, überblendet die Stille, verleiht Bewegung. Die Motivation im Auto Musik zu hören kann unterschiedlicher Natur sein. Das Radio kann angeschaltet sein, damit die Verkehrsnachrichten nicht verpasst werden. Oftmals ist das Radio generell an, und die jeweiligen Fahrer und Fahrerinnen haben sich noch nie Gedanken darüber gemacht, warum es an ist. Musik kann aber auch stimulierend sein: Lange Autofahrten über Land186 sind für viele undenkbar ohne musikalische Untermalung. Musik kann Müdigkeit beim Autofahren vertreiben, Musik im Straßenverkehr kann ebenso aufputschen wie beruhigen. Musikhören kann zwar unter Umständten die Konzentration beeinträchtigen, sodass wir beim Rückwärtseinparken ohne Nachdenken die Musik leiser stellen. Auf der Autobahn hingegen stellen wir die Musik lauter. Allerdings ist weniger die Musik im Fahrzeug an sich als der Fahrstil der Person für die Verkehrssicherheit ausschlaggebend.187 Autofahren und Musikhören hat eine lange Tradition, die nicht zuletzt durch die zweckmäßige Verbindung von Bewegung im Film und Musik gefördert wurde. Fahrerlebnisse werden von Musik gesteigert und angefacht, und wer den röhrenden Auspuff nicht hat, begnügt sich eben mit einer röhrenden Musikanlage. Doch ebenso wohnt dem Musikhören phänomenologisch ein Bewegen inne, das dem Reise- und Fahrerlebnis auf der Straße, in der Bahn und im Flugzeug sehr nahe kommt und rhythmisch von Aufbruch, Fern- und Heimweh sowie von Ankommen kündet.188 186 Die inszenierte Verbindung von „Roadtrips“ und Rockmusik ist ein wiederkehrendes Motiv in vielen Spielfilmen, sogenannten Roadmovies. Als Klassiker gelten dabei sicherlich Filme wie „Easy Rider“ (1969, R.: Dennis Hopper), „Vanishing Point“ (1971, R.: Richard C. Sarafian) und auch „Thelma & Louise“ (1991, R.: Ridley Scott). Bücher der Beat Generation wie Jack Kerouacs „On the Road“ bildeten dabei eine wesentliche Inspirationsquelle. 187 Motte-Haber, Helga de la/Rötter, Günther (1990): Musikhören und Verkehrssicherheit. S. 7–26. In: Motte-Haber, Helga de la/Rötter, Günther (Hrsg.) (1990): Musikhören beim Autofahren. Acht Forschungsberichte. Frankfurt am Main: Peter Lang. 188 Vgl. literarisch hierzu die berührende Verbindung zwischen den Stücken von Neil Young und dem Autofahren bei Kermani, Navid (2013 [2002]): Das Buch der von Neil Young Getöteten. Berlin: Suhrkamp Verlag. S. 76f. 74 5.3 Musik, Interaktion und erlebnisweltliche Effekte Ein interessantes soziales Event, bei dem das Phänomen der Verschiebung in eine räumliche Praxis umgesetzt wurde, war ein „flash mob“ im April 2007 in der Londoner U-Bahn. Ein Augenzeuge berichtet: “On Wednesday evening, at the height of the rush hour, I wandered into Victoria station to get some money out of the cashpoint. Ordinarily, crossing the concourse of the station involves dodging streams of people striding to platforms, and circumnavigating the clots of them milling under departure boards. But this was different. The station was full of people dancing: hundreds and hundreds of people dancing, dressed up, some of them, as if to go clubbing, all grinning their heads off and waving their arms and shaking their booties and – apart from the occasional yelp of enthusiasm – all doing so in complete silence. What on Earth was going on? A moment later, I realised what was up. Trailing from every ear was the distinctive white filament of an iPod‘s headphones. This was a silent disco. I had blundered into a flashmob.”189 Dabei wird auch deutlich, dass die Wahrnehmung eines gestimmten Raumes aus der Erlebniswelt selbst heraus intersubjektiv geschehen kann. Dies zeigt klar, dass das Phänomen der Verschiebung somit auch als Spiel-Raum gewertet werden kann und es sich nicht um subjektiv zu erlebende Einzelphänomene handelt. Die U-Bahn-Station wurde für die Dauer der Aktion zur Tanzfläche. Auch Bachelard beschäftigt sich in „Poetik des Raumes“190 mit den sich aus musikalischer Rezeption ergebenden Erlebnisräumen. Dabei bemüht er die Unermesslichkeit als Kategorie philosophischer Träumerei. Die Träumerei, die ursprüngliche Kontemplation, flieht „das nahe Objekt, und sogleich ist sie weit weg, anderswo, in dem Raum des Anderswo“.191 Solche Träumereien zu dem Raum des Anderswo wären ohne die Phantasie als Medium kaum möglich. Die Erfahrung von Raum in Musik ist folglich ein kreatives Erleben, ein Inkraftsetzen des Raumes. Genau aufgrund dieser räumlich-ima189 Leith, Sam (2007): Dancing to the music of a virtual world. Telegraph. URL: https://www. telegraph.co.uk/comment/personal-view/3638997/Dancing-to-the-music-of-a-virtualworld.html (Zugriff: 31. Juli 2010). 190 Bachelard, Gaston (2007): Poetik des Raumes. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. S. 195f. 191 Bachelard (2007), S. 186 in Rückgriff auf Supervielle, L‘escalier, S. 124: „La distance m‘entraine en son mouvant exil.“ 75 ginativen Kraft der Musik kommt diese als Gestaltungspotenzial für SpielRäume in Frage. Inwiefern kann Musik jene Vorstellungen überhaupt kommunizieren? Wie ist das Verhältnis von Kommunikation und Interaktion bezogen auf die Musik? Kann Musik als Interaktion räumliche Beteiligung generieren? „Moritz ist nun vier Monate alt. Er liegt in einem Maxi-Cosi auf dem Boden im Wohnzimmer und beobachtet mit Interesse die sich ihm darbietende Welt. Wenn ich mit ihm Kontakt haben möchte, muss ich seine Aufmerksamkeit gewinnen. Ich kann rufen, er dreht den Kopf. Ich kann mit den Fingern schnippen, er dreht den Kopf. Ich kann laut husten, er dreht den Kopf. Moritz Aufmerksamkeit wird von fast allen Geräuschen gewonnen. Vier Monate später ist es schwieriger mit x-beliebigen Geräuschen seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es gelingt aber, indem ich seinen Namen rufe. Er kennt nun seinen Namen, heißt es. Rufnamen generieren sofort Aufmerksamkeit. Moritz hat Zuhören gelernt, jeden Tag ein wenig mehr. Er kann die vielen Geräusche und Klänge zunehmend von anderen unterscheiden. Ein Fingerschnippen allein reicht nicht mehr aus. Über die beobachteten Monate hinweg bleibt aber eine Klangquelle immer besonders. Es ist die Musik oder: das Klavier. Es übt eine seltsame Kraft aus, gewinnt meist seine Aufmerksamkeit. Je mehr er das Klavier kennenlernt, desto aktiver verhält er sich. Er wippt, versucht die Töne zu imitieren, möchte selber Tasten drücken. Da wird mir bewusst, dass Musik für ihn Interaktion IST.“ An diesem Beispiel wird das Verhältnis zwischen den Begriffen „Kommunikation“ und „Interaktion“ deutlich. Musik als Kommunikation zu begreifen, gelingt nicht, sofern man danach fragt, was eigentlich kommuniziert wird. Zwar können wir annehmen, dass in und mit Musik gefühlige Bedeutungen kommunziert werden, doch nach der Intention eines Senders und der entsprechenden Rezeption eines Empfängers zu fragen erscheint aus phänomenologischer Perspektive als redundant. Hinzu kommt, dass „art can exist without the need to communicate anything at all“192. Musik kann sich zudem den 192 Goehr (1992) S. 131 zit. in Juslin, Patrick N. (2005): From mimesis to catharsis: expression, perception, and induction of emotion in music. S. 105. In: Miell, Dorothy/Macdonald, Raymond/Hargreaves, David J. (Hrsg.) (2005): Musical Communication. Oxford: University Press. 76 zugewiesenen Bedeutungen im Erlebnis vollkommen entziehen. Musik als Interaktion zu begreifen erscheint pragmatisch um zu erklären, dass Musik uns in räumliche Beteiligung, sprich eine Handlung, versetzt. Mit anderen Worten: Musik hat folglich eine (leiblich) kommunikative Seite, aber damit allein lässt sich die suggestive Kraft musikalischer Bewegungen, die uns leiblich im Hörerlebnis erfassen, nicht erläutern. Im Musikhören werden wir zu räumlicher Beteiligung insofern angeregt, als wir zum einen den Raum in Felder der (Be-)deutung strukturieren und zum anderen und unabhängig davon ein Strukturieren von „innen“ heraus kraft der erlebnisweltlich-imaginativen Phantasie ermöglicht wird. Es ist natürlich schwierig zu bestimmen, welche Vorstellungen und (Klang-) Bilder Musik subjektiv auslöst. Hilfreich ist dabei, die konsumierte Musik in einen Zusammenhang mit anderen Gütern zu stellen, sodass im Umkehrschluss ein Zusammenhang zwischen Lebensstil und musikalischen Vorlieben wiederhergestellt werden kann. Dabei verkleidet sich die Musik als Konsumgut allzu oft als triviale Vorliebe für dieses oder jenes, was wiederum musikalische Serienproduktion und Vermarktung möglich macht. Die Kategorisierung von Musikstilen geht somit in einer Zuordnung zu Subkulturen auf, deren vermeintlich typischen Werte, Vorstellungen, Klänge und Bilder bedient werden.193 Mit dieser Erkenntnis hat sich in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Verkaufsförderung und des Marketing ein Trend zum sogenannten „Audio Branding“ entwickelt. Klänge sollen als Werte und Vorstellungen interagieren. Dies bezieht sich zum einen hauptsächlich auf Logos und Slogans, die in den Medien transportiert werden. Allerdings lässt sich durchaus auch eine Art räumliches „Audio Branding“ beobachten. Das Geschäftslokal selbst wird zum Produkt. Ein Beispiel aus einer Shopping-Mall: 193 Faktisch geschieht dies bereits durch die Sammlung von Hörgewohnheiten verschiedener Dienste im Internet wie beispielsweise www.last.fm. 77 „Ich möchte Schuhe kaufen und besuche aus diesem Grund die City-Galerie in Siegen, eine Shopping-Mall in der Innenstadt. Wenn ich dort ein Schuhgeschäft entdecke und es auch betrete, wird mir durch die gespielte Musik oft klar, ob ich hier fündig werde oder nicht. Ich betrete eine Filiale der Kette ‚Runners Point‘, die Sportbekleidung als auch Schuhe verkaufen, die nur im weitesten Sinne mit Sport als Zweckbekleidung zu tun haben. Die Lautstärke der Musik im Ladenlokal schallt bis weit in den Gang vor den Geschäftsräumen hinaus; mit meinem Betreten dieses Klangraums umschließen mich die harten Beats eines geläufigen Dance-Klassikers. Die Musik scheint unvereinbar mit meiner Suche nach einem gediegenen Halbschuh zu sein, sodass ich das Ladenlokal wieder verlasse, ohne mich intensiv mit der Auswahl beschäftigt zu haben. Ich werde später in einem Schuhgeschäft fündig, indem in geringerer Lautstärke Gitarrenpop gespielt wird.“ Durch die Musik werden Botschaften transportiert, die sich mit den Vorstellungen und Erwartungen an den Zweck meines Betretens eines – in diesem Falle scheint mir dieser Begriff am angemessensten – Territoriums decken. Der Einsatz von Musik in Kaufhäusern hat eine lange Tradition. Haselauer vermutet, dass das Kaufhaus eines der ersten nicht-privaten Orte gewesen ist, an denen dauerhaft Musik präsent war.194 „Muzak“, in Abwandlung des Begriffes „Musik“, geht auf die amerikanische Firma Muzak Inc.195 zurück. Muzak ist funktionelle Musik, die in Kaufhäusern, Fahrstühlen, Hotel-Lobbys etc. eingesetzt wird, um andere Geräusche zu überblenden und um eine vermeintlich wohltuende Atmosphäre herzustellen.196 Dabei wird Muzak sehr leise eingesetzt, um den Hörer unbewusst in eine entspannte Gestimmtheit zu versetzen, die ihn erhöhtem Kauf und Konsum von Waren verleitet.197 Bei Schafer findet sich ein Zitat, das die Wirkungsweise von Muzak beschreibt: 194 Vgl. Haselauer (1986), S. 37 195 Das Unternehmen meldete Anfang 2009 Konkurs an und wurde aufgekauft. 196 Vgl. Rösing, Helmut (1997): Musik im Alltag. S. 113–130. In: Bruhn, Herbert/Oerter, Rolf/Rösing, Helmut (Hrsg.) (1997): Musikpsychologie – Ein Handbuch. 3. Auflage. Hamburg: Rowohlt. 197 Vgl. Klußmann, Jörg (2005): Musik im öffentlichen Raum. Eine Untersuchung zur Musikbeschallung des Hamburger Hauptbahnhofs. Osnabrück: Electronic Publishing. 78 “Each 15-minute segment of MUZAK contains a rising stimulus which provides a logical sense of forward movement. This affects boredom or monotony and fatigue.“198 Ein weiteres Phänomen, das sich zuweilen auf öffentlichen Toiletten (sanifair-Anlagen auf deutschen Autobahnraststätten etc.) oder in Krankenhäusern (z. B. während einer Kernspintomografie etc.) antreffen lässt, ist das sogenannte „akustische Parfüm“; oder in den USA zumeist „white noise“ genannt. Dabei werden Umweltgeräusche simuliert, die andere – oft als unangenehm empfundene – Geräusche maskieren sollen. Die British Tinnitus Association verweist zum Beispiel auf ihrer Webseite auf eine Software mit dem Namen „Aire Freshener“.199 Ebenso sind im Handel Wecker mit eingebauter „white noise“-Funktion erhältlich. Dass sich Musik zur Leistungssteigerung eignet, ist eine weit verbreitete Annahme, die sich vor allen Dingen in Wander-, Marschier- und Arbeitsliedern niedergeschlagen hat. Klußmann weist auf den Film „Dancer in the Dark“ (2000) von Lars von Trier hin: „Nachtschicht in einem Presswerk. In der Fertigungshalle sind Arbeiterinnen und Arbeiter damit beschäftigt, den maschinellen Produktionsrhythmus aufrecht zu erhalten: riesige Stanzmaschinen wollen regelmäßig mit Metallplatten gefüttert werden, etwaige Fehlpressungen gilt es sofort zu entsorgen, damit der Fertigungsprozess nicht zum Erliegen kommt. Ein monotoner Arbeitsablauf zu später Stunde – zwei Faktoren, die die Aufmerksamkeit der Beschäftigten auf eine harte Probe stellen, denn ständig drohen Ermüdungserscheinungen und damit ein Leistungsabfall. Doch plötzlich erklingt Musik und die Müdigkeit ist wie weggeblasen. Die Geräusche der Maschinen verdichten sich zu einem synkopierten Rhythmus, bald ergänzt durch tonale Instrumente. Zwei der Arbeiterinnen heben darauf ihre Stimmen zu einem Duett und singen eine Ode an die ‚Klapper-Maschine‘, während sie sich mit den übrigen Beschäftigten einer Tanzchoreografie hingeben: ‚A clatter machine – What a magical sound – And full of noises – That spins uns around‘.“200 198 Schafer (1994), S. 97 199 Handscomb, Lucy/McKinney, Catherene (2006): Sound Therapy. British Tinnitus Association. URL: https://www.tinnitus.org.uk/index.php?q=node/61 (Zugriff: 31. Juli 2010). Die Software „Aire Freshener“, die ich zum Teil während des Arbeitens an dieser Untersuchung ausprobiert habe, kann hier heruntergeladen werden: https://www.peterhirschberg.com/ mysoftware.html (Zugriff: 23. Juni 2014). 200 Klußmann (2005), S. 36 79 Kraft der Erlebniswelt kann Musik den umgebenden Raum umdeuten. Musik kann zu einer Raumvergessenheit führen, die sich wiederum auf das Handeln auswirkt. Einen Effekt zwischen Therapie und Kunst erhofft sich auch das Badehaus Masserberg in Thüringen. Dort lässt sich Unterwasser-Musik erleben. An den Beckenrändern sind im Wasser Liegen nutzbar, bei denen der Kopf bis über die Ohren unter Wasser bleibt. Der Klang der Musik ist deutlich und wirkt entspannend. Das Badehaus wirbt auf seiner Webseite wie folgt: „Das Klangbecken erhält seinen Namen durch die Unterwasser-Beschallungsanlage: 6 Lautsprecher geben verschiede [sic!] Lautquellen ins Wasser. Man hat so die Gelegenheit, unter Wasser andere Musikklänge zu hören, als an der Luft. Vor allem ist hier eine Klanginstallation von Monika von Wedel zu erleben. Sie hat sich seit geraumer Zeit auf Klangobjekte spezialisiert. Eine weitere Arbeit ist in der obersten Splitter-Ebene der Prof. Volhard-Klinik zu sehen und hören. Die Installation besteht aus optischen Sensoren, die in den Marmor- FSchlüssel auf dem Beckengrund eingelassen sind, diese informationen [sic!] werden durch einen Sampler in verschiedene Töne und Klänge umgewandelt, die dann über die Unterwasserlautsprechen [sic!] hörbar gemacht werden: das bedeutet, dass man seine ‚eigene Musik‘ machen kann. Neben den bequemen Sprudelliegen kann man den Wasserfall an der Zickzack – förmigen Blue Pearl -Marmorwand beobachten.“201 Böhme führt für solche Arten funktionaler Klänge den Begriff der „akustischen Möblierung“202 ein und weist zu Recht daraufhin, dass solche Klänge auch als Instrumente der Macht bzw. zur Manipulation eingesetzt werden können. Ebenso gibt es durchaus enge Beziehungen zwischen Musik und Folter.203 201 Badehaus Masserberg (o. J.): URL: https://www.badehaus-masserberg.com/klang.html (Zugriff: 31. Juli 2010). 202 Böhme (2006), S. 90; dies ist vermutlich ein Rückgriff auf Erik Saties Begriff der „musique d‘ameublement“. 203 Grant, Morag Josephine/Papaeti, Anna (Hrsg.) (2013): Music and Torture – Music and Punishment. The World of Music (New Series), Vol. 2, Issue 1. Berlin: VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung. 80 5.4 Exkurs: Klang, Raum und Macht Dies führt uns zu einem weiteren Aspekt der Beziehung zwischen Klang und Raum: Macht. Klangräume sind invasiver Natur, wir können uns die Ohren zu halten, doch mehr auch nicht. Die Kontrolle dessen, was wir hören, obliegt folglich dem, der den Klang, das Geräusch bzw. seine Quelle kontrolliert. Wir haben bereits gesehen, wie Musikberieselung in zum Beispiel Kaufhäusern und auch im öffentlichen Raum eingesetzt wird. Die gegenwärtige wissenschaftliche Beschäftigung mit Macht stellt die Legitimation dieser zumeist in Frage. Im Rahmen dieser phänomenologischen Arbeit ist die Beschäftigung mit den Legitimationsansprüchen von ausgeübter Macht nicht vorrangiges Ziel und Gegenstand. Nichtsdestotrotz ist es notwendig knapp anhand einiger Beispiele Zusammenhänge aufzuzeigen und zu problematisieren, da die Phänomenologie zwar eine beschreibende und verstehende Haltung einnimmt, aber gleichwohl keine unkritisch-affirmative Position bezieht. Musik im öffentlichen Raum muss nicht zwangsläufig mit negativer Machtausübung verbunden sein. Ich erinnere mich an folgendes Erlebnis: „Ich kann mich gerade noch so in die Metro zwängen, bevor sich hinter mir die Türen schließen. Die Metro in São Paulo zur Rush-Hour ist stets maximal ausgefüllt. Ich stehe dort schwitzend zwischen schwitzenden Menschen, mit ihren Gerüchen, ihren Blicken, ihren Geräuschen. Die meisten von ihnen schweigen, schnaufen, räuspern sich und starren vor sich hin oder hinaus, obwohl es draußen nur das Dunkel des Tunnels zu sehen gibt sowie die sich in der Scheibe spiegelnden Menschen im Abteil. Doch die Metro-Fahrten in São Paulo haben eine Besonderheit: Man wird von klassischer Musik begleitet. Tag und Nacht läuft zwischen den Stationsansagen Musik von Beethoven bis Wagner. Es wirkt beruhigend, es gibt Sicherheit. Und während ich zwischen den Menschen stehe, fällt mir auf, dass wir nun alle, die wir hören können, von Ravels ‚Bolero‘ beherrscht werden.“ Von Musik beherrscht sein, kann positiv sein, wenn es einen Konsens über die Musik gibt. Die Auswahl klassischer Musik der paulistanischen Verkehrsbehörden wird sicherlich von diesem Gedanken geleitet sein.204 In anderen Fällen kann Musik auch als störend empfunden werden und somit als 204 Vgl. Diskussion zu „Klassik als Konsens?“ bei Klußmann (2005), S. 68ff. 81 Affront. Bei Derek Gregory findet sich folgende Anekdote aus dem IrakKrieg 2003 über die Situation in Bagdad: “[...] tanks crashing through walls in the dead of the night, sledgehammers breaking down doors, prisoners pushed and shoved outside, duct tape slapped over their eyes and plastic cuffs snapped on their wrists; houses ransacked, torn upside-down by soldiers bellowing abuse and leaving with their frightened prisoners to the blare of rock music echoing through the streets.”205 Von der innerkoreanischen Grenze wird berichtet, dass Südkorea große Lautsprecher in Richtung Nordkorea aufgestellt hat, um nordkoreanische Grenzsoldaten mit westlicher Popmusik, Werbung und sogar erotischen Beiträgen zu demoralisieren. Die Geschichte der Lautsprecher ist ebenso eine Geschichte des Missbrauchs dieser: “We know that the territorial expansion of post-industrial sounds complemented the imperialistic ambitions of the Western nations. The loudspeaker was also invented by an imperialist, for it responded to the desire to dominate others with one‘s own sound. As the cry broadcasts distress, the loudspeaker communicates anxiety. ‘We should not have conquered Germany without.... the loudspeaker,’ wrote Hitler in 1938.”206 Totalitäre Regimes neigen anscheinend – ganz im Orwell‘schen Sinn207 – zum überbordenden Einsatz von Lautsprechern zur permanenten Penetration privater Rückzugsbereiche. Dies ist ein bekanntes, gut dokumentiertes Phänomen im nationalsozialistischen Deutschland, ebenso ist es bekannt aus Nordkorea. Sehr vorsichtig zu vergleichen ist die Durchdringung des Alltags durch Lautsprecher mit religiösen Botschaften. Ich habe bereits auf die Rolle von Kirchenglocken und Muezzinen hingewiesen, deren Klänge ebenso den öffentlichen Raum als auch privaten Raum durchdringen. 205 Gregory, Derek (2004): The Colonial Present. Malden, Oxford, Carlton: Blackwell Publishing. S. 240f. 206 Schafer (1994), S. 91 207 Orwell, George (2006): 1984. Berlin: Ullstein; vgl. auch die allgegenwärtige Musikbeschallung in der Sozialutopie von Bellamy, Edward (1888): Looking Backward From 2000 to 1887. URL: https://web.resist.ca/~nemesisa/bellamy-das-jahr-20001.htm (Zugriff: 31. Juli 2010). 82 Schafer führt den Begriff der „Schizophonie“208 ein, der die Aufspaltung des Lauts in einen ursprünglichen und einen elektroakustisch übertragenen oder reproduzierten Laut umschreibt. Die Kontrolle des Raumes durch Lautsprecher ist in der Weiterführung des Gedankens dem Panoptikum sehr ähnlich. Während der panoptische Blick auf dem Wunsch des ‚Sehens ohne gesehen zu werden‘ basiert, ist der schizophone Laut von der Idee durchdrungen ‚gehört zu werden, ohne gesehen werden zu müssen‘. Ein wesentliches Merkmal der Schizophonie ist, dass diese Klänge aus Zeit und Raum herausgelöst werden, um an einem anderen Ort – zu welchem Zweck auch immer, ob positiv oder negativ – Zeit und Raum zu beherrschen. 208 Schafer (1994), S. 90 83 6 Klangraum, Atmosphäre und das Mitten-drin-Sein Gedanken zur Andächtigkeit und Brachialität von Spiel-Räumen in Kirchen und auf Rockkonzerten 6.1 Heilige Räume und die Anmutung des Numinosen „Ich trete im Fluss eines Besucherstroms durch die großen Holztüren in die Sacré-Coeur. Der Besucherstrom wird an den Seiten entlang durch das Gebäude geleitet; durch ein kleines Holzgatter kann ich dem Strom mit seinen raschelnden Bewegungen, Schritt- und Kindergeräuschen entrinnen. Durch das Holzgatter gelangt man zu den Sitz- und Gebetsbänken im Langhaus der Kirche. Ich setze mich hin mit dem Ziel mich von der andächtigen Stimmung erfassen zu lassen. Im Chor singen einige Schwestern und eine von ihnen verliest dann einen Text aus der Bibel. Ihr Gesang erfüllt den ganzen Kirchenraum. Ich kann in verschiedenen Ecken des Baus kleine Boxen entdecken. Ein erhabener Hall-Effekt erfüllt die Kirche. Obschon das Rauschen der vielen Besucher, die langsam die Kirche durchschreiten, eine seltsame Koexistenz bildet.“ Kirchenbauten wie die Basilika Sacré-Coeur auf dem Hügel von Montmartre in Paris, haben eine unweigerlich hohe atmosphärische Dichte.209 Die sich ergebende Stimmung bezeichnen wir oft als andächtig. Andacht ist dabei ein besinnlich-meditativer Zustand, eine innere Stille. Kirchliche Bauten erwecken, oft durch den Hall-Effekt bestärkt, eine ehrfürchtige Ruhe. Obzwar auch kulturell vermittelt, wird mittels der baulichen Gestaltung der Kirche 209 Vgl. hierzu die sehr ähnlichen Erfahrungen von Ihde (2007, S. 50f.) in der Pariser Kathedrale Notre Dame. 85 durch eine äußere Weite innere Zurückgezogenheit hergestellt. Liturgie210 oder ähnliche rituelle Handlungen wie im Beispiel der Gesang und die Rezitation unterstützen die Gefühlsmächtigkeit des Raumes. Durch den Hall (und die technische Unterstützung) wird die Aufmerksamkeit aber nicht räumlich verortbar. Richtungshören („directionality“) ist in Kirchenbauten oftmals kaum möglich. Wesentlicher ist das Umgebungshören („surroundability“), ein Eingetaucht-in-Klang-Sein. Kirchliche Räume oder religiös-rituelle Räume (Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel, etc.) sind somit Spiel-Räume der Erlebniswelt, weil sie außergewöhnliche Lust-Erlebnisse bieten. Die Beziehung zwischen Musik und Architektur wurde bereits untersucht. Der Komponist Wolfgang Rihm stellt fest: „Die Architektur kann organische Formen zitieren, Musik ist organische Form.“211 Da ich mich in meiner phänomenologischen Arbeit allerdings stärker auf die (Hör-)Wahrnehmung und das Raumerleben fokussiere, erscheint es mir sachdienlicher, mich weniger der Architektur selbst als dem durch Architektur gestalteten Innenraum zuzuwenden. Gleichwohl möchte ich die Beziehung zwischen Architektur und Musik in der Gestaltung anerkennen und implizit meinen Ausführungen zugrundelegen. Bevor wir uns aber über Atmosphären und ihre Wirkungen Gedanken machen können, stellt sich doch die Frage, inwieweit religiös-rituelle Räume von einer – zumindest kulturell vermittelten – „Heiligkeit“ geprägt sein können. Was unterscheidet diese Räume in ihrer Bedeutung212 für uns Menschen von anderen Räumen? Selbst der säkularisierte Mensch erfährt die Anmutung der „Heiligkeit“ bestimmter Orte, die an außeralltägliche Bedeutungen geknüpft sind und an das „religiöse Raumerlebnis“ erinnern.213 Das hebräische Wort für „heilig“ (‫ )קדוש‬bezeichnet etwas „Besonderes“ und steht in Abgrenzung zu „profan“ (‫)חולין‬, das für „weltlich“, „alltäglich“ benutzt wird.214 210 Ihde (2007), S. 173 erwähnt dezidiert die Liturgiker, deren dramaturgischer Einsatz der Stimme bestimmte auditorische Präsenz erlangt. Dies lässt sich der Atmosphären-Gestaltung durch Bühnenbilder – auf die Böhme sehr stark rekurriert – ergänzen. 211 Rihm, Wolfgang (2003): Notizen zur Musik und Architektur. S. 72. In: Metzger, Christoph (Hrsg.) (2000): Musik und Architektur. Saarbrücken: Pfau-Verlag. 212 Zumindest für im jüdisch-christlichen Bedeutungssystem verwurzelten Zuschreibungen. 213 Eliade, Mircea (1998): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag. S. 25 214 Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto legte eine Religionsphänomenologie der Erfahrung des Heiligen vor, in dem er dieses als das Numinose bestimmt, vor dem sich der Mensch eher graut als dass dieses ihn auch fasziniert. – Otto, Rudolf (2004 [1917]): Das 86 Sakrale Räume sind herausgehoben aus dem Alltäglichen, sie sind besonders. Dazu werden bestimmte Techniken zur Gestaltung der Atmosphären verwandt, die den Raum „heiligen“.215 Vermutlich sind also sakrale Räume die ältesten Spiel-Räume der Erlebniswelt. Eliade weist diesbezüglich auf die enge Verbindung im kosmologischen Symbolismus zwischen der Sakralarchitektur und den „primitiven“ Wohnungen – die als imago mundi das Zentrum der Welt darstellen – hin.216 Die Heiligkeit ist zudem oft dialektisch mit dem Ort verbunden. Bollnow schreibt dazu: „Daß christliche Kirchen vielfach am Ort älterer heidnischer Heiligtümer liegen, das ist in einer solchen sogar unabhängig von der Verschiedenheit der Religionen empfundenen Heiligkeit des Orts begründet.“217 Die Hagia Sophia in Istanbul (Türkei) war einst byzantinische Kirche, später Moschee; die Umayyaden-Moschee in Damaskus (Syrien) war einst Tempel des Wettergottes Adad (Ba‘al), dann christliche Kirche und heute Moschee; das Kloster Alt-Schuamta in Kachetien (Georgien) steht auf dem Fundament eines antiken Tempels.218 Bollnow zitiert Ernst Cassirer aus dessen „Philosophie der symbolischen Formen“: „Die Heiligung beginnt damit, daß aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird.“219 215 216 217 218 219 Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: Verlag C.H. Beck. Eliade (1998), S. 28 Eliade (1998), S. 53. Vgl. hierzu auch aus religionswissenschaftlicher Perspektive die Bedeutung des Wohnens: Tweed, Thomas A. (2006): Crossing and Dwelling. A Theory of Religion. Cambridge, London: Harvard University Press. S. 103ff. Bollnow (2004), S. 142 Natürlich dürfen hier nicht politische Gründe übersehen werden; dennoch erhält sich so (oder kann sich gerade deswegen erhalten) die Heiligkeit dieser Orte. Man könnte von einem ‚Glaubenskrieg des Atmosphärischen‘ sprechen, wenn die jeweilige religiöse, liturgische Gestaltung der Atmosphären in Konflikt steht mit anderen. Ein prägnantes Beispiel ist die Jerusalemer Grabeskirche, in der sich unterschiedliche Atmosphären ein Gebäude teilen müssen. Cassirer (o. J.), II. Bd., S. 123 zitiert in Bollnow (2004), S. 143f. 87 Diese Bedeutung hat in der Gestaltung heiliger Räume ihren Niederschlag gefunden. Sakralbauten umspannen oft in ihrer Symbolik die ganze Welt in ihrer Ausdehnung, in ihren Richtungen.220 Das Erleben von heiligen Räumen ist von einer Stimmung geprägt, in der die Weite des Raumes (im Hören erlernt durch den Hall) auf eine innere Zurückgezogenheit trifft. Der Hall-Effekt lässt uns den Raum als tief und weit erscheinen. Betrachten wir nun die atmosphärische Dichte von Kirchen, so muss jede Beschäftigung mit ihrer Wirkmächtigkeit zunächst mit der assoziativen Kraft der Interpretation des Heiligen beginnen. Böhme weist allerdings zu Recht darauf hin, dass die Interpretation von Atmosphären sich von diesen verselbstständigt.221 Das Bezeichnen der gefühlten Atmosphären stellt sich methodisch als Herausforderung dar und eröffnet diskursive Möglichkeiten ihrer Deutung. Die Anmutung des Numinosen beispielsweise ist eine Erfahrung, die durch ihre subjektive Erlebbarkeit schließlich ihre Gültigkeit hat. Es ist allerdings anzumerken, dass diese Erfahrung nicht an eine Religion gebunden ist.222 Wenn von der Erfahrung der göttlichen Anwesenheit in kirchlichen Räumen die Rede ist, dann bezieht sich dies auf die subjektive Prämisse dieser Präsenz unter welche das Atmosphärische gedeutet wird. Dies schlägt sich beispielsweise in kirchlichen Liturgien223 nieder, die gestaltend auf die Atmosphären einwirken. Jürgen Hasse spricht von einer „leiblichen Zudringlichkeit“ in Kirchen und betont schließlich die Macht der „Einverleibung“, die das Hören in Kirchen bestimmt.224 Er schreibt: „Die Erzeugung von Atmosphären und Stimmungen, die über eine Verschmelzung mit spezifischen Klangvolumen am eigenen Leib unmittelbar erlebt werden, setzt an diesen architektonischen Gestaltungseffekten an und steigert sie zugleich. Der Widerhall des gesprochenen 220 221 222 223 Vgl. Eliade (1998), S. 53f. Böhme (2006), S. 139ff. Vgl. Diskussion bei Hasse (2005), S. 313 Zu den Handlungsorten im liturgischen Raum vgl. Richter, Klemens (1998): Kirchenräume und Kirchenträume – Die Bedeutung des Kirchenraums für eine lebendige Gemeinde. Freiburg: Herder. Ebenso auch Bürgel, Rainer (Hrsg.) (1995): Raum und Ritual: Kirchenbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 224 Hasse (2005), S. 56 88 Wortes von der Kanzel folgt dieser Programmatik ebenso, wie die von der Kirchenmusik über die versammelte Gemeinde sich ausbreitende Atmosphäre des Heiligen und Sakralen. Die Einverleibungseffekte entstehen dabei nicht zufällig. Sie sind Niederschlag von Praktiken und Teil eines Programmes, das für den Fall der Inszenierung von Sprache und Kirchenmusik mit bestimmten Bedeutung liturgisch eingesetzt worden ist und wird.“225 Diese Einverleibung ist eine leibliche Bemächtigung, das die Liturgie wechselseitig bedingt und beeinflusst. Gefühl und Zudringlichkeit wird in diesen programmatischen Spiel-Räumen der Kirche für das Hören (und im Hören) inszeniert. 6.2 Exkurs: Räume des Gebets Während der sakrale Raum einer Kirche, einer Moschee oder einer Synagoge als Aktionsräume für Gebete und gottesdienstliche Rituale gedacht werden können und liturgische Handlungsorte ausbilden, so ist entsprechend das persönliche Gebet als religiöse-rituelle Praxis weniger im sozialen als im persönlichen Raum verortbar. Gebete als den weltlichen Umständen entrückter Kontakt zu Gott sind für Gottesgläubige alltägliche Praktiken, die zumeist in der Stille bzw. an einem ruhigen Ort geschehen. Davon ausgeklammert ist das familiäre Tischgebet, das eine Form sozialen Miteinanders darstellt. In allen drei Weltreligionen, d. h. im Christentum, im Islam und im Judentum, kennt man sowohl öffentliche, gemeinschaftliche als auch private Gebete. Im Islam ist das Gebet an bestimmte zeitliche Strukturen geknüpft, was im Christentum als auch im Judentum in dieser Weise keine Entsprechung findet. Das christliche Gebet findet im Vergleich zur Gebetspraxis der Juden und Muslime eher im privaten oder im halb-öffentlichen Raum statt. In der christlichen Theologie wird das Gebet oft an einem ruhigen Rückzugsort praktiziert. In der Beschreibung der biblischen Figur Daniel im Alten Testament der findet sich im gleichnamigen Buch in Kapitel 6, Vers 11, folgende Ortsbeschreibung: „Und als Daniel erfuhr, dass das Schriftstück ausgefertigt war, ging er in sein Haus. Er hatte aber in seinem Obergemach offene Fenster nach 225 Hasse (2005), S. 56f. 89 Jerusalem hin; und dreimal am Tag kniete er auf seine Knie nieder, betete und pries vor seinem Gott, wie er es auch vorher getan hatte.“226 Christliche Gebete als Formen des räumlichen Rückzugs erfordern eine privat-intime Atmosphäre, die Stille und Kontemplation aufweist und zulässt. Zu diesem Zweck finden sich in Krankenhäusern, Flughäfen, Bahnhöfen und an Autobahnraststätten sakrale Räume wie kleine Kapellen oder Gebetsräume. Diese Räume unterscheiden sich von Kirchen dadurch, dass sie Stille bzw. Ruhe, und weniger Erhabenheit bieten. Dies gilt ebenfalls für entsprechende Gebets und Andachtsräume für Muslime, bei denen eine Geschlechtertrennung von bestimmter Bedeutung ist. Gemeinhin findet man an vielen Flughäfen beispielsweise auch interreligiöse Andachts- und Meditationsräume. In der katholischen Liturgie findet sich ebenso die Praxis der Beichte. Dabei beichten die Gläubigen einer klerikalen Person ihre Sünden und Fehltritte. Die Beichte findet im sogenannten Beichtstuhl statt, der den Beichtenden – zum Beispiel durch einen Vorhang – vom Kirchenraum trennt sowie – durch zum Beispiel ein Gitter – den Beichtenden vom sogenannten Beichtvater. Die Beichte ist ähnlich dem Gebet eine Praxis, die in einer privat-intimen Atmosphäre und vor allen Dingen in einer räumlichen Isolierung des Hörens und Sehens geschieht. 6.3 Von der Stille zum heiligen Lärm: die Freisetzung der Urkräfte Die Kulturkirche in Köln-Nippes ist ein Ort, an dem sowohl Gottesdienste als auch nicht-liturgische Veranstaltungen stattfinden. Dennoch lässt sich die atmosphärische Wirkung des Raumes nicht gänzlich von der Interpretation ihrer Heiligkeit ablösen, wie Ausschnitte von Konzert- und Erlebensberichten zeigen: „Ein außergewöhnlicher Ort für ein außergewöhnliches Konzert. Die Kulturkirche ist nämlich eine völlig normale Kirche, mit Gottesdiensten und allem was dazu gehört – nur manchmal ist da halt noch mehr als nur die Gemeinde und eine Orgel zu hören. In regelmäßigen Abständen werden die Kirchenbänke heraus, und Bierstände hineingetragen, der Altar verhangen und eine PA aufgebaut. Dann verwandelt sich das Gotteshaus in einen magischen Ort der anderen Art. Denn die besondere Wirkung eines Ortes auf die Musik, die in ihm gespielt 226 Revidierte Elberfelder Übersetzung. 90 wird, halte ich für unzweifelhaft.“ – Konzertbericht zu Explosions in the Sky, Mai 2008, auf gaesteliste.de227 „Die Akustik der Kirche tut in diesem Fall ihr positives Übriges und lässt Wucht und Lautstärke in beachtliche Höhen steigen. So verlässt man nach einem packenden Auftritt mit leichtem Taubheitsgefühl, aber fröhlich die heiligen Hallen.“ – Konzertbericht zu Explosions in the Sky, Mai 2008, auf crazewire.de228 „[...] für viele der Gäste ist es der Venue entsprechend eher eine Wallfahrt. [...] Der kleine Vorplatz der Kirche ist gut gefüllt, manche der Anwesenden offensichtlich auch. Die Atmosphäre umweht der Geruch von Feriencamp, Gottesandächtigkeit hat gerade Feierabend. [...] Das Vorplatzvolk ist mittlerweile in den Innenraum eingekehrt, man würde gerne mit dem örtlichen Pastor sprechen, ob ihn angesichts der Besucherzahl nicht der Neid kitzelt.“ – Konzertbericht zu Interpol, Mai 2007, auf visions.de229 Bevor ich diese Zitate als Ausgangspunkt für eine Betrachtung der Beziehung zwischen Andächtigkeit in Kirchen und Brachialität auf Rockkonzerten sehen werde, liegt hier die Beziehung zunächst auf der unzweifelhaften EigenAtmosphäre von Kirchenräumen. Rockkonzerte in Kirchenbauten stellen einen Sonderfall dar. Es ist ein „Mischraum“, dessen Wirkung uns unschlüssig macht. Doch zunächst stellt sich noch die Frage, was Kirchenräume unabhängig von der numinosen Anmutung atmosphärisch wirken lässt. Zur Untersuchung der (klanglichen) Atmosphäre des kirchlichen Raumes zieht Böhme zwei Aspekte heran: die Stille und die Erhabenheit.230 Da ich auf die Stille in einem späteren Kapitel noch zu sprechen kommen möchte, beschränke ich mich hier auf die Erhabenheit. Kirchliche Räume übersteigen in ihrer Größe unsere Körper. Im Hören ergibt sich, wie schon erwähnt, ein Hall-Effekt, oft inszeniert und intoniert durch Musik oder Rezitation. Wir fühlen uns verloren im Raum. 227 Claudius, Stefan (2008): Entschlossen – Explosions In The Sky, Köln, Kulturkirche, 21.05.2008. Gaesteliste – Internet-Musikmagazin. URL: https://www.gaesteliste.de/konzerte/ show.html?_nr=1643 (Zugriff: 31. Juli 2010). 228 Crazewire (2008): Konzertbericht – Explosions In The Sky. URL: https://www.crazewire. de/berichte/konzertbericht/explosions in-the-sky/5/ (Zugriff: 31. Juli 2010). 229 Klein, Nils (2007): Interpol: Köln – Kulturkirche (11.05.2007). Visions Musikmagazin, Nr. 172 im Online-Archiv. URL: https://www.visions.de/live/redaktions-happenings/1169/ interpol (Zugriff: 31. Juli 2010). 230 Böhme (2006), S. 146 91 Die Bedeutung von Musik in heiligen Räumen liegt auf der Hand. R. Murray Schafer entwickelt den Begriff „sacred noise“ (das Lärmen des Heiligen).231 Er schreibt dazu: “Throughout Christendom the divine was signaled by the church bell. It is a later development of the same clamorous urge, which had earlier been expressed in chanting and rattling. The interior of the church, too, reverbarated with the most spectacular acoustic events, for to this place man brought not only his voice, raised in song, but also the loudest machine hed had till then produced – the organ. And it was all designed to make the deity listen.”232 Das Hören und Gehorchen, das Singen und das Lobpreisen – all diese Klänge sind wesentliche Bestandteile von religiöser Praxis und Liturgie. Dabei wird auch klar, dass, in einem historischen Kontext betrachtet, Böhme neben Stille und Erhabenheit die Macht der Lautstärke vergisst. Schafer weist darauf hin, dass mit dem Anstieg der Lautstärke der Welt durch die industrielle Revolution die atmosphärische Kraft des „sacred noise“, das Lärmen des Heiligen, den Kirchen verloren ging: “[...] the power to ‘touch’ listeners, had first been experienced in thunder, then in the church, where the bombardon of the organ had made the pews wobble under the Christians, and finally had been transferred to the cacophonies of the eighteenth-century factory. [...] the new counterculture, typified by Beatlemania, was actually stealing the Sacred Noise from the camp of the industrialists and setting it up in the hearts and communes of the hippies.”233 In diesem Zusammenhang lässt sich der Rücklauf der kirchlichen Besucher in Abhängigkeit zur Geschichte der Lautstärke beschreiben. Das was Kirchen als Spiel-Räume der Erlebniswelt heute „nur“ noch anbieten können ist eine Annäherung an die Stille. Ihre akustische Kraft und Macht (etwa durch die Kraft der Kirchenglocken, die den Zuständigkeitsbereich definieren oder durch eine räumliche Macht unter der liturgischen Prämisse der Anwesenheit Gottes) hat sie im Laufe der Geschichte einbüßen müssen. Verglichen mit der akustischen Kraft und Macht der muslimischen Moscheen und ihren Klang- 231 Schafer (1994), S. 51f. 232 Schafer (1994), S. 52 233 Schafer (1994), S. 115 92 kulissen in islamischen Ländern ergeben sich sicherlich interessante Fragen der Alltagserfahrung und -gestaltung.234 Schafers „soundscape“-Konzept entstand in den 1970er Jahren und seitdem hat sich die Lautstärke der Welt weiter erhöht. Sein Verweis auf die „Beatlemania“ wird heute durch eine fortgeführte Brachialität der Musik, ihre subkulturelle235 Diversifikation und vor allem Lautstärke ersetzt. Während ich bereits auf die assoziativ-imaginative Kraft der Musik in der Raumwahrnehmung eingegangen bin, möchte ich im folgenden stärker den Erlebnischarakter von Musik im Raum fassen. Intensive Erfahrungen werden in der von Schulze postulierten Erlebnisgesellschaft insofern rarer, als dass sie ständig überboten werden. Diesen Veränderungen ist auch die Popmusik, allen voran die Rockmusik, unterworfen.236 Unter „intensiven Erfahrungen“ verstehe ich dabei nicht nur die höchstmögliche Brachialität von Rockmusik sondern ebenso auch die Intensivierung der Emotionalität, das „Sich-Öffnen“ zur Musik. In Bezug auf Sportveranstaltungen sprechen Karl-Heinrich Bette und Uwe Schimank von „emotionaler Vergemeinschaftung“ und der Gelegenheit eines „affektiven Sich-Aus- 234 Hiermit lassen sich journalistische Berichte aus dem kommunistischen Nordkorea verknüpfen, die besagen, dass in jedem Haushalt (zumindest in Pjöngjang) ein Radio installiert ist. Dieses Radio lässt sich nur leiser stellen, aber nicht ausschalten. Unentwegt spielt es Musik und Propaganda und infiltriert somit den Alltag der Nordkoreaner. Auch in öffentlichen Räumen sind Radio-Anlagen und Lautsprecher installiert, die – ähnlich wie im totalitären Nazi-Deutschland – Propaganda verkünden. – Boynton, Robert S. (2011): North Korea‘s Digital Underground. The Atlantic. URL: https://www.theatlantic.com/magazine/ archive/2011/04/north-koreas-digital-underground/308414/ (Zugriff: 07. Februar 2014). 235 Den Begriff „Subkultur“ möchte ich an dieser Stelle nicht näher thematisieren, sondern damit lediglich auf Unterschiede in der Praxis und im Umgang mit Musik durch verschiedene Gruppe hinweisen. 236 In den folgenden Ausführungen habe ich mich insbesondere auf Rockmusik bzw. an diese angelehnte Popmusik beschränkt. Mir geht es darum den Aspekt der Brachialität zu betonen. Dies gilt sicherlich nicht zwangsläufig für andere Musikrichtungen, obgleich diese ähnliche Aspekte aufweisen. Ein ähnlich gelagertes Beispiel ist HipHop mit seinen spezifischen, teils brachialen Ritualen von Körper und Leib im Raum wie „breakdance“, „battles“ und den der Szene eigenen Tanzstile. Vgl. hierzu Klein, Gabriele/Friedrich, Malte (2003): Is this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt am Main: Suhrkamp; ebenso auch Bohnsack, Ralf/Noll, Arnd-Michael (2000): Events, Efferveszenz und Adoleszenz: „battle“ – „fight“ – „party“. S. 77–93. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+ Budrich; ebenso zu verschiedenen Szenen Hitzler, Ronald/Bucher, Thomas/ Niederbacher, Arne (2001): Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen: Leske+Budrich. 93 lebens“.237 Dies gilt sicherlich für Konzerte noch viel mehr. Für adoleszente Jugendliche kann dies wesentliche Voraussetzung für das Gelingen eines Lust-Erlebnisses sein. Die Musik muss sowohl leiblich als auch gefühlsmäßig auf die Zuhörer einstürzen, um diese – nach Schafer – zu berühren. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang, dass seit den 1980ern bis um die Jahrtausendwende die sogenannte ‚Emo‘-Bewegung starken Zulauf hatte, deren Musikstil dem ‚harten‘ Punkrock entstammt, die aber aufgrund und anhand des Gesangs, der Texte und der Selbst-Inszenierung als ‚emotional‘ und ‚sensibel‘ verstanden wird.238 Der Weite des Raumes in Kirchen steht die Enge des Raumes auf Rockkonzerten gegenüber. Die Brachialität auf Konzerten wird einerseits durch die Lautstärke der Musik und andererseits durch die Gegenwart anderer im Raum hergestellt. Im folgenden möchte ich zum einen anknüpfen an den Gedanken der geschwächten räumlichen Macht kirchlicher Liturgie, zum anderen an einen möglichen Gegenpart, die ekstatische Macht der Stimmung von Rockkonzerten. Dies lässt sich auch fassen, indem man der Andächtigkeit der Kirchen die Brachialität der Konzerte gegenüberstellt. Das Gefühl „in einer Masse aufzugehen“ ist ein sowohl für Gottesdienste als auch für Rockkonzerte bekanntes, erlebtes Gefühl. Man ist Teil eines kulturellen Moments, der in seiner Bedeutung die Gegenwart anderer und des Raumes übersteigt. In einem der folgenden Kapitel werde ich noch Gemeinschaftserlebnisse und die Formen der Vergemeinschaftung untersuchen sowie die Beziehung zwischen Gruppe und Atmosphäre. Die Brachialität der Musik auf Rockkonzerten ist aber zunächst ein völlig persönliches Erleben von sich in Bezug auf die Welt und die Gemeinschaft. In den Aphrodismen „Morgenröte“ schreibt Friedrich Nietzsche über die Feststimmung: „Gerade für jene Menschen, welche am hitzigsten nach Macht streben, ist es unbeschreiblich angenehm, sich überwältigt zu fühlen! Plötzlich und tief in ein Gefühl wie in einen Strudel hinabzusinken! Sich die 237 Bette, Karl-Heinrich/Schimank, Uwe (2000): Sportevents: Eine Verschränkung von „erster“ und „zweiter Moderne“. S. 307–323. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/ Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 238 Vgl. Büsser, Martin/Engelmann, Jonas/Rüdiger, Ingo (Hrsg.) (2009): Emo – Porträt einer Szene. Mainz: Ventil Verlag; ebenso Greenwald, Andy (2003): Nothing Feels Good – Punk Rock, Teenagers, and Emo. New York: St. Martin‘s Griffin. 94 Zügel aus der Hand reißen zu lassen und einer Bewegung wer weiß wohin? zuzusehen! Wer es ist, was es ist, das uns diesen Dienst leistet, – es ist ein großer Dienst: wir sind so glücklich und atemlos und fühlen eine Ausnahme-Stille um uns wie im mittelsten Grunde der Erde. Einmal ganz ohne Macht! Ein Spielball von Urkräften! [...]“239 In welchem Zusammenhang steht nun diese Definition der Feststimmung mit der Brachialität auf Rockkonzerten? Die intensiven Erfahrungen des Konzertes stehen im Kontrast zu einer Art der Unterwerfung unter die Machthabung des Numinosen in Kirchen. Rock- bzw. Pop-Konzerte zeichnen sich dadurch aus, dass wir uns der leiblichen Erfahrung der Masse unterwerfen. „Spielball von Urkräften“ zu werden, wie Nietzsche schreibt, ist auf Rockkonzerten die Bemächtigung durch die Masse.240 Diese Gegenwart der anderen wird durch die Musik als Stimulus physisch wahrgenommen, indem die anderen leiblich erfahren werden oder in absoluter Intensität sich an ihnen gestoßen wird. Knoblauch weist daraufhin, dass das Ereignis am eigenen Leib erlebt werden will: „die Beteiligten wollen auch die Masse am Leib spüren“241. Der Triumph der (brachialen) Konzerte – und somit auch moderner Gottesdienste wie in „Erlebnis-Kirchen“ und an Kirchentagen242, die vornehmlich auf Musik setzen als Form der „Anbe- 239 Nietzsche, Friedrich (1954): Morgenröte, Gedanken über die moralischen Vorurteile. 4. Buch, Nr. 271. S. 1181. In: Nietzsche, Friedrich (1954): Werke in zwei Bänden. 1. Band. Stuttgart, Hamburg: Deutscher Bücherbund. 240 Bezogen auf Fußballspiele schreibt Thomas Alkemeyer: „Große Spiele sind ähnlich mitreißend wie Musik bei einem geglückten Konzert. Sie setzen eine Interaktionsspirale in Gang, in die alle beteiligten Gruppen hineingezogen werden. Es lässt sich recht genau verfolgen, wie sich die Muster des Spielverlaufs und die Muster des Gefühlsablaufs im Publikum entsprechen, wie sich auf beiden Seiten Phasen der Anspannung und Erregung mit solchen der Entspannung und des Ermattens ablösen. In einer derartigen sozialen Konstellation scheinen Subjekt- und Objektpol in der Aktion zur Deckung gebracht.“ – Alkemeyer, Thomas (unter Mitarbeit von Roman Eichler und Jens Wonke-Stehle) (2008): Fußball als Figurationsgeschehen. Über performative Gemeinschaften in modernen Gesellschaften. S. 98. In: Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hrsg.) (2008): Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs. Bielefeld: Transcript. 241 Knoblauch (2000), S. 47 242 Ausführlich zur „Eventisierung“ des Religiösen siehe Ebertz, Michael N. (2000): Transzendenz im Augenblick. Über die „Eventisierung“ des Religiösen – dargestellt am Beispiel der Katholischen Weltjugendtage. S. 345–362. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske+Budrich. 95 tung“243 – über die Andächtigkeit der Kirchen ist die Betonung der leiblichen Erfahrung der Massengemeinschaft. Das Tanzen zur Musik ist somit ausgeprägte Charaktereigenschaft solcher Erfahrungen.244 6.4 Körper, Tanz und Leib: intensive Erfahrungen im Klangraum Bevor ich noch näher das Tanzen bzw. eine brachiale Form des Tanzens, das „Moshing“, exemplarisch erörtern möchte, erscheint es mir als notwendig die Beziehung zwischen Klang, Raum und Leib noch einmal zu verdeutlichen. Die Beschäftigung mit den Klängen und somit mit der Musik führt zu Fragen ihrer räumlichen Erscheinung. Tanzen zur Musik lässt diese räumlich erscheinen. Das motionale Musik-Erleben ist mit einem e-motionalen MusikErleben kombiniert. Im Tanzen wird die eigentlich enge Beziehung zwischen Klang und Raum deutlich. Dies gilt sowohl für das Tanzen allein als auch insbesondere im gemeinschaftlichen Tanz. Das Phänomen des Rhythmischen245 tut sein Übriges diese Beziehung deutlicher zu sehen. Tanz verweist unmittelbar auf Klang, erscheint räumlich und bezieht sich auf den Leib.246 Der Körper kann sowohl als Musik- als auch als Resonanzinstrument verstanden werden; die leibliche Erfahrung von Musik vollzieht sich im KörperKlang.247 Im Rahmen dieser Arbeit ist dieser Körper-Klang somit keine 243 Es scheint einen Trend zu geben, dass Erfahrungen des Religiösen heutzutage unweigerlich an die Erfahrung großer Gemeinschaften geknüpft werden. Das persönliche, intime Erleben des Numinosen – wie es in Kirchenräumen möglich ist – wird durch das gemeinschaftliche Erleben ersetzt. Auch hier gewinnt die Form über den Inhalt. 244 In Anlehnung an Hitzler und Pfadenhauer macht auch Knoblauch eine Unterscheidung zwischen der Erfahrung menschlicher Gemeinschaft und der Selbsterfahrung durch ekstatische Körperlichkeit. Diese Unterscheidung halte ich für nicht zwingend in Bezug auf Klang, Raum und Leib. 245 Aber nicht nur das Rhythmische regt zum Tanzen an, auch das Melodiöse. Hornbostel schreibt: „Die Melodiebewegung löst in viel unmittelbarerer Weise, als der Rhythmus, Bewegungsimpulse und Bewegungsvorstellungen aus. Wir pflegen diesen Impulsen für gewöhnlich, durch Kleidung und Sitte gehemmt, nicht nachzugeben; auch sind sie wohl meist nicht stark genug, um nicht mit Leichtigkeit unterdrückt zu werden. Dennoch wird auch der aufmerksame Konzertbesucher zuweilen leicht Hand- und Kopfbewegungen, Dehnen des Thorax usw. an sich beobachten können, die durchaus nicht vom Rhythmus des Musikstückes ausgelöst sind.“ – Hornbostel (1986), S. 79 246 Klein, Gabriele (2001): Urban Story Telling: Tanz und Popkultur. S. 161–176. In: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2001): Techno-Soziologie. Erkundungen einer Jugendkultur. Opladen: Leske+Budrich. 247 Vgl. Vogt, S. (2005), S. 65 96 Sondererscheinung, sondern zentraler Aspekt einer Phänomenologie des (leiblichen!) Klang-Erlebens im Raum.248 Eine Weiterentwicklung des Tanzens – als eine konsequente Intensivierung leiblicher Erfahrung verstanden – lässt sich heute auf Rockmusik-Konzerten249, insbesondere in den Genres (Post-)Hard- und Emocore (Screamo), Rapcore, Heavy Metal, Death Metal, Nu-Metal und Punk Rock, beobachten und erleben: das sogenannte „Moshing“. Der Musik-Publizist Joe Ambrose schreibt dazu: “Moshing is a ritualised and furious form of dancing combining very real violence with remarkable displays of emotion, life-and-death situations, and the raw sex beat of rock‘n‘roll. It induces euphoric displays of affection and hostility between its usually male participants. It derives from the mid-Seventies punk practices of stage diving and slam dancing wherein spread-out gangs of punk kids at gigs would indulge in dancing, pogoing, and slamming into one another.”250 Moshing besteht vor allen Dingen aus drei Formen: das „crowd-surfing“, bei denen sich Personen auf den Händen anderer über die Masse der Teilnehmer bewegen; das „stage diving“, bei dem sich Personen (insbesondere auch Mitglieder der jeweiligen Bands) von der Bühne in die Masse fallen lassen; sowie das „slam dancing“, was ein Stoßen, Schubsen und Rempeln ist. Andere Formen des oft auch als Pogo bezeichneten „Moshing“ schließt die Ausbildung von „circle pits“251, ein Laufen und Rempeln im Kreis, oder unter Anleitung gestaltete „walls of death“, in dem sich eine Freifläche zwischen zwei Gruppen bildet, über die die beiden Gruppen dann gegeneinander laufen, ein. 248 Zur Unterscheidung von Körper und Leib: Schmitz, Hermann (2011): Der Leib. Berlin, Boston: Walter de Gruyter. 249 Die Auswahl von Rockmusik für die nachfolgenden Ausführungen folgte aus praktischen Gründen meinen persönlichen Kenntnissen und Erfahrungen. Gleichwohl können ähnliche Schlussfolgerungen auch für andere Musikrichtungen und -szenen gezogen werden. Vgl. umfassenden Reader zur Techno-Soziologie: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2001): Techno-Soziologie. Erkundungen einer Jugendkultur. Opladen: Leske+ Budrich. 250 Ambrose, Joe (2001): The Violent World of Moshpit Culture. London: Omnibus Press. S. 1 251 Ambrose (2001), S. 3: „A circle pit involves a large number of people – it needs a decent crowd – forming and running around in a huge circle, holding on to one another to mainstain balance. The circle turns faster and faster as the music picks up speed. Circle pits are uniquely good humoured, a source of tender youthful joy to the participants, and are often instigated by bands when they see things getting a little tight or sour in the pit.“ 97 Dabei bilden sich auch mikroräumliche Muster aus, die gewährleisten, dass auch diejenigen die nicht „moshen“ wollen, unbehelligt der Musik zuhören können, sowie ‘sichere‘ Räume, an denen sich erholt und ausgeruht werden kann. “It usually takes place in a semicircular space right in front of the stage, the heaviest and most violent moshing happening in front of the lead singer, but a little back from the security barriers.”252 Moshing ist nicht ungefährlich wie zahlreiche Todesfälle und ernstere Verletzungen dokumentieren. Zwar gilt für diese Gewaltausbrüche eine Art Ehrenkodex wie Rücksicht gegenüber Schwächeren oder angepasste Kleidung. Nichtsdestotrotz kam es in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen wiederholt zu Zwischenfällen, einige mit tödlichem Ende. Zwar sind auch Fälle dokumentiert, die klar aufzeigen, dass Moshing direkt zum Tode von Teilnehmern geführt hat; viele Todesfälle auf Konzerten sind jedoch als Effekte von Platz- und Sicherheitsproblemen zu werten. Praktiken wie Crowd Surfing oder Stage Diving sind – soweit es möglich ist dies durchzusetzen – aus Gründen der Sicherheit253 kaum noch erlaubt. Durch die Verkettung von Umständen kann es zu Domino-Effekten kommen, in denen die Richtung einer Massenbewegung nicht verändert werden kann. Moshing ist eine gewalttätige Praxis, die auf Konzerten eine Art Ventilfunktion für jugendliche Energie bietet. Sie ist zwar an die Musik bzw. Musikgruppe gekoppelt, allerdings oft genug ein von der Musik losgelöstes Erlebnis. Die Musik fungiert dabei als Stimulus um räumlich-leibliche Erfahrungen möglich zu machen. Moshing als brachiale Tanzform verbindet Musik, Raum und Leib in zum Teil brutaler Weise. Christa Zöller kommt dabei zu folgendem Fazit, wenn sie über Rockmusik schreibt: „Körperlichkeit und Sexualität werden für die Fans vor allem im Sound der Musik spürbar. Er muß ‚total‘ sein, das bedeutet, daß die Lautstärke so übermächtig ist, daß die Schwingungen durch den Körper wahrnehmbar sind. Dies vermittelt das Gefühl der rauschhaften Verschmelzung, das in der Ekstase aufgeht. Dieses Moment ist bei 252 Ambrose (2001), S. 3 253 Vgl. Runkel, Simon/Pohl, Jürgen (2012): Crowd Management als Planungsaufgabe: eine sozialgeographische Perspektive auf Masse und Raum bei Großveranstaltungen. S. 189– 207. In: Geographische Zeitschrift, 100(2). 98 dem Konsum von Rockmusik zentral, denn Musik – so erlebt – transzendiert für den Zeitraum des Hörens Raum und Zeit.“254 Zöller liegt richtig, wenn sie schreibt, dass die Erfahrung der Musik „total“ sein muss, d. h. leiblich und körperlich erfahrbar. Die ekstatische Erfahrung von Musik beschreibt sie als Aufhebung des Gefühls der „raumzeitlichen Begrenzung und damit der eigenen Endlichkeit“255. Sie behandelt Rockmusik als religiösen Neomythos. Diese Verbindung scheint naheliegend, ist aber nicht zwingend. Musik und das Musikerlebnis ist ein sehr differenziertes Feld unterschiedlichster Arten und Kulturen des Hörens und Erlebens.256 Der Begriff der „Ekstase“, eines Außer-sich-Seins, ist zumeist eine Übertreibung tatsächlicher Erfahrungen des Tanzens zur Musik, die in vollem Bewusstsein stattfindet und sich von ekstatischen Erfahrungen religiöser Praktiken absetzt. Joe Ambrose zitiert einen Jugendlichen, der berichtet: “I love the music. I love the drums and the guitars. Sometimes the lyrics can be totally stupid and say nothing to me but the drums in particular speak volumes to me. So I‘m standing there in the darkness and all the lights are focused onto the stage. All I can hear inside my head is the drumming. If the drumming is shit I don‘t like it and I‘m out of there. If the drumming is shit then it‘s unlikely that there‘ll be a pit in any case. So I forget about everything else. My job, whether the band are cunts, whether the other people in the pit with me are idiots. I go off into this other place as I dance and move and touch up against everybody all the time. It is very sensual. If I‘ve smoked a little beforehand and the drumming is in synch with the band and the pit I lose actual sight of everything around me. Things get a big darker than they actually are and the only part of myself that I‘m aware of is my body moving like its a musical instrument being played by me and the band. The Ramones have this song I heard one time called ‚The Garden of Serenity‘ and that is exactly where I feel myself to be when the music and moshing rises to a peak inside me. It is a pleasant as if I‘m in a garden full of roses and water fountains where the sun is shining real bright. It‘s like going on a holiday or having sex. I feel really warm, confident, relaxed. Then of course you snap out of it and you 254 Zöller, Christa (2000): Rockmusik als jugendliche Weltanschauung und Mythologie. Münster: LIT Verlag. S. 207 255 Zöller (2000), S. 185 256 Zur soziokulturellen Orientierung und politischen sowie religiösen Einstellung der Hardcore-Szene vgl. Calmbach, Marc (2007): More than music – Einblicke in die Jugendkultur Hardcore. Bielefeld: Transcript. 99 realise you‘re in some shitty rock club where your feet are sticking to the floor and surrounded by their huge sweating monsters and you‘re a sort of a sweating monster yourself. The garden has disappeared for you but it always comes back again. I don‘t work out. I guess at this age I don‘t need to but in any case I go moshing at least... at least four nights a week. I get the right kind of total body exercise in the pit. To watch out for yourself in there you actually need to be incredibly fit and tight. I‘ve never been as confident of myself as I have been in the pit.”257 Moshing ist intensive leibliche und körperliche Erfahrung im Raum. Die Symbiose aus klanglicher Erfahrung der Musik, physischer Erfahrung sexueller Motivation258 oder Ritual der Männlichkeit sowie eine quasi-spirituelle Erfahrung der Gemeinschaft259 und des Selbst könnten dabei Richtungen der Forschung sein.260 Der Charakter des quasi-spirituellen Rituals wird in folgendem Statement des Musikers und Anthropologen Neil Busch der Band „Trail of Dead“ deutlich: “I began to see the rock concert as a modern form of civic ritual, consisting of timeless elements; a ritualistic space, music, iconography, and symbolism. Presided over by a master of ceremonies. Similar to the church service or parade, a concert is an event that bypasses the confines of pure entertainment. It aims specifically to bring its members together and increase their sense of community solidarity. At first I thought moshing closely resembled a ‘rite of passage’ or initiation ritual. I drew direct parallels between the act of moshing and coming of age rites from other cultures. In its most basic elements there were several similiarities. There was the creation of the distinction between Us and Them. Young members of the community, mostly male, during my first experiences with the dance in the late Eighties, stripped bare so as to distinguish themselves from other members of the group. ‘Initiates’ then performed the dance in a space defined and surrounded by the non-participants. During the performance, participants moved around the undefined centre of the ‘pit’, like some great hurricane of 257 Ambrose (2001), S. 12 258 Vgl. Ambrose (2001), Kapitel „Hardcore Soft Porn – Sex In The Pit“, S. 183–189 259 Ambrose (2001), S. 101: “When you‘re moshing you remember a gig by the conversations you have with friends you meet there or friendly strangers who come up to you after the encores, thanking you for helping them out whatever trouble they got into in the melee.” 260 Vgl. Riches, Gabrielle (2012): ‘Caught In A Mosh’. Moshpit Culture, Extreme Metal Music and the Reconceptualization of Leisure. Saarbrücken: Lambert Academic Publishing. 100 youthful exuberance and anger. As members danced they competed with one another but also with the larger community who defined the boundaries of the dance area. Just as other cultures have dances that retell their histories and myths, moshing retells the story of life as a young person in western society. Members inside the circle‘s perimeter struggle against one another, the outside world is constantly pushing in on them, exerting pressure on the dancers. This mimics the way most teenagers feel about the adult world; pushng [sic!] them, pressuring them to grow up.”261 Dies zeigt klare Verbindungen zu den liturgischen Räumen eine Kirche auf, indem das Ritual mikroräumliche Ausprägungen hat. Bezug nehmend auf das eingangs erwähnte Beispiel der Touristen und der liturgischen Performance in Sacre-Coeur werden die Parallelen zum Rockkonzert deutlich. Meine eigenen Erfahrungen auf Rockkonzerten im Rahmen dieser Arbeit sind sowohl passive als auch aktive Erfahrungen: als Beobachter in einer Randposition, im E-Werk in Köln262 – einer großen Veranstaltungshalle – auf einer Empore mit Blick auf Bühne und Besucher, als die Musik im Tanz mitempfindend in erinnerten Erfahrungen. Die Brachialität, das Spüren-Wollen, auf Rockkonzerten steht im Kontrast zur Andächtigkeit in Kirchen. Die zur Handlung und zu Ritualen führende Erfahrung von Klang, Raum und Atmosphäre führt allerdings zu ähnlichen Erlebnissen. Auch die im Ritual verhandelten Motive weisen Ähnlichkeit auf. Dabei zeigt sich auch, wie sehr wir Bemühungen unternehmen Raum „total“ zu erleben. Die Andächtigkeit in Kirchen betont das pathische Mit-Sein im Raum, während das brachiale Moshing – in einer dem Flaneur ähnlichen Zweckfreiheit – das Mitten-drin-Sein im Raum erfahren lässt. Während die Anmutung des Numinosen sozusagen eine Bemächtigung unseres Selbst darstellt, so wollen wir im Tanzen nicht nur teilnehmen sondern auch Teil sein. Als wollten wir nicht mehr nur zuhören, sondern auch dazugehören, in dem wir selbst Bewegungsspuren im Raum hinterlassen. 261 Busch (o. J.) zit. in Ambrose (2001), S. 72f. 262 „Give It A Name“-Festival am 11. April 2009 im E-Werk in Köln mit den Bands Underoath, Taking Back Sunday, Thursday, Emery, Escape the Fate, Maroon, Innerpartysystem, Fire in the Attic, Kid Down und Talk Radio Talk. 101 7 Fremderfahrung als Erlebnis Die Entdeckung der Welt an fremden Orten, in Achterbahnen und Science Center 7.1 Fremdheit, Staunen und die Selbstvergessenheit „Ich steige aus dem Taxi. Es ist ein russischer Lada mit nagelndem Dieselmotor, ein weitgehend stummer Fahrer, der nur ab und an Flüche auf Arabisch ausspuckt und aus scheppernden Boxen plärrt arabische Popmusik. Jetzt stehe direkt vor dem Suq al-Hamadiyya, dem größten Basar in Damaskus. Der Basar besteht aus einer langen Fußgängerpassage, über die ein gewölbtes Dach gespannt wurde. Der Basar ist kein in sich geschlossener Bereich, sondern die Hauptachse wird von einer Vielzahl an schmalen Gassen gesäumt, die den Basar tiefer in die Altstadt rücken. Ich tauche ein in diese mir fremde Welt, lasse mich von den Menschen treiben, bleibe stehen, stöbere in auf die Straße gestellten Körben voller Gewürze, Süßigkeiten, Früchte, Küchengeräte, schaue mir Auslagen von Teppichen, Tüchern, Schmuck und Parfüm an und dringe immer tiefer ein in diese Welt des Jahrhunderte alten Handels. Durch die Überdachung der Hauptachse und die schmale Bauweise der Gebäude, in denen sich dunkle, mit Waren vollgestellte Gassen verlieren, entsteht ein Hall-Effekt, der mir das Gefühl eines abgeschlossenen Gebäudes gibt. Zwischen den Rufen der Händler, die ich kaum verstehe, immer wieder Wortfetzen einer mir fremden Sprache. Man zankt sich, man lacht, man feilscht. Ich höre Kindergeschrei, höre das Klimpern von Geld, das Klappern der Waren in Einkaufstaschen. Auf der Straße bieten Händler Spielzeuge an, die Geräusche machen. Plötzlich durchdringt all dieses geschäftige Treiben das Gebet eines Muezzins, dann mehrerer, die sich vereinen; das Gebet dringt in jeden Winkel, in jedes Ladenlokal, sogar in den Gemäuern eines türkischen Bades höre ich das Gebet annähernd in Zimmerlautstärke. Später in der Nacht lege ich mich nach einem anstrengenden Tag ins Bett. Es ist bereits drei Uhr morgens; und noch immer erhebt die Stadt ihre Stimme und wiegt mich in den Schlaf.“ 103 Wer in andere Länder verreist, in fremde Welten „eintaucht“, der will etwas erleben; etwas, was sich von den gewöhnten Strukturen der Alltagswelt abgrenzt. Die Klänge, an die wir uns gewöhnt haben, bringen uns kaum mehr zum Staunen, verwundern uns selten. Eine Reise zu anderen Orten wird zu einem Erlebnis, lässt uns die Welt neu entdecken. Zwar beSICHTigen wir SEHENswürdigkeiten, doch die HÖRENswürdigkeiten einer Stadt, eines Orts, sind wesentlicher Bestandteil des Gesamterlebnisses. Gerade eine Reise in muslimisc geprägte Länder, wo wir die derzeit hierzulande rare klangräumliche Erfahrung des Gebets eines Muezzins machen, überrascht uns als durchdringendes Lust-Erlebnis. Oftmals reicht schon die Irritation durch eine fremde Sprache aus, um das subjektive Gefühl der Fremdheit zu evozieren. Die alltägliche Gestaltung des Lebens an anderen Orten und in verschiedenen kulturellen Kontexten weist fremde Klänge auf. Klänge, die wir noch nicht kennen und zuordnen können. Kein theoretisches Wissen kann die Erfahrung selbst ersetzen, es sind Fremderfahrungen. Reisen in fremde kulturelle Räume können somit auch als Spiel-Räume der Erlebniswelt gewertet werden. Erwin Straus verknüpft diese Erfahrung in ihrem Effekt auf uns mit Musik, indem er schreibt: „Befinden wir uns dagegen nicht in vertrauter Umgebung, sondern etwa in dem Trubel und Lärm einer nach Sprache, Sitte und Gewohnheit fremden Stadt, dann verlieren bereits die Geräusche diese spezifische Wirkung und nähern sich in ihrer Daseinsweise dem Ton, wie ihn vollkommen nur die Musik erzeugen vermag. Auch das Geräusch durchdringt und erfüllt unter solchen Umständen den Raum, es erschwert, den Raum homogenisierend, die Orientierung und steigert dadurch die Verwirrung und Fremdheit.“263 Die Dichte dieser fremden Klänge erfordert unsere volle Aufmerksamkeit. Es ist nicht leicht den Raum zu strukturieren, ihn zu ordnen. Wir haben Mühe uns zu orientieren. Der Geograph Anton Escher kommt in seiner Beschreibung der Atmosphäre des orientalischen Bazars zum selben Schluss: „Der flanierende Passant vergisst und/oder verliert die räumliche Orientierung und die zeitliche Fixierung, da ihm durch die bauliche Struktur und durch die Lichtverhältnisse eine Sicht über den Bazar und über die Waren hinaus genommen wird“.264 Dies, so lässt sich ergänzen, ist aber nicht nur an visuelle Aspekte gekoppelt – wie es beispielsweise in der klassischen kognitivistischen, 263 Straus (1960), S. 147 264 Escher (2008), S. 169 104 wahrnehmungsgeographischen Orientierungsforschung265 postuliert wird –, sondern Orientierung ist stets an eine ganzheitliche Wahrnehmung gebunden, die ebenfalls das Hören einschließt. Der Aspekt der Orientierung ist anhand eines recht praktischen Erlebnisses klar zu verdeutlichen: „Wir schlendern als Gruppe durch die Altstadt von Damaskus; ich lasse mich treiben, stoppe unvermittelt, um in Ladenlokale zu treten oder an Ständen zu stöbern. Ich lache mit Verkäufern, nehme Proben an, versuche die paar Wörter Arabisch, die ich kann. Mit gemächlichem Schritt flaniere ich durch die Gassen, selbstvergessen, verloren in einer mir fremden und faszinierenden Welt. Ich lerne mit den Erlebnissen, rufe ‚schuk-ran‘, wenn mir Zigaretten oder Masbaha angebten werden oder Schuhputzer mir ihre Dienste anbieten. Ich gehe auf wie ein Kind, als Teil einer neuen Welt, fremd und doch wirklich, ich lasse mich leiten von den kleinen Erlebnissen, die das Ganze darstellen. Plötzlich fällt mir wieder die Gruppe ein, sehe sie nicht vor mir, drehe mich um und sehe meine fünf Begleiter durch die Gasse hinter mir auf mich zu laufen. Jeder ist für sich, ab und an stoppend, lachend, mal mit skeptischen Blicken, als seien sie ganz allein auf dieser Welt, völlig selbstvergessen, schwimmend im Erlebnis.“ Solche Erlebnisse machen uns selbstvergessen. Diese Selbstvergessenheit ist eine Begleiterscheinung unserer Öffnung zur Welt, wir erlauben affektives Betroffensein. Kinder verhalten sich ähnlich. Sie bleiben stehen, halten inne, um sich ganz auf das zu richten, was mit ihnen zu interagieren scheint. Wir werden im Erlebnis in die räumliche Beteiligung hineingesogen. Escher kommt zu ähnlichen Schlüssen und schreibt von einer „Dauerbelastung“ der Sinne.266 Fremderfahrungen wie eine Reise in fremde Welten und andere Länder sind als Lust-Erlebnisse den ursprünglichen strukturschaffenden Erlebnissen sehr ähnlich. Der Raum ist noch unstrukturiert, zu fremd die Interaktionen, als dass wir unseren Weg unbeeindruckt davon bahnen könnten. 265 Vgl. Weichhart, Peter (2008): Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen. S. 170ff. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. 266 Escher (2008), S. 168. 105 Auf der Suche nach ähnlichen Phänomenen der Fremderfahrung, die uns wie Kinder staunen lassen, können wir in den inszenierten Welten von Themenund Vergnügungsparksfündig werden.267 Ähnlich wie bei den Reisen in andere Länder werden wir auch an diesen Orten mit einer uns fremden Welt konfrontiert. Dort werden uns zum Beispiel durch verblüffende Spezialeffekte fremde Welten eröffnet, die wir zwar oft genug durchschauen, die uns aber spielerische Lust-Erlebnisse verschaffen.268 Uns sind oft genug die technischen Möglichkeiten fremd genug, um uns staunen zu lassen. Sie überraschen und schockieren uns zuweilen. Wie Kinder flanieren – Klein benutzt das Wort „journey“ (Reise, Fahrt) – wir durch diese sogenannten Erlebniswelten, versuchen den Klängen auf die Spur zu kommen. „Ich trete durch den Haupteingang des Phantasialandes in Brühl. Vor mir ein zweistöckiges Karussell, faszinierend traditionell, eine Melodie aus Kindheitstagen. Ich gehe um das Karussell herum und befinde mich in Alt-Berlin, einer nachgebildeten Einkaufsstrasse mit Cafés, Konditoreien, einer Buchhandlung. Andere Besucher sitzen in Straßencafés, bekommen von Obern in Livrees Kaffeetassen vorgesetzt und beschauen besonnen die lärmenden Kinder im Karussell. Aus unsichtbaren Boxen erschallt Marschmusik. Fünf Minuten später biege ich um eine Ecke und entdecke eine Wildweststraße mit typischen Holzhäusern. Davor stehen Cowboys und fangen mit Lassos Frauen. Man hört das mechanische Klicken der Gewehre in der Schießbude, das Schreien der Menschen, die um eine mechanische Bullriding-Anlage am Ende der Straße stehen, und wieder Musik: diesmal Country aus unsichtbaren Boxen. Kurze Zeit später stehe ich plötzlich vor einer afrikanischen Tanztruppe mit Trommeln, Gesang und rhythmischem Ausdruck. Auf einem kleinen Platz vor einem Souvenir-Shop und neben einer Imbissbude, jeweils im ‚afrikanischen Baustil‘, tanzen acht ‚Afrikaner‘. Es ist, als sei ich in eine Filmszene geraten, und doch ist es wirklicher als im Film. Ab und an höre ich zwischendurch das Schreien der Menschen in der ‚Black Mamba‘, einer Achterbahn, deren Eingang ein vermeintlich afrikanisches Gebäude bildet.“ 267 Ausführlich dazu Steinkrüger (2013) 268 Eine bemerkenswerte Geschichte der Spezialeffekte findet sich bei Klein, Norman M. (2004): The Vatican to Vegas: a history of special effects. New York: The New Press. Klein (S. 13) definiert Spezialeffekte wie folgt: “A technological marvel controls an illusionistic environment. It has been set up to deliver elaborate shocks. Within these shocks, an allegory emerges. Staged as an epic journey, this script immerses the viewer in a reassuring adventure. This adventure is often about a ‚marvelous‘ power larger than life, larger than humans alone can ever hope to be.” 106 Themenparks inszenieren das jeweilige Thema fast immer durch einen Mix aus visueller Atmosphäre und thematischen Klängen. Die Boxen, aus denen die Klänge stammen, sind meist hinter Bäumen oder Mauervorsprüngen versteckt. Das Phantasialand in Brühl bei Köln inszeniert auf diese Art und Weise eine Western-Stadt, Chinatown, Alt-Berlin und eine afrikanisch-mexikanische Stadt. An bestimmten Punkten wird eine Beschallung entweder durch Musik oder typische Geräusche „exotischer“ Natur verwirklicht. Stimmungen und Spannungen sollen erzeugt werden. Erstaunlicherweise dient dies ebenso zur Orientierung, sodass die Eingänge zum Park „Mexiko“ oder „Chinatown“ heißen. Auch die Verständigung innerhalb einer Gruppe kann sich dieser Orte aufgrund ihrer visuellen und klanglichen Prägnanz bedienen. Räumliche Vorstellungen oder die „Verräumlichung von Differenz“269 und damit auch klanggeographische Vorstellungen sind dabei das wesentliche Instrument der Inszenierung von Themen. Neben der Inszenierung des Fremden im thematischen Phantasialand ist die technisch ermöglichte Erfahrung körperphysikalischer Effekte wesentlich für ein leibliches Lust-Erlebnis. Achterbahnen, Wildwasserfahrten, Freifall-Türme und Top Spins gehören zu Haupt-Attraktionen, die neben dem physischen Erlebnis vor allem auch durch Abstimmung mit Nebel- und Lichteffekten sowie durch Klänge und Geräusche inszeniert werden. Insbesondere aber auch Themenfahrten, meist Endloszüge, bieten audiovisuelle Lust-Erlebnisse, durch animierte elektronische Inszenierungen. „Die Fahrten mit den Themenzügen in der Silbermine und im Geisterrikscha im Phantasialand langweilen mich ungemein. Die Geräusche und Animationen können kaum ihre Mechanik kaschieren. Ich warte darauf erschreckt zu werden, auf Inszenierungen zu treffen, die ich nicht erwarte. Doch dies bleibt aus. Gelangweilt sitze ich in der Bahn und frage mich, ob diese Bahn Kinder begeistern kann. Ich blicke vor und zurück in die anderen Waggons der Bahn: Was mich erschreckt ist, dass ich tatsächlich weitgehend allein in diesem Zug sitze. Die Jugendlichen ein paar Waggons vor mir schreien und johlen, um den Halleffekt ihrer eigenen Stimmen zu genießen.“ 269 Vgl. die ausführliche Betrachtung über die Entwürfe imaginärer Geographien im EuropaPark in Rust bei Bormann (2000), S. 152ff. 107 Der Fremdheitscharakter von Inszenierungen steigt mit unseren Erfahrungswerten. Klangliche Inszenierungen können eine Sättigung erreichen, sodass wir uns an sie gewöhnt haben. Fremdheitserfahrungen in Themenparks als Lust-Erlebnisse müssenuns an unsere körperlichen Grenzen bringen, um uns in Staunen zu versetzen. Dabei spielt die thematische Auswahl (WesternMotive, Geister- und Fantasy-Motive etc.) eine gewichtige Rolle, da sie uns mit Ungewohntem, Ungeklärtem und Unbekanntem in Berührung bringen. Ebenso müssen technische Inszenierungen in sich selber verblüffend sein. Die Geräusche von der Mechanik eines Bahnzuges oder Puppenbauten zerstören leicht diesen Charakter. 7.2 Exkurs: Sich selbst fremd sein – der eigene Schrei in der Achterbahn Schreien gehört zu den Geräuschen des Menschen, die aus den Räumen des Alltags in andere Räume verbannt werden. Babies schreien, wenn sie Hunger haben; Kinder schreien, wenn sie zu wenig Aufmerksamkeit bekommen; psychisch kranke Menschen schreien und gelten (deswegen?) als verrückt; schmerzerfüllte Menschen schreien, panische Menschen schreien, Choleriker schreien, „fremdländische“ Menschen schreien. Der Schrei in der Öffentlichkeit berührt uns, er ist uns peinlich und er durchbricht eine sozial erwünschte Normalität. Das Schreien gehört sich nicht. Achterbahn-Fahrten in Vergnügungsparks leben vom Schrei. Der Schrei in der Achterbahn liegt in seiner Historie nahe beim Angstschrei. Hinzu kommt, dass Achterbahnen durch simulierte Risiken konstituiert werden. Norman M. Klein schreibt darüber: “The Switchback roller-coaster ride in Coney Island (1884) was modeled on railcars used inside mines. From there, as a kind of Dantean silliness, tunnels were painted. Then the stakes were raised, literally – more simulated hazard (or sim-death, as I call it), because competition among amusement parks led to higher roller coasters, more ‘hairrising’ rides.”270 Die Angst bei Achterbahn-Fahrten ist tatsächlich mit an Bord, zumindest bei denjenigen, die selten oder noch nie Achterbahn gefahren sind. Der Schrei baut Stress und Nervosität ab, der Schrei generiert Aufmerksamkeit. 270 Klein, (2004), S. 323f. 108 Der Schrei gelingt in den Vergnügungsparks, in den Achterbahnen und in anderen Erlebnis-Geräten, auch um seiner selbst willen. Die schreiende Achterbahn-Fahrerin vergewissert sich ihrer selbst. Der Schrei gehört zum Erlebnis, er hat schon immer dazugehört. Während es früher eventuell stärker ein Angstschrei gewesen ist, ein Schrei um Spannung abzubauen, so ist der Schrei in den heutigen Achterbahnen öfters ein Lustschrei, um Spannung aufzubauen. Hier hat der Schrei seinen Ort. Hier darf geschrien werden, und alle finden es normal. In einem interessanten Essay-Band zum Thema findet sich ein Zitat des Philosophen und Psychologen Hermann Florian Latka: „Ich war unlängst betroffen über mich selber, als ich auf einem Volksfest beschloß, mich mit dem Doppel-Looping durch die Luft katapultieren zu lassen, und dabei vor Schreck total verkrampft erstarrte und mit zusammengebissenen Kiefern verstummte, anstatt wie die meisten jüngeren Mit-‘Reisenden‘ meine Angst-Lust lauthals kreischend herauszubrüllen.“271 Es wird deutlich, dass die Angst mittlerweile stärker der Lust weichen musste. Achterbahnen sind nunmehr Orte der Selbsterfahrung; sich selbst als fremd zu erfahren im eigenen Schrei. Wer nicht schreit, hat wirklich Angst. 7.3 Faszination Technik Die technische Inszenierung der Erlebnisse hat eine lange Tradition. Während in Themen- und Vergnügungsparks die Inszenierung als Erlebnis im Vordergrund steht und damit – wenn auch mit spezifischen Raumbildern vorangetrieben – eine Illusion des Fremden geschaffen wird, so ist bei der Musealisierung von Wissen und Erkenntnis oft genug die Technik selbst im Vordergrund. Technik und Spiel werden in Technikmuseen oder technischorientierten Spiel-Räumen inszeniert. Dabei wird oft Bekanntes oder vermeintlich Bekanntes als fremd dargestellt. Es ist uns bekannt, weil wir tagtäglich darauf zurückgreifen, ohne darüber nachzudenken. Das Erlebnis ist der Gewöhnung gewichen. Wenn nun aber die Gewöhnung dem Erlebnis wieder weicht in der Inszenierung, dann ergibt sich eine große Anziehungskraft für Erwachsene Spielfreude an der Technik zu zeigen. Wir fühlen uns 271 Buchholz, Michael B. (et al.) (Hrsg.) (1983): Schreien: Anstöße zu einer therapeutischen Kultur. München: Chr. Kaiser Verlag. 109 zurückversetzt in die faszinierende Welt unserer Kindheit. Dinge, die sich bewegen, die sich verändern lassen, die sich auseinander bauen lassen, Gegenstände, voller Möglichkeiten und Geräusche. Das verlangt unsere Aufmerksamkeit, erregt uns, macht uns zu Spielern, bringt uns (wieder) zum Staunen. Technik fordert uns heraus Funktionen zu überprüfen, Mechanismen zu suchen, Probleme zu lösen, Möglichkeiten zu entdecken. Die Inszenierung der Technik ermöglicht uns Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erfassen. Die bestimmten technischen Geräusche, ob mechanische, elektrische oder elektronische, lernen wir frühzeitig kennen. Sie strukturieren die Räume der alltäglichen Erfahrung. Das Surren des Backofens, das Klingeln der Mikrowelle, das Blubbern der Spülmaschine und des Wasserhahns, das Glucksen der Kaffeemaschine. Dann das Spielzeug, das wir haben oder hatten, das zischende Geräusch der Carrera-Bahn, das Scheppern, wenn die Autos über die Kurve hinaus fliegen. Die Modell-Eisenbahn, dann die Kisten voller Lego, Spielzeugautos, Fischer-Technik, Puppen oder Playmobil. Später dann das Piepen des Gameboy, die Klangkulissen der virtuellen Welten in Konsolen und Computern. Mit dem Computer eröffnet sich dann auch eine virtuelle Welt voll eigener Klänge, dem Leben entnommen. Ebenso erlernen wir die technischen Geräusche aus dem Stadtleben, ob Autos (mit Benzin-Motor, Diesel-Motor etc.), Motorräder, Busse, Bahnen, Hubschrauber und Flugzeuge, zuzuordnen. Auf dem Land die Traktoren und Mähdrescher, die Landmaschinen aller Art. Aber auch in den Räumen der Arbeit, im Büro die Geräusche der Kopierer, das typische Geräusch der Drucker, die verzerrten Signale der Modems, das Rauschen der Klimaanlagen, das Summen der Beamer oder in der Fabrik die Klangwelten der Maschinen, das Hämmern und (Kreis-)Sägen in den Werkstätten, das Bohren und Scharren auf den Baustellen. Ebenso kennen wir vielleicht das stille Fiepen und Surren der Geräte im Krankenhaus.272 All diese technischen Geräusche und Klänge lernen wir zuzuordnen, zu sortieren, sodass sie zu Erfahrungen werden und sich in Erinnerungen manifestieren. Sie begleiten uns als schöne, 272 Vgl. ausführlich zu den funktionalen Klängen im Krankenhaus Schneider, Max (2009): Kontextsensitives Sounddesign. Überlegungen zu einer neuen Sounddesign-Methode. S. 173–194. In: Spehr, Georg (Hrsg.) (2009): Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen. Bielefeld: Transcript. 110 unangenehme und manchmal gar als schauerliche Erinnerung, die als Fantasien und Vorstellungen präsentisch bleiben.273 Wenn wir dann in Technik-Museen erneut mit diesen Erfahrungen und unseren Erinnerungen konfrontiert werden, dann werden wir erneut in eine ursprüngliche, erlebnisreiche Interaktion zurückversetzt. Als wäre dies völlig neu für uns. Augoyard und Torgue belegen diese durch Klänge induzierten, erinnerten Erfahrungen mit dem Begriff „Anamnesis“.274 Klang, Raum und Erinnerung sind folglich verknüpfte Facetten unserer Erlebniswelt. Augoyard und Torgue schreiben in Bezug auf die gleichzeitige Präsenz verschiedener historischer Klangumwelten in der Stadt: “[...] space is also an organization of potential anamnesis, through its faculty to maintain the presence of different eras.”275 Die Faszination Technik, die wir zum Beispiel in Museen empfinden, ist folgerichtig auch eine Organisation potentieller klanglicher Interaktionen, die an unsere Erinnerung anknüpfen. Diese Beziehungen möchte ich unter Punkt 7.5 näher untersuchen. 7.4 Exkurs: Medien und Computer als virtuelle und physische Erlebnisse Virtuelle Welten und ihre Beziehung zum physischen Raum wurden auch in der Geographie bereits zum thematischen Gegenstand erhoben.276 Virtuelle Umgebungen, sei es in Computerspielen oder im Internet, können in einem weiteren Sinne auch als Spiel-Räume verstanden werden. Interessant ist dabei die Beziehung zwischen virtueller Applikation und leiblichem Raumerleben.277 Unter Berücksichtigung der Klänge möchte ich dies an zwei Beispielen skizzieren. Zum einen das Gemeinschaftserleben durch das Computerspiel „Singstar“ der Firma Sony, was eine zeitgenössische Weiterentwicklung von Kara- 273 274 275 276 Vgl. zum Verhältnis von Erinnerung und Vorstellung: Ihde (2007), S. 119ff. Augoyard/Torgue (2005), S. 21ff. Augoyard/Torgue (2005), S. 25 Vgl. Crang, Mike/Crang, Phil/May, Jon (Hrsg.) (1999): Virtual Geographies – Bodies, space and relations. London: Routledge. 277 Vgl. Fritz, Jürgen (2007): Virtuell spielen – real erleben. S. 129–146. In: Pias, Claus/ Holtorf, Christian (Hrsg.) (2007): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 111 oke ist. Zum anderen anhand von LAN-Parties278, bei denen Computerspiele – zumeist Ego-Shooter – im Netzwerk gespielt werden. Karaoke279 ist ein beliebtes Party-Spiel, das durch die Entwicklung des Programms „Singstar“ – vornehmlich auf Basis der Playstation 2 der Firma Sony – wieder auflebte. Dabei werden Songs ausgewählt, die man durch Mikrofone mitsingen muss. Das Programm gibt die zu erreichenden Tonhöhen und -längen vor und wertet anhand von Punkten die jeweilige Leistung des Sängers aus. Es besteht die Möglichkeit alleine oder im Duett zu singen. Darüber hinaus kann man sich den Gesang wieder vorspielen und speichern lassen. Zumeist wird „Singstar“ in einer Gruppe von einigen Leuten gespielt, bei denen es dann zu Duellen kommt. „Singstar“ erfordert Blickkontakt mit dem Bildschirm, sodass die meisten Teilnehmer vor dem Gerät stehen, im Hintergrund die „mitfiebernde“ Gruppe. Orte, an denen „Singstar“ gespielt wird, also gemeinhin das Wohnzimmer oder der Partykeller, werden somit zu Bühnen, auf denen man sich präsentiert und duelliert. Das Vortreten, das Sicherheben und in den Fokus der Aufmerksamkeit treten und sich der virtuellen Jury des Spiels stellen, führt den Effekt der Anspannung mit sich. Hinzu kommt, dass schüchterne Gruppenmitglieder überredet werden mitzumachen. Diese motivatorische Implikation ist Teil des Erlebnisses. Vor allen Dingen ist das Hören der eigenen Stimme und die Unterwerfung der eigenen Performance unter das Urteil eines Computers und der gnadenlosen Beurteilung einer – vielleicht gar alkoholisierten – Gruppe ein besonderes Erlebnis. Nichtsdestotrotz ist Karaoke – und daran knüpft vermutlich der Erfolg der Heim-Karaoke-Anlage „Singstar“ an – stets mit einem vertrautem Raum, einer vertrauten Umgebung verbunden. Kazuko Pfeiffer-Egawa schreibt über Karaoke in Japan: „Es ist wichtig, so einen intimen, vertrauten eigenen Raum isoliert von der Aussenwelt zu schaffen, in dem man sich durch Singen und Inter- 278 LAN steht für Local Area Network. 279 Karaoke ist ein soziales Singspiel, dass aus Japan stammt. Das Wort ist eine Abkürzung aus dem Japanischen und entstammt „kara“ = Leere und „oke“ = Orchester. In Japan ist es eine traditionelle Freizeitbeschäftigung, obzwar es auch in anderen Ländern und kulturellen Kontexten weit verbreitet ist, zum Teil mit abweichenden sozialräumlichen Anordnungen. In Italien und Hongkong ist Karaoke auch im Zusammenhang mit Massenveranstaltungen bekannt. – Pfeiffer-Egawa, Kazuko (2004): Karaoke, ein Kulturphänomen Japans. Eine sozialpsychologische empirische Studie. Dissertation. Zürich: Zentralstelle der Studentenschaft. 112 aktionen gegenseitig stimulieren kann, so dass man am Ende als Gruppe ein höheres Emotions- und Stimmungsniveau erreicht.“280 Das virtuelle Erlebnis bedingt die sozialräumliche Anordnung. Das Spiel hat seinen Raum. Indem das Wohnzimmer oder der Partykeller zur Bühne wird macht der Raum im Umkehrschluss das Spiel erst möglich. Das Zuhören und die Zugehörigkeit verzahnen sich hier miteinander. Knoblauch betont, dass „[...] virtuelle Events [...] nur dann ‚Sinn‘ machen, wenn sie an wirkliche Körper zurückgebunden werden“.281 Diese bei „Singstar“ zu findende Bindung zwischen virtuellem und sozialem Raum sowie die Rückbindung an den Körper bzw. Leib erklärt mitunter den Erfolg des Spiels.282 Ähnlich ist die Beziehung zwischen (virtuellem) Spiel und Raum auf LANParties. LAN-Parties sind Zusammenkünfte von oft mindestens fünf bis sechs Spielern bis hin zu größeren Teilnehmerzahlen im Rahmen von Spielemessen und -konvents. Zu diesen Gelegenheiten treffen sich die Computerspieler mit ihren Computern, die im Netzwerk miteinander verbunden sind und spielen verschiedene Spiele im Multiplayer-Modus. Die Auswahl der Spiele reicht von Rollenspielen über Sport- und Fahrsimulationen bis hinzu Gewalt- und Kriegssimulationen. Die meisten LAN-Parties finden an Orten statt, an denen auch nachts die Klänge des Spiels in hoher Lautstärke erschallen können. Der „Sound“ ist wesentliches Element des Spielerlebnisses. LAN-Parties können sich oft über mehrere Tage erstrecken, bei denen so lange gespielt wird, bis bei den ersten Teilnehmern die Müdigkeit einsetzt. Ulrike Pilarczyk schreibt in ihrem Artikel „Von der Faszination der 3-DAction-Spiele“283 auch über die spezifischen Klangwelten der virtuellen Räume in den jeweiligen Spielen. Sie fokussiert sich dabei vor allem auf 3D-Kriegssimulationen: „Diese eindrucksvolle Visualität des Spiels schafft eine suggestive Bildwelt, der man sich schwer entziehen kann; komplettiert wird sie durch eine ebenso eindrucksvolle Klangwelt: Beim Spieler wird das Gefühl evoziert, sich leibhaftig im Spielraum zu bewegen, weil er das 280 281 282 283 Pfeiffer-Egawa (2004), S. 4 Knoblauch (2000), S. 42 Ein ähnliches Beispiel ist die Video-Konsole Wii von Nintendo. Pilarczyk, Ulrike (2006): Von der Faszination der 3-D-Action Spiele. S. 127–133. In: Poser, Stefan/Hoppe, Joseph/Lüke, Bernd (Hrsg.) (2006): Spiel mit Technik – Katalog zur Ausstellung im Deutschen Technikmuseum Berlin. Berlin: Stiftung Deutsches Technikmuseum und Verlag Koehler & Amelang. 113 Keuchen, Stöhnen und das Schießen unausweichlich dem Spiel-Ich oder dessen Gegnern zurechnet. Schließlich wird die Mächtigkeit der Waffen durch Lichtblitze und Schussgeräusche symbolisiert. Hinzu treten Musik und Rhythmus. Durch das irrwitzige Spiel digital erzeugter Töne und Klänge, durch Melodie-Motive, die Erinnerungen an Harmonien wachrufen und sogleich dissonant, verzerrt und verloren wirken, durch Schnelligkeit und Härte des Rhythmus werden die Brutalität, die Beklemmung, die Bedrohung, die Dynamik des Spiels vermittelt, zugleich wird das Irreale, Inszenatorische der Spielsituation, in der sich der Spieler befindet, verstärkt. Auf diese Weise wird ein virtueller Spielraum geschaffen, in dem der dreidimensionale Bildraum und der Klangraum zum audio-visuellen Erlebnisraum verschmelzen.“284 Dabei wird auch deutlich, dass der virtuelle Erlebnisraum, neben dem Spielszenario bzw. dem Handlungsverlaufs des Spiels, mittels eines neugierigen Entdeckerdrangs im Sinne einer Fremderfahrung erfahren wird. Wir verlieren uns im Entdecken und Erobern dieser virtuellen Welten, dieser fremden Räume. Knoblauch verbindet diese Klangerfahrungen auch mit Körper und Raum: „[Die ästhetische Erfahrung] zeigt sich lediglich aus der subjektiven Perspektive derjenigen, die sich mit ihrem eigenen Körper in diesem virtuellen Raum bewegen. Denn die Bewegung erfolgte wie in einem nächtlichen Raum, und die Verbindung von zunächst erratisch scheinenden Klängen mit der eigenen Körperbewegung erzeugte eine sehr eigenwillige, zu erkundende Raumordnung, die mit Tönen verknüpft war. Allein die Knüpfung der Raumerfahrung an Töne erzeugt eine besondere ästhetische Erfahrung, die noch durch die Anbindung an die eigene Körperbewegung verstärkt wurde. [...] die [...] Herausgehobenheit der Erfahrung, die sich subjektiv deutlich gegen alltägliche Routinen absetzt. Und dabei bleibt die Herausgehobenheit nicht unvermittelt: sie findet ja keineswegs nur im Innenraum des erfahrenden Bewußtseins statt, sondern ist an die Körperlichkeit des Erfahrenden gebunden.“285 Diese von Knoblauch „zu erkundende Raumordnung“, die mit „Tönen verknüpft“ ist, oder auch seine Metapher-Wahl „wie in einem nächtlichen Raum“ umschreibt den Charakter der Fremderfahrung. Die virtuelle Welt stellt sich als fremder Raum dar, den es zu erkunden gilt. Die Hör-Ereignisse sind dabei wesentliches Element einer virtuellen Orientierung. 284 Pilarczyk (2006), S. 129 285 Knoblauch (2000), S. 42 114 LAN-Parties sind auch Gemeinschaftserlebnisse, da physischer Raum für diese und während dieser Erfahrungen geteilt wird. Soziale Kontakte werden hergestellt und gepflegt, es bilden sich Spieler-Vereinigungen, sogenannte „Clans“. Auch die Erfahrung von Technik gehört mit zu diesen Spiel-Räumen: Computer werden aufgebaut, umgerüstet, repariert, gewartet. Die virtuellen Räume auf LAN-Parties werden folglich ergänzt vom sozialen Raum, sodass die leibliche Erfahrung in solchen Räumen nicht nur auf das virtuelle Erleben reduziert werden kann. Sozialer und virtueller Raum scheinen sich hier vielmehr zu bedingen. 7.5 Zwischen Erinnerung, Illusion und Wirklichkeit Das Angebot der Museen, die auf diese unterschiedlichen Erlebnisse zurückgreifen, ist groß. Aus Geräuschen einer spezifischen Alltagswelt werden Klänge im Lust-Erlebnis; Klänge, die wir längst vergessen glaubten oder noch nicht kannten. In den technischen Spiel-Räumen wird Fremdes hörbar gemacht, das wir entweder so noch nicht gehört haben oder lange schon nicht mehr, wie bereits weiter oben angesprochen. Wir sind fasziniert auf die gleiche Art und Weise, wie Kinder die Alltagswelt entdecken, wie sie mit Ehrfurcht und Zittern vor riesigen Mähdreschern und Feuerwehrautos stehen. „Die Besuche mit meinem Vater auf der Internationalen Auto-Ausstellung in Frankfurt waren für mich prägende Erlebnisse. Hier konnte man Autos bestaunen, die auf den Straßen noch nicht oder selten so nah zu begutachten waren. Blitzblank polierte Fahrzeuge, zum Greifen nah, gedrängt in einer Menschenmasse, im Stimmengewirr. Inszenierungen und Shows der großen Hersteller, wo Autos durch die Luft schwebten, im Nebel- und Lichtspektakel auftauchten, eine Musik aus Motorengeräuschen, Hupkonzerte und immer wieder Gummi auf Asphalt, Fahr-Simulatoren und Motorsportgeräusche, Klangteppiche in Sessel-Lounges und die Volksmusik am bayrischen Würstchenstand. Diese Tage erschöpften und erfüllten mich völlig. Abends beim Einschlafen stieg ich in Gedanken noch einmal in jedes Auto ein und ließ den Motor erklingen. Noch tagelang zehrte ich nach einem Besuch von diesen Erinnerungen, spielte mit meinen Spielzeugautos die Ausstellung nach, ahmte die vielen verschiedenen Motorengeräusche nach.“286 286 Dem Autor ist besonders in diesem Kapitel eine latent geschlechtsspezifische Sichtweise sehr bewusst. Eine gendersensible Dekonstruktion der sozialen Bedeutung von Klangum- 115 Je mehr wir von der Welt und ihren Klängen kennen lernen durch die anhaltenden Lernprozesse, desto weniger bringen sie uns zum Staunen. Die Erlebnisse, die in unserer Kindheit aber zu rar gewesen sind, als dass wir sie in ihrer Fülle begreifen konnten, können uns nach wie vor begeistern. Einen Piloten wird eine Flugshow in der Regel genauso wenig staunen lassen, wie eine Panzerführerin einen Tag in der Panzerfahrschule291. Fremderfahrungen werden in der Erlebnisgesellschaft rarer. Alles scheint bereits zuvor da gewesen oder ist oft durch die Omnipräsenz medialer Inszenierungen bereits bekannt. Nur imposante Inszenierungen können den Sättigungseffekt des Fremden noch überwinden. Die Räume des Alltags, die Räume der Gewöhnung, werden mehr und mehr verdrängt von den Spiel-Räumen, in denen wir Fremdes neu erfahren wollen und können. Lust-Erlebnisse bewerten aber – anders als Erlebnisse als Primärerfahrung – die spielerische Erfahrung, sei es durch Wachrufen der Erinnerung oder das Staunen, höher als einen tatsächlichen Erkenntnisgewinn. Als auf dem Münchener Oktoberfest 1927 die sogenannte „Opel-Autobahn“ gebaut wurde, hatte dies den Zweck die Besucher im spielerischen Erlebnis den Umgang mit Automobilen zu lehren. Man konnte einen „Opel-Führerschein“ machen.287 Auch klassische Museen wecken kaum noch das Interesse. Mit den fortschreitenden Möglichkeiten der Inszenierung ergeben sich immer neue Wege Fremderfahrungen, die für das Staunen konstituierend sind, zu generieren. Es sind oft Inszenierungen wie im Film, perfekt und nahezu realistisch intoniert. Georg Spehr schreibt über das „Deutsche Auswandererhaus“ in Bremerhaven: „Dieser allein schon visuell beeindruckende Raum erhält durch seine Klangatmosphäre, die in allen Bereichen unterschiedlich wahrgenommen werden kann, ein zusätzliches, nicht minder beeindruckendes Erlebnismoment, durch das das dargestellte Thema wesentlich intensiver dargestellt wird. Bemerkenswert ist, dass neben Originalgeräuschen wie Möwengeschrei, Wasserklatschen, Metallkreischen und Schiffshörnern auch abstrakte Soundeffekte sowie musikalische Elewelten für beispielsweise Praktiken der Erzeugung von Geschlechterdifferenz oder klangliche Repräsentationen von Geschlecht etc. erscheint als sehr lukrativ für künftige Forschung. 291 Panzerfahrschule Gebrüder Heyse (o. J.): URL: https://www.panzerkutscher.de/ (Zugriff: 23. November 2013). 287 Nennen, Heinz-Ulrich (2006): Wirklicher als die Wirklichkeit: Über Spielen-Lassen-Können. S. 164–171. In: Poser, Stefan/Hoppe, Joseph/Lüke, Bernd (Hrsg.) (2006): Spiel mit Technik – Katalog zur Austellung im Deutschen Technikmuseum Berlin. Berlin: Stiftung Deutsches Technikmuseum und Verlag Koehler & Amelang. 116 mente in der Klangatmosphäre enthalten sind, um die zeitlichen und emotionalen Aspekte des Ortes zu unterstreichen. Es ist ein wenig so, als befinde man sich als Zuschauer nicht vor der Leinwand, sondern mitten im Film.“288 Die Orte in den Spiel-Räumen sind einer Wirklichkeit entrückt und stellen gleichermaßen eine parallele Wirklichkeit auf. Ist es wirklich „wie im Film“? Spehr schreibt, dass die „zeitlichen und emotionalen Aspekte des Ortes“ unterstrichen werden. Welchen Ort meint er dabei? Es ist nicht leicht, sondern anstrengend, in den Spiel-Räumen zwischen Simulakrum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Unsere Hörwahrnehmung irritiert uns, wir hören „Originalgeräusche“, die nicht originär sind. Das Wort „original“ bezeichnet sowohl Ursprüngliches als auch Schöpferisches. Schaffen wir die Wirklichkeit ab und erschaffen sie wieder neu? Wir verlieren uns im Raume, befinden uns in Zwischenräumen. 7.6 Spiel, Zweck und Erschöpfung im Science Center Mitte der 1980er Jahre entstand das Konzept „Edutainment“ in sogenannten Science Centern, die mit aufwendigen Mitteln und vor allen Dingen vermehrt wieder Aufmerksamkeit spielerisch zu generieren versuchten. Plötzlich galten die traditionellen Museen mit ihrem Fokus auf Wissensvermittlung als langweilig und wenig erlebnisreich. Science Center ermöglichen spielerisches Erfahren von Technik und Naturwissenschaften. Durch das Experimentieren und Nachdenken gelingt auch Kommunikation und Interaktivität in der Gruppe, Familie oder mit fremden Besuchern. Es gibt bei dem Erfahren und Erleben von technisch-naturwissenschaftlichen Exponaten kaum Anleitung und Vorschriften, sodass die Neugier wichtigster Impetus bei den Besuchern ist.289 Durch das Spiel mit vermeintlich bekannter Technik, einfachen physikalischen und mechanischen Effekten und logischen Zusammenhängen lernen wir die Fremdheit der Welt kennen. Ebenso lernen wir oft auch, wie fremd wir uns selber sind. 288 Spehr, Georg (2008): Funktionale Klänge: Mehr als ein Ping. S. 196. In: Schulze, Holger (Hrsg.) (2008): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung. Bielefeld: Transcript. 289 Vgl. Neuert, Christian/Budde, Marion (2006): Spiel mit Naturwissenschaft und Technik in Science Centern. S. 220–227. In: Poser, Stefan/Hoppe, Joseph/Lüke, Bernd (Hrsg.) (2006): Spiel mit Technik – Katalog zur Austellung im Deutschen Technikmuseum Berlin. Berlin: Stiftung Deutsches Technikmuseum und Verlag Koehler & Amelang. 117 „‚Was sind denn das für Geräusche? – Oho, jetzt geht’s wohl in den Dschungel auf die Safari‘, sagt die Stimme des virtuellen Roboters in der ‚Zeitkapsel‘ im Kölner Odysseum. Die Türen der Kapsel, einem kleinen Kino-Raum mit beweglichem Boden und bunten Lichtern, öffnen sich. Man hört den ‚Dschungel‘, Vögelstimmen, man hört Lebendigkeit, das Fauchen eines Dinosauriers. Die Klangkulisse ist dicht, einzelne Stimmen anderer Besucher verlieren sich in den Geräuschen der virtuellen Flora und Fauna. Ich wandere an den verschiedenen Stationen vorbei, höre Klangteppiche und Glockenspiel an manchen Stationen, unpersönliche Stimmen aus Fernsehbildschirmen und unsichtbaren Boxen. Ich fühle mich fremd, bin neugierig und angespannt: Was wird mich erwarten im nächsten Winkel?“ Die Anspannung und Anstrengung, die wir in den Spiel-Räumen erleben, erklärt sich aus der permamenten Interaktion. Sich selbst fremd zu sein bedeutet auch über sich selbst zu staunen, über sich selbst etwas zu erfahren. Dabei stellt sich die Frage, wie viel Illusion wir vertragen können. Das im April 2009 eröffnete Science Center „Odysseum“ in Köln ist eine Erlebniswelt par excellence: lehrreich, abenteuerreich, ansprechend, kinderfreundlich. Mein Besuch dort empfand ich als ebenso erhellend wie anstrengend. Woher stammte diese Anstrengung, dieser leichte Anflug von Klaustrophobie nach einiger Zeit? In perfekt inszenierten Spiel-Räumen mit nahezu authentischer Klangkulisse fällt es uns schwer zwischen Simulakrum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Das anhaltende Hinterfragen, das Abgleichen der Erfahrung mit dem Eindruck, strengt uns an. Im Kölner „Odysseum“ ist die äußere Welt vollständig verdrängt. Es gibt keine Fenster, keinen Blick nach außen auf die triste Wirklichkeit des Stadtteils Köln-Kalk. Wenn es „jetzt wohl in den Dschungel“ geht, dann IST das der Dschungel. Es bleibt keine Zeit dies zu hinterfragen. Perfekt inszenierte Spiel-Räume geben dem abweichenden Gedanken keinen Raum. 118 „Ich stehe vor der Station ‚Mindball‘, einem Tisch mit Glasplatte unter welcher mittig ein kleiner Ball liegt. Es heißt, dass man sich Stirnbänder aufsetzen soll, die Gehirnströme messen. Zwei Personen sitzen sich gegenüber, wer sich am Schnellsten entspannt, kann mittels der Gehirnströme den Ball auf die gegenüberliegende Seite bewegen. Man duelliert sich in der Entspannung. Der Tisch wird frei; eine Frau zwischen 40 und 50 steht neben mir und starrt mit fasziniertem Blick auf den Tisch. Wir sind die Einzigen an der Station in diesem Augenblick. Ich frage sie, ob wir uns duellieren wollen. Sie willigt ein. So entspanne ich mich um die Wette mit einer fremden Frau. Lange Zeit tut sich nichts, der Ball rückt langsam in meine Richtung vor, es scheint, als ob ich verlieren werde. Plötzlich tauchen meine Freunde auf. Sie machen Witze und versuchen mich beim Entspannen zu stören. Schließlich muss ich lachen und plötzlich schießt der Ball auf die andere Seite. Ich habe gewonnen.“ Auf meinen Wegen durch das „Odysseum“, ob in Begleitung der Freunde oder nicht, fiel mir immer wieder die Verlorenheit auf, die ich an mir und an anderen beobachtete. Eine Versunkenheit in sich selbst, in die Neugier, als gäbe es niemand anderen. Mein Zusammentreffen mit der Frau an der Station hatte den Grund, dass wir beide neugierig und beide verloren waren. Das Auftauchen meiner Freunde hingegen hat mich nicht entspannt, sondern es hat mir schlichtweg Sicherheit gegeben. Sich selbst fremd zu sein, bedeutet verloren zu gehen. Aus dem fremden Raumempfinden wurde plötzlich ein von Freundschaft erfüllter Raum. Science Center fördern unseren Spieltrieb und unsere Neugier. Sie lassen uns aber keinen Raum für Gedanken, für eigene Kreativität. Man sieht Menschen ergebnislos an Sachen drehen, auf Knöpfe drücken und sich von anderen erklären lassen, wie es geht. Die Klänge sind dicht, alles interagiert und man selbst verliert sich, erschöpft sich. 119 7.7 Exkurs: Räume der Langeweile – Räume der Kreativität – Lernräume „Ich sitze in der Bibliothek in der Nussallee in Bonn. Während meiner Arbeit sitze ich meist an einem Tisch vor oder an einer der grauen Betonwände. Oft in einer Ecke oder an einem Tisch mit dem Rücken zur Wand – jegliche Ablenkung vermeidend, das Rascheln, Tuscheln oder Husten anderer Studenten nicht hören wollend. Ab und an besuche ich auch die Universitäts- und Landesbibliothek in der Adenauerallee. Doch hier kann man ohne Ohrenstöpsel nicht arbeiten. Zu groß der Raum, zu offen, jedes Geräusch ist im ganzen Saal zu hören. Die Tische zwischen den Regalen, in den Winkeln der Poppelsdorfer Bibliothek sind besser. Hier wird man zwar weniger gesehen, aber man hört ebenso weniger. Auch wenn die sich über drei Etagen eröffnende Mitte im Gebäude störend ist: Der Lärm aus dem Erdgeschoss, vor allen Dingen aus den Bereichen, die nicht zum sogenannten Lesesaal gehören, ist zum Teil sehr störend.“ Räume des Lernens290 zeichnen sich dadurch aus, dass sie arm an Reizen sein müssen. Zum Lernen braucht man Ruhe. Bibliotheken erfüllen dies im besten Falle. Wenn man die beiden großen Bibliotheken der Universität Bonn miteinander vergleicht, fällt auf, dass sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Bibliothek in Poppelsdorf ist verwinkelt, die Tische stehen zum Teil einzeln zwischen Regalen, zum Teil in Reihen hinter- und nebeneinander. Dennoch sind Sichtachsen eingeplant worden. Das Gebäude hat eine offene Mitte vom Erdgeschoss zum Dach. Der Preis dafür ist nicht nur Platzmangel, sondern auch eine erhöhte Lautstärke. Universitätsbibliotheken in anderen Städten, die ich kennen lernen konnte, sind ähnlich: Die geographische Fachbereichsbibliothek in Marburg hat Tische in allerlei Ecken, vor Fenstern mit Blick ins Grüne, in Räumen, in denen man nur das Knarzen des Holzbodens hört. Die Universitätsbibliothek in Siegen hat auch eine bauliche Öffnung vom Erdgeschoss bis zum Dach, in der sich der Treppenaufgang befindet. 290 Ich verzichte auch hier auf eine klare Definition des „Lernens“. Es sei aber der Hinweis gestattet, dass ich im Verlauf dieser Untersuchung „lernen“ oftmals mit „erfahren“ gleichsetze. Vgl. zum Thema Fremdheitserfahrung und Musik-Lernen: Vogt, Jürgen (2001): „Das Eigene und das Fremde“ – Nur ein Modethema der Musikpädagogik? S. 59–73. In: Ehrenforth, Karl Heinrich (Hrsg.) (2001): Musik – unsere Welt als andere. Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch. Würzburg: Königshausen & Neumann. 120 Dieser ist aber mit Glaswänden von den Räumen mit Regalen und Arbeitstischen getrennt. Die Bonner Universitäts- und Landesbibliothek in der Adenauerallee hingegen ist als offener Saal gestaltet, zu ungunsten der Geräuschskulisse, mit Panorama-Fenstern auf den Rhein: Für mich ein Ort, an dem konzentriertes Lernen und Arbeiten ohne Ohrstöpsel für Menschen mit ruhebedürftigen Hörgewohnheiten fast unmöglich ist. Arm an Reizen sind auch Räume der Langeweile. Räume der Langeweile sind oft Zwischenräume, an den gewartet wird. Ähnlich wie bei Räumen, in denen gelernt wird (auf Erkenntnis gewartet wird?), hört man in Räumen des Wartens oder der langen Weile auch allenfalls nur notorische Geräusche: das Rauschen der Klimaanlage oder des Ventilators, die Geräusche der Materialien wie knackendes Holz, das Schlagen entfernter Türen, das Flüstern anderer, das Rascheln von Laub, die Geräusche des Umblätterns von Seiten, das Rauschen der Welt vor den Fenstern und andere Geräusche der jeweiligen Begleitumstände wie Ansagen, Zwischenrufe, Durchsagen, Betriebsgeräusche. Vielleicht fegt jemand in der Ferne, pfeift eine Melodie, mäht den Rasen oder am Rande des Hörhorizonts rauscht ein Auto vorbei. Es sind die Wartezimmer beim Arzt, das Warten am Flughafen kurz vor der boarding time, das Warten im Vorzimmer bei einem Geschäftstermin, das Warten an einer einsamen Bushaltestelle. Räume der Langeweile, wie wir sie aus unserer Kindheit kennen, sind auch Räume, an denen wir warten mussten. Warten auf eine Idee, auf einen Antrieb, auf eine neue Möglichkeit. Räume des Lernens, der Langeweile, des Wartens haben gemein, dass sie kreatives Potential haben. Ihre Reizarmut oder ihre vermeintliche Ruhe geben unseren Gedanken Raum. Während kreativer Überlegungsphasen ertappe ich mich oft dabei, dass ich die Füße auf den Tisch lege. Werbetexterinnen liegen am Boden und starren zur Decke, gedankenverloren lesen wir beim Arzt Illustrierte. Ein besonderes Phänomen in diesen Räumen ist eben jene Gedankenverlorenheit, das Fokussieren des Blickes, eines starren Blickes auf etwas, was wir nicht wirklich wahrnehmen. Mit dem Hören ist es ähnlich: Wir fokussieren auf das Rauschen des Ventilators ohne ihn konkret wahrzunehmen. Es sind die konstanten Geräusche, die uns helfen, klare Gedanken zu fassen. Räume mit kreativem Potential oder Räume der klaren Gedanken müssen nicht still sein. Sie sollten ruhig sein. Ruhe schließt auch konstante Geräusche ein. Ein wesentlicher Umstand ist ebenso, dass es Zwischenräume sind. Wesentlich an Wartezimmern ist, dass sie Passagenräume sind. Sie werden 121 bestimmt durch unseren Wunsch, sie bald wieder verlassen zu können. Bibliotheken als Lernräume schöpfen ihren Sinn daraus, dass wird dort sind, weil wir eventuell hier besser lernen können als zuhause. Kreative Räume oder Räume des Nachdenkens betreten oder begehen wir – man denke hier auch an den klassischen Spaziergang, den wir machen um nachzudenken. Wir variieren die Wahrnehmung des Raumes, indem wir uns zum Beispiel auf den Boden legen, uns auf den Kopf stellen, die Füße auf den Tisch legen, mit lauter Musik die bekannten Geräusche übertönen oder lediglich das Fenster aufmachen. Ein wesentlicher Raum, den wir vermutlich alle noch in Erinnerung haben, ist die Schule, der konkrete Klassenraum, der Pausenhof. Es sind Räume, die für uns biographisch eine sehr bestimmende Bedeutung haben können, seien es positive oder negative Erinnerungen. Wir erinnern uns an die Fremderfahrung der ersten Schultage, an die Erfahrung von Freude und Enttäuschung, von Streichen und Strafe, von erster Liebe und kleinen Erfolgen. Wir erinnern uns vielleicht an Prügeleien auf dem Pausenhof, mitunter an Momente der Ausgrenzung, an Tischtennisspielen, an Hüpfspiele, an Schneeballschlachten, an das Rauchen auf der Toilette. Wir erinnern uns daran, an die Tafel gerufen zu werden, an Klassenarbeiten, an mündliche Prüfungen. Wir erinnern uns auch an die verschiedenen Geräusche und Klänge. Das Schreien und Lärmen auf dem Pausenhof, der große tagtägliche Spiel-Raum. Im Kontrast dazu der Unterricht, das Quietschen der Kreide an der Tafel, das Fingerschnipsen, das Warten auf den Pausengong. Die Schule ist aber nicht nur ein Raum für die Schüler und Schülerinnen, sondern ebenso auch für die Lehrer und Lehrerinnen. Margaret Olson schreibt darüber, im Besonderen über die Erfahrung neuer Lehrer und Lehrerinnen, junger Absolventen, die plötzlich vor der Klasse stehen und nicht mehr Teil der Klasse sind.291 Es sind besondere Erfahrungen der Unsicherheit und der Autorität, kurz, es sind Fremderfahrungen: die eigene Stimme der Autorität, das Lärmen der Schüler und Schülerinnen. Olson, in Anlehnung an Bollnow, bezeichnet diese Räume als pädagogische Räume. Sie schreibt dazu: “Pedagogical space is a shared space – shared by teacher and students. It provides room for collaborative learning to take place between 291 Olson, Margaret (o. J.): Room for Learning. Phenomenology Online. URL: https://www. phenomenologyonline.com/articles/olson.html (Zugriff: 31. Juli 2010). 122 teacher and students. The space is filled with the tools, expressions, and results of learning. It is not developed for outsiders to come and view as a display of what the teacher is accomplishing. The contents of the room holds personal meaning for all who inhabit it, and visitors, unless they also dwell pedagogiclly [sic!], will be blind to the meanings that have been built by teacher and students. The presences of teacher and students pervade the space, not as isolated individuals, but as a mingling of thoughts and actions, each enhanced by the other. Pedagogical space is a space in which to get started. A place that encourages questioning, curiosity, and wonder. The contents of the room provide the beginnings that students and teacher can carry to their own individual ends, picking up along the way help and guidance from others. Pedagogical space is educational space, not instructional space.”292 An was erinnern wir uns, wenn wir an die Schulzeit und -räume denken? Was haben wir gelernt, erinnern wir uns noch an das Staunen beim Zuhören, an das Lärmen, an die Stimmen der Lehrer und an den Pausengong? Wenn bei den Lesern und Leserinnen in diesem Moment ähnliche, klangliche Erinnerungen evoziert werden wie bei mir beim Schreiben, dann entdeckt der Leser und die Leserin mit mir eben jene Strukturen auf, die wir lange vergessen glaubten und die nun wieder neu an uns treten. In der Erinnerung treten dabei aber zumeist stärker fokussierte Klänge und Geräusche auf als die volle Präsenz der Klangräume. 292 Olson (o. J.) 123 8 Gedanken zur Ordnung Funktionale Klänge als A-priori-Strukturen 8.1 Typologie der Signale: Funktion und Charakter Akustische Signale sind wesentliche Bestandteile unserer Hörerfahrungen. Sie gewinnen unsere Aufmerksamkeit und fordern unsere räumliche Beteiligung. Im Folgenden möchte ich der Betrachtung von Signalen und ihrer Bedeutung für das Raumerleben, insbesondere in Spiel-Räumen, eine kurze Typologie der Signale vorausschicken.          Glocke, Gong/Tam-Tam293 und Klingel, Horn/Tröte, Hupe, Pfeife/Flöte, Sirene, Signale der Zeit: Ticken, Klacken, Summen etc., animalische Signale: Zischen, Bellen, Röhren, Fauchen, Jaulen, Zwitschern etc., elektronische Signale, genuin elektronische Signaltöne, nachgeahmte Signale, Charaktersignale, andere Signale. Die Unterscheidung erfolgt anhand der Art der Schallquelle und der Weise, wie das Signal zustandekommt. Glocken, Gongs und Klingeln erzeugen Geräusche zumeist dadurch, dass etwas angeschlagen wird. Hörner, Hupen, Pfeifen und Tröten erzeugen Geräusche, indem Luft durch eine Öffnung gepresst wird. Sirenen wiederum sind ein Sonderfall: Zwar werden auch sie mittels (der Unterbrechung von) Luftströme(n) zur Geräuschquelle. Allerdings sind Sirenen zumeist komplexere Geräte, die entweder mechanisch, 293 Zur Typologie von Gongs und Tam-Tams siehe Oehlmann, Johannes (1992): Empirische Untersuchungen zur Wirkung der Klänge von Gongs und Tam-Tams. Frankfurt am Main: Peter Lang. 125 pneumatisch (Aerophone) oder elektrisch angetrieben werden. Signale der Zeit sind ebenso Sonderfälle, obzwar auch sie meist durch Anschlagen Geräusche produzieren. Obgleich sie variabel in ihrer Bauweise sind, so sind Signale der Zeit dennoch sehr typisch in ihrer Bedeutung. Animalische Signale zu typologisieren ist aufgrund ihrer Vielfalt schwierig; der Vollständigkeit halber seien sie hier aber auch gelistet.294 Besondere Bedeutung erhält die Gruppe der elektronischen Signale, da die meisten Signale, die wir heute hören und kennen, elektronischen Ursprungs sind. Dabei zu unterscheiden sind genuin elektronische Signale und nachgeahmte Signale, die im Folgenden als Charaktersignale bezeichnet werden sollen. Darüber hinaus gibt es noch mehr Signale, die nicht in die genannten Kategorien passen. Dabei ist die Trennung zwischen Signalton/-klang und Bedeutung bzw. Symbolik oftmals kaum möglich. Zu denken ist hierbei unter anderem an die Signalgeräusche unserer Körper, die für die Diagnostik eine wesentliche Bedeutung spielen wie zum Beispiel das Rasseln in der Brust beim Einatmen, gehört durch ein Stethoskop, oder das Magengrummeln. Wie schon erwähnt, generieren Signale (im besten Falle) unsere Aufmerksamkeit und führen zu einer räumlichen Beteiligung. Das Ziel ist zumeist die Ankündigung von bestimmten Zeitabschnitten oder Ereignissen zur Warnung oder zur Information. Dabei ist die Durchdringung der Signalklänge im Raum von immenser Bedeutung, da durch die Verortung der Raum strukturiert werden kann. Signale sind folglich oft auf Richtungshören angewiesen. Eine Feuerwehrsirene kann ich von der Hauptstraße bis zu meiner Haustür verfolgen; eine Fahrradklingel höre ich hinter mir oder auf der anderen Straßenseite; das Telefon klingelt in meiner Reichweite oder beim Nachbarn. Signale erfordern also nicht nur unsere Zeit, sondern auch oft genug unsere räumliche Beteiligung: Den Hörer heben wir ab, dem Fahrrad gehen wir aus dem Weg, die Feuerwehr lockt uns ans Fenster. Meistens reicht aber auch schon ein Blick, eine visuelle Vergewisserung, was es mit dem Signal auf sich hat. Im theoretischen Teil habe ich das Modell der A-priori-Strukturen entwickelt. A-priori-Strukturen in den Spiel-Räumen sind wichtig, um ein ‚Funktionieren‘ des Erlebens zu gewährleisten. Das können unterschiedliche Merkmale sein in der Planung und Gestaltung von Spiel-Räumen sowie bezüglich mik294 Der Zusammenhang zwischen animalischen Signalen und Territorialität ist immer wieder Gegenstand geophilosophischer Überlegungen gewesen. Sehr bekannt sind die Ausführungen von Deleuze und Guattari zum Ritornell: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. S. 423–479. Berlin: Merve Verlag. 126 rogeographischer Nutzungsmuster. Für die Hörwahrnehmung gelten aber Signale als wesentliche A-priori-Strukturen. Signale in Spiel-Räumen sind A-priori-Strukturen, weil sie mit den Klängen alltäglicher Erfahrung korrespondieren und auf bekannte Muster und Symboliken zurückgreifen. Sie sind notwendig zur funktionalen Strukturierung des Raumes und Handlungsanordnungen. Deswegen können wir Signale auch funktionale Klänge nennen. In Spiel-Räumen haben solche funktionalen Klänge oftmals einen angedeuteten Erlebnischarakter, was meist typisch für elektronische Signale ist. Es sind Charaktersignale, die zwar Aufmerksamkeit generieren, in ihrer Dringlichkeit und Bedeutung aber nicht das generelle Erlebnis stören sollen. Charaktersignale stehen somit von ihrem Wesen her zwischen spielerischen Klängen und aus der Alltagserfahrung bekannten Klängen. Als Beispiel ist hier das „Meckern“ des Geißbock-Maskottchen des 1. FC Köln im Müngersdorfer Fußballstadion zu nennen, wenn auf der Anzeigetafel Zwischenergebnisse gleichzeitiger Partien eingeblendet werden. Je dringlicher Signale sind, desto klarer ist ihre Symbolik. Die Dringlichkeit von Charaktersignalen kann durch intrinsische Verständnishilfen optimiert werden, wie „im Cockpit ein Schlürfgeräusch zur Darstellung des Signals ‚Treibstoffknappheit‘“295 oder in Spiel-Räumen ein an Tonhöhe schnell abnehmender Klang, der das Verlieren (eines Spiels zum Beispiel) symbolisiert – man denke hier an die ZONKFanfare in der Spielshow „Geh‘ aufs Ganze“. Ebenso sind der Tierwelt entlehnte Klänge zu nennen, die einen bestimmten Spielzug oder eine Spieleinheit im Eishockey296, Basketball oder Fußball charakterisieren. Charaktersignale können auch als Teil des „Audio Branding“, oder der auditiven Markenführung verstanden werden. Das „Audio Branding“ bezogen auf funktionale Klänge, zeichnet sich dadurch aus, dass auf einer emotionalen und identitätsstiftenden Ebene Information übermittelt wird: zum Beispiel ‚Schönheit‘, ‚Witz‘ oder ‚Beruhigung‘.297 Auch dies ist in Spiel-Räumen oft 295 Hermann, Thomas (2008): Daten hören. Sonifikation zur explorativen Datenanalyse. S. 217. In: Schulze, Holger (Hrsg.) (2008): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung. Bielefeld: Transcript. 296 Die deutschen Mannschaften im Eishockey tragen fast alle Tiernamen im Mannschaftsnamen, die als Identifikationsfiguren und Maskottchen dienen. Beispiele sind Kölner Haie, Adler Mannheim, Eisbären Berlin oder Nürnberg Ice Tigers. 297 Kloppenburg und Herzer schreiben dazu: „Die Tatsache, dass der Rezipient sich auf emotionaler Ebene leicht von Musik beeinflussen lässt, gleichzeitig aber auch durch Konditionierung und musikalische Sozialisation empfindlich auf akustische Reize reagiert, macht die Nutzung von Klang für die Vermittlung emotionaler Inhalte sehr wirksam. Allgemeine 127 der Fall, in dem bestimmten Markenzeichen – der Geißbock als Vereinsmaskottchen des 1. FC Köln – in einem auditiven Kontext benutzt werden. Als wichtiges Beispiel auditiver Markenführung durch Signale, gilt auch das Klangdesign von funktionalen Klängen in Fahrzeugen oder bei elektronischen Geräten wie Mobiltelefonen, etc.298 Wenn Fahren ein Erlebnis sein soll, wie in verschiedenen zeitgenössischen Fahrzeug-Werbungen inszeniert, dann muss auch die Sicherheit gewährleistet sein. Funktionale Klänge wie Alarm- und Warnsignale im Fahrzeug müssen nahezu intuitiv verstanden werden um in zeit- und sicherheitskritischen Momenten eine Krisenbewältigung zu gewährleisten. Das dem ökologischen Wahrnehmungsansatz von Gibson entstammende Konzept der „Auditory Icons“299 im Rahmen des „Everyday Listenings“ wird bei Nicola Fricke300 vorgestellt. Sie erwähnt vier verschiedene Informationsqualitäten von „Auditory Icons“ im Fahrzeugkontext: zum einen die Identität des Objekts (Fahrradklingel, Hupe etc.), die Distanz zu einem Objekt (Nachhall der einzelnen Geräusche), die Bewegungsrichtung eines Objekts (Frequenz/Tonhöhe, Lautstärke) und die Größe eines Objekts (Tonhöhe/Frequenz).301 Dieses technische Modell lässt sich natürlich auf funktionale Klänge im Allgemeinen anwenden. Auch in Spiel-Räumen werden funktionale Klänge in ihrer Bedeutung klanglich konzipiert. Bei Sportveranstaltungen, in denen Signale von Regeln abhängig sind, ist die Eindeutigkeit der Klänge und Töne für den Spielverlauf maßgeblich. Klänge, die für den Anfang und das Ende 298 299 300 301 128 und übergeordnete Funktion der akustischen Markenkommunikation ist also die Schaffung einer emotionalen Ebene und gleichzeitig der Transport von Information, wobei beide Bestandteile das Ziel vereint, das Markenwissen und folglich die Markenbindung zu stärken. Der Nutzen liegt dabei zusätzlich in einem gesteigerten hörbaren Wiedererkennen einer Marke und dessen Konditionierung.“ – Kloppenburg, Marcel/Herzer, Jan Paul (2009): Funktion Klang Marke. Funktionale Klänge und akustische Markenkommunikation. S. 92. In: Spehr, Georg (Hrsg.) (2009): Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen. Bielefeld: Transcript. In diesem Zusammenhang sei auf die Entwicklung elektronischer Klänge und Klangkompositionen durch Synthesizer hingewiesen. Eine exzellente Einführung gibt Pinch, Trevor (2006): Voices in the Electronic Music Synthesizer. S. 49–65. In: Selinger, Evan (Hrsg.) (2006): Postphenomenology. A Critical Companion to Ihde. Albany: State University of New York Press. Auch „Auditive Icons“ genannt; prinzipiell ist dieser Ausdruck meinem Ausdruck der Charaktersignale ähnlich, Fricke, Nicola (2009): Warn- und Alarmsounds im Automobil. S. 47–60. In: Spehr, Georg (Hrsg.) (2009): Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen. Bielefeld: Transcript. Fricke (2009), S. 57 eines Spiels eingesetzt werden, müssen unmissverständliche Informationsqualität haben. Sonst würden sie für Aufruhr und Verwirrung sorgen. Funktionale Klänge in Spiel-Räumen sind in ihrer Bedeutung oft binär. Zum einen können sie Teil des Spiels sein, aber ebenso eine bestimmte Bedeutung für die Zuschauer/Zuhörer haben, die konträr ist. Dies ist insbesondere bei Sportveranstaltungen der Fall. Das Pfeifen des Schiedsrichters aufgrund eines Fouls führt zu einer Spielunterbrechung und evoziert einen Sturm der Entrüstung auf den Rängen des Stadions. Das elektronische Hupen im Basketball aufgrund einer Auszeit führt zu einer Spielunterbrechung und einem Ablassen der Fangesänge, da viele sich schnell eine Wurst kaufen möchten. Ebenso können funktionale Klänge unterschiedlich interpretiert werden und von ihrer Intention abweichende Effekte hervorrufen. Die Spanne zwischen Gefahr und Gelegenheit erscheint vielen günstiger oder ungünstiger als anderen: eine Feuerwehrsirene in einem Stadion kann in der Menschenmenge eine Fluchtreaktion auslösen302, die Pfeife des Bademeisters bedeutet für Jugendliche, dass sie möglichst schnell verschwinden, bevor dieser sie erwischt. Dies macht deutlich, dass der Einsatz funktionaler Klänge in den Spiel-Räume mit besonderer Vorsicht und Umsicht geplant werden muss. Dabei kann auch nicht vorausgesetzt werden, dass die funktionalen Klänge auf Anhieb verstanden werden. Meine Erfahrungen und Überlegungen im Rahmen dieser Arbeit bei Basketballspielen im Bonner Telekom Dome, bei American Football-Spielen sowie Handballspielen zeigten, dass ich aufgrund meiner nicht vollständigen Kenntnis über das jeweilige Regelwerk und die Spielverläufe mitunter Probleme hatte Signale klar zu deuten. Insbesondere relativ regelarme und somit auch signalarme Sportspiele wie zum Beispiel Fußball erfreuen sich vermutlich auch deswegen einer höheren Popularität. Funktionale Klänge können auch entkontextualisiert werden und in das Spielgeschehen eingebaut werden. Dies findet sich vor allen Dingen in den von Fans bei Sportveranstaltungen aufgebauten Fankulissen. Ein interessantes Beispiel ist das südafrikanische Vuvuzela-Horn, das vermutlich früher 302 Während des tragischen Vorfalls auf der Love Parade im Juli 2010 wurde die Veranstaltung aus Sicherheitsgründen nicht abgebrochen, da befürchtet wurde, dies könne sich kontraproduktiv auf den Rettungseinsatz auswirken. Die Bizarrheit der Gleichzeitigkeit von Feier und Tod ist dabei unvermeidbar gewesen. Vgl. Hitzler, Ronald/Kirchner, Babette/Betz, Gregor (2011): Das Beispiel Loveparade. Zur Selbstverständlichkeit und Verselbstständigung eines urbanen Events. S. 261–277. In: Betz, Gregor/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2011): Urbane Events. Wiesbaden: VS Verlag. 129 ein wichtiges soziales Signalhorn darstellte. Heutzutage wird es als „Krachmacher“ in südafrikanischen Fußballstadien benutzt, weswegen es im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika im Sommer 2010 in der Presse und der FIFA Diskussionen über ein mögliches Verbot gab.303 Die Tragweite der Entscheidung war dann im Laufe der Fußball-Weltmeisterschaft deutlich wahrzunehmen: Die Live-Übertragung der Spiele wurde von diesem als „Dauerton“ charakterisierten Geräusch begleitet, die Klangkulisse vor Ort entbehrte der affektiven Dichte der Fan-Gesänge und an zahllosen öffentlichen sowie privaten Orten rund um die Fan-Festivitäten in Deutschland wurde die Vuvuzela – zu Recht aufgrund ihrer Lautstärke und ihrer klanglichen Penetranz – verboten. Funktionale Klänge müssen nicht zwangsläufig Signaltöne sein, sondern können ebenso musikalisch sein. Die Grenze zwischen Musik und musikalischen Signalen ist oft sehr verschwommen, wie wir bereits im Zusammenhang mit „Audio Branding“ sehen konnten, und musikwissenschaftliche Hierarchiund Dichotomisierungen wie zum Beispiel die Trennung von „absoluter Musik“ und „Programmmusik“ erscheinen aus phänomenologischer Perspektive als redundant. Ein besonderes Beispiel vom Einsatz von Musik als funktionaler Klangkomposition ist die Zirkusmusik. Darbietungen von Artisten und Gauklern wurden schon früh mit Musik begleitet, um die Aktionen effektiv (und affektiv) zu unterstreichen bzw. „abzuschlagen“304. Zu diesem Zwecke unterhalten viele Zirkusse Orchester und Musikgruppen, die für die musikalische Untermalung der Darbietung sorgen. Dabei hat die Musik – und am Berühmtesten ist wohl der klassische Tusch – den Zweck am Anfang der Darbietung Spannung aufzubauen, während der Darbietung Spannung zu halten und am Ende der Darbietung dieses zu verkünden. Die Zirkusmusik ist funktionale Musik insofern, als sie durch Tempoverzögerungen und Taktwechsel zum Beispiel Applaus steuern und somit Aufmerksamkeit antizipieren kann.305 In seiner Monographie zur Zirkusmusik kann der Dirigent und Zirkuskapellmeister 303 Vgl. FIFA (o. J.): V is Vuvuzela. URL: https://www.fifa.com/worldcup/destination/southafricafromatoz/letter=v/index.html (Zugriff: 12. August 2009; Seite derzeit leider nicht mehr verfügbar); Initiative gegen Vuvuzelas (o. J.): URL: https://vuvuzelas.org/ (Zugriff: 31. Juli 2010). 304 Parolari, Reto (2005): Circusmusik in Theorie und Praxis. Winterthur, Wien: Edition Swiss Music & Weltmusik Edition International. 305 Parolari (2005), S. 11 130 Reto Parolari sogar für verschiedene Darbietungen und Zwecke entsprechende musikalische Hinweise und Anforderungen darlegen. Die Signaldichte in Spiel-Räumen wird zumeist niedrig gehalten. Im Folgenden möchte ich drei besondere funktionale Klänge und ihre Bedeutung als A-priori-Strukturen in Spiel-Räumen herausgreifen. 8.2 Das Pfeifen Das „Pfeifen ist ubiquitär, Pfeifen ist selbstverständlich“ – diesen Satz kann man in „Pfeifen im Walde – Ein unvollständiges Handbuch zur Phänomenologie des Pfeifens“306 nachlesen. Das Pfeifen ist tatsächlich ein allgegenwärtiges Geräusch, oft mit dem Mund gemacht oder mit Instrumenten. Neben Menschen pfeifen natürlich auch Tiere und Gegenstände, die einem bestimmten Luftstrom ausgesetzt sind. Der Wasserkocher pfeift, die Lokomotive pfeift, der Wind pfeift um die Häuserecken. Gepfiffene Signale hingegen haben erst seit der Industrialisierung stärker an Bedeutung gewonnen:307 zum einen im Bahnverkehr und der Seefahrt, wo sie entweder durch Dampf betrieben wurden oder wo Pfeiftöne instrumentell durch Seemann oder Zugführer erzeugt wurden, zum anderen aber auch im Straßenverkehr, wo Verkehrspolizisten den Verkehr regelten. Ebenso pfeifen Schiedsrichter im Sport mit Trillerpfeifen – im Jahr 1878 im Fußball zum ersten Mal dokumentiert308 – und geben dadurch Signale. Fußballfans wiederum imitieren das Pfeifen des Schiedsrichters, um ihren Unmut über etwas zum Ausdruck zu bringen oder um die gegnerischen Spieler zu irritieren. Auch Bademeister und Rettungspersonal in Schwimmbädern und an Stränden benutzen Pfeifen. Manche Familien sowie Kinder haben eine bestimmte Pfeifmelodie mit für Mitglieder und Eingeweihte hohem Erkennungswert. Vielen bekannt ist auch die Pfeife an der Schwimmweste, die das vielleicht lebensrettende Signal abgibt. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern das Pfeifen sich zur Signalgebung eignet. Der Zusammenhang zwischen der Industrialisierung und der Bedeutungszunahme des Pfeifens ist nicht zufällig. Beim instrumentellen Pfeifen 306 Straebel, Volker/Osterwold, Matthias (Hrsg.) (1994): Pfeifen im Walde – Ein unvollständiges Handbuch zur Phänomenologie des Pfeifens. Köln: Maly. 307 Straebel/Osterwold (1994), S. 114f. 308 Straebel/Osterwold (1994), S. 110; vgl. Zur Nedden, Dietrich/Quasthoff, Michael (2006): Pfeifen! Vom Wesen des Fußballschiedsrichters. Springe: Zu Klampen Verlag. S. 56 131 wird ein Luftstoß auf eine Kante geblasen, und durch die Turbulenzen an der Kante werden im Resonanzraum des Instruments aufgrund von stehenden Wellen Pfeiftöne erzeugt. Diese Pfeiftöne sind aufgrund ihres Tonspektrums schrill und meist laut, sodass sie sich bestens eignen um eine umgebende Lautstärke zu übertönen. Deswegen ist ihr Einsatz auf Sportveranstaltungen (allen voran bei Fußballspielen) und im Verkehrswesen insofern sinnvoll, als dass davon ausgegangen werden kann, dass das Pfeifen die optimale Art und Weise ist, um in lauten Umgebungen Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dies erklärt auch den Zusammenhang zwischen dem verstärkten Einsatz des Pfeifens und der Industrialisierung, die dafür verantwortlich ist, dass die Welt lauter wurde. Das Pfeifen bzw. Pfeifinstrumente werden also vornehmlich in lauten Umgebungen eingesetzt oder zur Überbrückung großer Distanzen. Die Pfeifinstrumente für Schiedsrichter – obschon die Pfeife nicht im Regelwerk nationaler und internationaler Fußballverbände fest verankert ist309 – wurden kontinuierlich den Lautstärke-Anforderungen in Stadien angepasst. Im Fußball ist aber nicht nur die Lautstärke der Schiedsrichterpfeife entscheidend, sondern auch ihr Klang und, damit zusammenhängend, die Art und Weise, wie das Instrument gepfiffen wird. Bei nebeneinander liegenden Spielfeldern und gleichzeitiger Spielaustragung empfehlen sich natürlich unterschiedliche Pfeifen. Zur Nedden und Quasthoff zitieren Schiedsrichter, die unterschiedliche Pfeifsignale entwickelt haben, um Botschaften zu transportieren, sie variieren zum Beispiel die Länge und Stärke des Tons.310 Ein weiteres Phänomen sind Hochfrequenz-Pfeiftöne von Ultraschall-Störgeräuschsendern. Diese Geräte senden Schallwellen in hohen Frequenzen aus, die hauptsächlich nur von Jugendlichen und Kindern gehört werden können, da ältere Menschen nach und nach die Fähigkeit verlieren diese hohen Frequenzen wahrzunehmen. Daraufhin wurden Geräte entwickelt, um Jugendliche aus öffentlichen und halb-öffentlichen Räumen zu vertreiben, da dieser Pfeifton von ihnen als unangenehm empfunden wird. Seit einigen Jahren werden diese Geräte in Europa eingesetzt, zum Beispiel in Großbritannien oder in der Innenstadt von Skopje in Mazedonien.311 309 Zur Nedden/Quasthoff (2006), S. 58f. 310 Zur Nedden/Quasthoff (2006), S. 59f. 311 Vgl. BBC (14. Mai 2006): Deal for anti-gang sonic device. URL: https://news.bbc.co.uk /2/ hi/uk_news/wales/4768213.stm (Zugriff: 31. Juli 2010); Spiegel-Online (23. April 2008): Pieptonfolter gegen Jugendliche: Hier kommt die Tinnitus-Attacke. URL: https://www. spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,549176,00.html (Zugriff: 31. Juli 2010). 132 Es lässt sich also festhalten, dass gerade für Spiel-Räume mit ihren erhöhten Geräuschpegeln das Pfeifen eine wesentliche a-priori-Struktur darstellt. In Stadien wird das Pfeifen des Schiedsrichters mittlerweile sogar verstärkt, um Missverständnissen vorzubeugen. Das Pfeifen durchdringt den Raum auch über große Distanzen und in aller Deutlichkeit. Das Pfeifen trennt den Raum in Zeiträume durch Handlungsmöglichkeiten. Im Fußball sind dies vor allen Dingen die Halbzeitpausen. Wir gehen ‚in‘ der Pause etwas essen oder auf die Toilette. Das Pfeifen ermöglicht oder aktiviert Handeln in zeit-räumlichen Serien. Das Pfeifen des Wasserkochers kündigt die Möglichkeit an mit dem kochenden Wasser einen Tee aufzugießen, die pfeifende Lokomotive kündigt ihr Erscheinen und die Gefahr des Ein- und Vorbeifahrens an, das Pfeifen des Schiedsrichter gibt den Elfmeter-Schuss frei und Jungs pfeifen den Mädels hinterher. Mit dem Pfeifen entstehen folglich Möglichkeitsräume für Handlungen und für die Aufmerksamkeit bzw. Zeitabschnitte für räumliche Beteiligung. 8.3 Die Klingel Ähnlich dem Pfeifen ist die Klingel ein Klang, der unseren Alltag nicht nur in der westlichen Hemisphäre ständig begleitet. Dafür verantwortlich sind insbesondere zwei Geräte, die mit einer Klingel ausgestattet sind: das Fahrrad und das Telefon. Ebenso hinzuzählen lässt sich die Türklingel, obschon sie oft auch als Türschelle bezeichnet wird. Das typische Klingeln des Fahrrads und des Telefons ebenso wie das der Tür vermittelt eine besondere Botschaft: Es kommt etwas von fern, von außen. Die Fahrradklingel kann man zwar auch als Warnsignal oder Ansagesignal bewerten, aber generell verbindet sich in der Klingel immer die Aussage, dass etwas kommt. Sei es ein Fahrrad, ein Anruf, ein Besuch, der Postbote. Oder, wenn mit dem Messer an das Glas gestoßen wird: es kommt ein Toast! In einem bemerkenswerten Artikel im „Hear the World“-Magazin beschreibt Markus Frenzl, wie sehr das „ring-ring“ oder „klingeling“ der Fahrradklingel sich in unserer Hörgewohnheit festgesetzt hat.312 In Filmen reicht der Klang der Klingel aus, um ein Fahrrad anzukündigen, ohne dass es tatsächlich gezeigt wird. Möglicherweise werden elektronische Fahrradklingeln – wie auch Mobiltelefontöne – immer auch optional mechanisch klingen können. Zu sehr ist die Fahrradklingel in unserer Hörgewohnheit verankert. Diese Veranke312 Frenzl, Markus (2009): Platz da! Wieso der Klang einer Fahrradklingel das Verschwinden der Klingel selbst überleben wird. S. 21. In: Hear the World – Magazin für Hör-Kultur. Nr. 10. 133 rung besteht weltweit, und wer sich die Frage stellt, wie Städte in China klingen, dem wird schnell der Klang der rotierenden Fahrradklingel einfallen. Ein unweigerliches Denkmal hat die Band Queen der Fahrradklingel in ihrem Lied „Bicycle Race“ aus dem Album „Jazz“ von 1978 gesetzt. Unter den Fans war es Sitte, dass diese zu den Konzerten der Band Fahrradklingeln mitnahmen und sich somit an der Darbietung beteiligten. Dies ist auch ein Beispiel dafür, wie Signalklänge entkontextualisiert werden können und popkulturell rekontextualisiert werden. Während ich bereits von Charaktersignalen sprach – wie sie auch elektronische Klänge einer mechanischen Nostalgie des altbackenen Telefonklingelns darstellen –, wird im Zusammenhang mit der Entkontextualisierung solcher Klänge der Signalcharakter stärker betont. Die generelle Gefahr dabei besteht, dass der inflationäre Gebrauch von zum Beispiel lebensrettenden Signalpfeifen die Signalbedeutung an sich abschwächen kann oder, um bei der Klingel zu bleiben, dass der fortwährende „Klingelstreich“ der Nachbarkinder dazu führen kann, dass wir uns zweimal überlegen, ob wir darauf reagieren. Festzuhalten ist also, dass Klingeln in Spiel-Räumen (in Verbindung zum Beispiel mit anschwellender Lautstärke) das Näher- bzw. Ankommen eines Ereignisses oder Objektes ankündigt. 8.4 Die Glocke und der Gong In vom Christentum geprägten Ländern ist das Läuten der Kirchenglocke ein Klang, der sowohl Raum als auch Zeit strukturiert. Der Glockenklang war Kalender und informierte über Anlässe (später in Zusammenhang mit der mechanischen Uhr). Außerdem grenzte der Glockenklang akustisch den Einflussbereich der Kirche ab. Schafer weist daraufhin, dass christliche Missionare „acoustically demarking the civilization of the parish from the wilder-ness beyond its earshot“313. Gegen den Klang der Glocken, sei es die angeschlagene oder geläutete Glocke, später gar das Glockenspiel, stumpfen wir nicht ab. In Deutschland beschwert man sich über die wenigen Muezzine, die vernehmbar sind, während man das Läuten der Glocke als selbstverständlich ansieht. Schafer weist aber gleichsam auf den besonderen Klang der Glocken hin. Das mahnende, machtvolle Geräusch, das über große Entfernungen moduliert, für manch einen gar transzendiert. Es gibt diese Szene bei Karl Mays patheti313 Schafer (1994), S. 55 134 schem Epos über Winnetou und Old Shatterhand, in welcher diese beiden von Ferne das Läuten einer Glocke hören, mit dem Effekt, dass Winnetou innehält und eine christlich-religiöse Erfahrung hat. Schafer schreibt: “The church bell is a centripetal sound; it attracts and unifies community in a social sense, just as it draws man and God together. At times in the past it took on a centrifugal force as well, when it served to frighten away evil spirits.”314 Die Glocke ist folglich ein Geräusch, dessen historisch-geographische Bedeutung kaum zu unterschätzen ist. Dennoch ist festzustellen, dass durch den allgemeinen Lautstärke-Anstieg seit der Industrialisierung die Bedeutung der Glocke geringer geworden ist. Hat die westliche Welt damit ein den Raum und die Zeit ordnendes Signal verloren? Die Glocke ist ein verbindender Klang, ein auf die allgemeine Aufmerksamkeit bezogener zentripetaler Klang. Die Glocke ist Signal zum Sammeln. Die Glocke ruft alle zum Gottesdienst, zum Essen, zum Almabtrieb. Vielleicht erinnern wir uns noch an die Großmutter, die mit ihrer Glocke die Enkelkinder zum Weihnachtsbaum ruft. Mit folgendem „Gong“ möchte ich das Kapitel beschließen: „Zeitvergessen schreite ich von Station zu Station im Kölner Science Center Odysseum. Ich mache Halt hier und dort, probiere aus, bleibe vor Bildschirmen stehen und drücke auf rote Knöpfe. Ich bin im Bereich, der sich mit dem menschlichen Körper beschäftigt, und bin gespannt, was sich wohl hinter der nächsten Tür, in der nächsten Kabine, an der nächsten Konsole erleben lässt. Plötzlich ertönt ein Gong, gefolgt von einer weiblichen Stimme, die auf die Uhrzeit hinweist: ‚Wir schließen in einer halben Stunde.‘ In dem Moment des Gong-Tons ist mir die Bedeutung bewusst, der Hinweis der Sprecherin räumt jeden Zweifel aus. Ich beginne schneller zu gehen, lasse Stationen aus und schließlich nehme ich den Übersichtsplan zur Hand: Wo bin ich, wo ist der Ausgang und wie viele Stationen habe ich noch nicht gesehen? Meine Ruhe und Zeitvergessenheit ist vorbei, ich beginne mich in Richtung Ausgang zu orientieren.“ 314 Schafer (1994), S. 54 135 9 Das Gemeinschaftserlebnis Kodizes, Kulte, Kommunikation – Fußballstadien, Public Viewing und Studentenstreiks 9.1 Mimesis und Interaktionsdynamik Gemeinschaftserlebnisse in öffentlichen und halb-öffentlichen Räumen weisen A-priori-Strukturen als Hemmnisse und Förderungen von bestimmten Gruppendynamiken auf. Spiel-Räume, die Gemeinschaftserlebnisse fassen, sind oft durch eine audiovisuelle Homogenität geprägt, die auf den gemeinsamen Nenner der Gruppe zielt. Dabei bilden sich als A-priori-Strukturen Rituale und Kodizes heraus, die audiovisuell kommuniziert werden. Dies sind bestimmte Gesänge und Lieder, Sprechchöre, eine bestimmte Kleidung, Choreografien und Bewegungsmuster. Das homogene Auftreten für die Gruppe ist wichtig und wird im direkten Umfeld des Subjekts bei Abweichen oft genug durch andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen sanktioniert. Aufgrund dieser Beobachtungen möchte ich zunächst auf René Girards mimetische Theorie und die kommunikationstheoretische Erweiterung dieser durch Gerd Antos zurückgreifen.315 Girard geht davon aus, dass entscheidend für Gruppenbildung die Mimesis, die Nachahmung ist. Dabei ist das „mimetische Begehren“ Teil der menschlichen Psyche und ein soziales Phänomen, das erlernt wird. Dabei ist die Mimesis konstitutiv für Gemeinschaft, aber produziert ebenso auch Konflikte (z. B. Streit um ein Objekt). Diese Konflikte werden nach Girard durch die Ausgrenzung anderer und durch die Konstruktion von Feindbildern gelöst. Antos greift dies auf und stellt sich folgende Frage: „Wer einmal beobachtet hat, wie Stimmung in Pop-Konzerten entsteht oder wie sich z. B. Spielleidenschaft selbst-initiierend entfacht, nach 315 Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf: Antos, Gerd (2009): Kulte, Kommunikation, Konsens-Inszenierungen. S. 117–126. In: Habscheid, Stephan/Knobloch, Christoph (Hrsg.) (2009): Einigkeitsdiskurse – Zur Inszenierung von Konsens in organisationaler und öffentlicher Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage. 137 und nach alle Mitspieler erfasst und sich wechselseitig aufschaukelnd immer mehr steigert, der hat bereits eine Vorstellung von dem, was im Folgenden als ‚Nachahmungsnachahmung‘ erläutert werden soll. Es geht hier um die Frage nach der sozialen Dynamik der Mimesis: Wie ist zu verstehen, dass Fahnen, Pop-Songs oder Schlagworte usw. zum Kristallisationspunkt von dynamischen Konsens-Bildungen werden können?“ Im Folgenden skizziert Antos, dass Mimesis sichtbar – an dieser Stelle dockt mein phänomenologisches Verständnis an und ersetzt den Begriff durch ‚erlebbar‘ und damit auch ‚hörbar‘ – werden muss, sodass andere Gruppenteilnehmer wahrnehmen bzw. sinnlich erleben können, dass einem Verhalten (bleiben wir im Folgenden beim Gesang eines Liedes) ein Wert beigemessen wird. Dieses Verhalten wird dann wiederum imitiert, was Antos als „Nachahmungsnachahmung“ bezeichnet. Durch diesen Prozess gewinnt der Gesang an sozialer Relevanz. Dabei stützt sich Antos stark auf den Begriff der Kommunikation, den ich im Rahmen der Arbeit auf leibliche Kommunikation erweitern möchte. Eine dadurch bedingte räumliche Beteiligung als Interaktion leitet durch (Be-)deutung und Wertbeimessung zur mimetischen Anschlussinteraktion. Wichtig ist dabei, dass diese Anschlussinteraktion wiederum sozial beobachtbar bzw. „hör-erlebbar“ gestaltet und inszeniert wird. Atmosphären eignen sich diesbezüglich besonders hinsichtlich einer ‚mimetischen Flüssigkeit‘ der (leiblichen) Kommunikationen. Antos weist dann daraufhin, dass es zu einer Ritualisierung der Nachahmungsnachahmung durch den Vollzug von Kulten kommen kann. Dabei sind Kulte die „inszenatorische Vergegenwärtigung einer ursprünglichen Nachahmungsnachahmung“.316 Durch diese rituelle Vergegenwärtigung wird ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Ein abschließendes Zitat zu dieser kurzen Rahmung von Antos: „Die Erzeugung von Kulten muss immer wieder rituell ‚nachgespielt‘ werden. Der Ritus ist also immer auch eine Erinnerung an die ursprüngliche Initiation des Kults.“317 316 Antos (2009), S. 124 317 Antos (2009), S. 124 138 9.2 Zuhören und Zugehören: Mimesis im Fußballerlebnisraum Wie nun lässt sich dieses Modell der wechselseitigen Dynamik von Interaktion und Anschlussinteraktion auf Klänge in Spiel-Räumen übertragen? Dabei möchte ich zunächst im Anschluss an die bemerkenswerte Studie von Reinhard Kopiez und Guido Brink „Fußball-Fangesänge – Eine FANonmenologie“318 eine kurze Einführung zu Fangesängen bei Sportveranstaltungen319 geben. Fangesänge entstehen zumeist spontan, obschon sie bei größeren Fangruppen von einem Vorsänger, einem sogenannten Capo oder ChantLeader320, eingeleitet werden. Fangesänge haben unterschiedliche Zwecke: Zum einen sind sie Ausdruck der Befindlichkeit von Fans, sie sind Einflussnahme auf das Spielgeschehen (durch zum Beispiel ritualisierte Beleidigung der gegnerischen Mannschaft oder Ablenkungsversuche des gegnerischen Torwarts bei Elfmetern321) und sie sind Selbstinszenierung. Dabei erfüllen sie eine wesentliche Ventil-Funktion und sind Mittel zum Ausdruck einer Zusammengehörigkeit. Dieses Wir-Gefühl entsteht durch (in Verbindung mit visuellen Aspekten der Kleidung, Fahnen etc.) den jedem möglichen Mitaufbau einer Klangkulisse mittels simpler Lieder, deren Melodien Volks- und Popliedern entlehnt sind. Durch den Gesang dieser Lieder – in Begleitung von rhythmischem Klatschen, Schlaginstrumenten etc.322 – verdichtet sich eine Atmosphäre als räumlich ergossenes Gefühl323, die der Fan unmittelbar 318 Kopiez, Reinhard/Brink, Guido (1999): Fußball-Fangesänge – Eine FANomenologie. Würzburg: Königshausen & Neumann. 319 Dabei sind vornehmlich Sportveranstaltungen gemeint, bei denen mehr als zwei Parteien beteiligt sind. 320 Es ist interessant in diesem Zusammenhang eine Verbindung zwischen den Chant-Leaders und der Rezitation in der kirchlichen Liturgie zu sehen. Kopiez und Brink (1999, S. 13) weisen daraufhin, dass bereits seit 400 n. Chr. die Singart „cantus responsorius“ bekannt sei. Ein Psalmtext wird verlesen und die Gemeinde antwortet darauf. 321 Eine mögliche, lautstarke Einflussnahme auf das Spiel ist auch räumlich relevant. Die Platzwahl der Mannschaften bezieht sich auch auf die räumlichen Gegebenheiten. Eine auswärtige Mannschaft wird oft versuchen bei der Platzwahl eine Entscheidung zu treffen, die dem eigenen Torwart in der zweiten Halbzeit des Spiels mehr „Rückhalt“ gibt. 322 Angelehnt an Klaus-Jürgen Höfer entwickeln Kopiez und Brink (1999, S. 15) ein Kategoriensystem der Fanklänge: An unterster Stelle stehen Primärreaktionen wie Rufen, Pfeifen und Lärminstrumente. Darauf folgt rhythmisches Klatschen, weiter Kurzgesänge und schließlich Fan-Lieder. Diese hierarchische Pyramide spiegelt stark die Abhängigkeit subjektiver Beteiligung in gemeinschaftlich-organisatorischer Hinsicht. Der Erlebnischarakter in räumlicher Hinsicht bildet sich in diesem Kategoriensystem aber nicht wirklich ab, da zum Beispiel koordinierte Primärreaktionen ein ebenso intensives räumliches Erlebnis darstellen können wie spontane Kurzgesänge. Die Hierarchie eignet sich somit weniger zur Beschreibung dieser (Hör-)Erlebnisse im Raum. 323 Vgl. Schmitz (2009), S.23; Böhme (2013), S. 21ff. 139 erfahren kann und deren Erfahrung das Individuum übersteigt. Dazu ist zu bemerken, dass wir uns beim Singen vornehmlich selbst hören, bei erhöhter Lautstärke unsere Stimme aber im Gesang der Mitsingenden aufgeht. Das Wir-Gefühl in Massenchören ist eine unmittelbare Erfahrung. „‚Eeeerster ef-cee Köööln, erster Fußballclub Köööln‘ – frenetisch feiern die Fans des FC Köln ihre Spieler, die Fankulisse ist eine Klangkulisse. Der Gegner, heute Bayer 04 Leverkusen, in diesem Derby erhält nicht viele Sympathien von den Rängen. Strittige Szenen werden ausgepfiffen, es wird geschrieen und gerufen. Gelungene Szenen des Kölner Teams werden beklatscht. Die Trommeln geben den Rhythmus der Gesänge vor, einfache Melodien, die jeder mitsingen kann. Die Stimmung ist fantastisch, das Stadion fast ausverkauft. Dann schießt Leverkusen ein Tor, später noch eines. Die Gesänge werden leiser, die Pfiffe lauter; trotz der Tatsache, dass ich mich für Leverkusen freue, sinkt auch meine Stimmung mit der Gesamtstimmung.“ Die Entstehung von Fangeräuschen und -gesängen beinhaltet neben dem Atmosphärischen des Gesangs aber noch einen weiteren, räumlichen Aspekt. Dies basiert auf Antos Feststellung, dass Mimesis beobachtbar (bzw. hörbar), infolgedessen auch räumlich erlebbar sein muss und Ko-Präsenz, d. h. Beteiligung, erfordert. Wenn wir auf subjektiver Ebene durch (Be-)deuten von aus dem Rauschen herausgelösten Klängen den Raum strukturieren, so kann dies auf einer höheren Ebene auch für eine Gruppe gelten. Innerhalb des Stadions jedoch gibt es mikroräumliche Muster, die darauf hinweisen, dass der Klangraum und die spezifischen Felder der Bedeutung nicht räumlich homogen im Sinne eines Behälters sind. Die Musiksoziologen Kopiez und Brink machen dazu eine Andeutung, die ich zur Unterstützung heranziehen möchte: „[...] es scheint kein Zufall zu sein, daß die Entstehung von Fangesängen offenbar immer von den Stehplatz-Rängen ausging und immer noch ausgeht. (Hierin liegt eine letzte Voraussetzung begründet, die in der Antike nicht gegeben war: Die Zuschauer bei antiken Sport- und Kampfveranstaltungen waren zwar z. T. nach Ständen getrennt, aber sie hatten allesamt Sitzplätze).“324 324 Kopiez/Brink (1999), S. 46 140 Kopiez und Brink beziehen diese Voraussetzung325 auf die „unteren sozialen Schichten“, die gemeinhin Stehplätze haben.326 Es erscheint aber zweifelhaft, ob auf den Rängen tatsächlich nur die vermeintlich „unteren sozialen Schichten“ agieren und was genau dies meint. Vermutlich ist die Erklärung im Zusammenhang mit der räumlichen Anordnung zu finden: Stehplätze bieten schlichtweg bessere Voraussetzungen für mimetische Reaktionen und Beteiligung, da – im Sinne Canettis – die Berührungsfurcht aufgehoben ist.327 Neben der auditorischen Dimension könnte sich hier folglich eine phänomenologische Untersuchung der Rolle haptischer Wahrnehmung in sozialer Vergemeinschaftung als gewinnbringend erweisen. Gemeinhin wird in deutschen Stadien vor allen Dingen in den „Kurven“ gesungen, wobei mittlerweile generell gilt, dass in einem Teil der „Kurve“, meistens im „Eck“, die gegnerischen Fans platziert werden. Die „Geraden“ hingegen sind in modernen Stadien vor allem für Familien umgestaltet worden und bieten zumeist Sitzplätze. „Wir sitzen auf der Geraden, im letzten Drittel vor der Südkurve. Neben mir ein etwa 40jähriges Ehepaar, vor mir eine Frau mit zwei Teenagern, rechts mein Begleiter Christian. Direkt neben Christian eine Kamera und ein Kameramann. Ich verfolge das Spiel weitgehend stumm, konzentriere mich auf die Klangkulisse, mache Aufnahmen und ab und an Bemerkungen. Christian ist wesentlich aktiver, immer wieder kommentiert er das Spiel, klatscht und pfeift gelegentlich. Ab und an singt er ein-zwei Zeilen der FanLieder mit, bricht aber meist schnell wieder ab.“ Die „Kurven“ mit ihren Stehplätzen sind zumeist die Garanten für die Stimmung. Die Fankulisse ist gleich die Klangkulisse. Hier finden auch die visuellen Choreografien statt, auf den „Geraden“ beobachtet man fast nur und hört eher zu. Mitgesungen wird allenfalls, wenn wir durch die (Be-)deutung 325 Sie nennen als Voraussetzungen ferner die Masse an Menschen, die Möglichkeit der Identifikation, geeignete Spielverläufe (die Spannungskurve im Fußball erscheint dabei geeigneter als die „vielen Körben“ im Basketball zum Beispiel), Kenntnisse der Lieder, geeignete Struktur der Musik, sowie Akzeptanz des Liedguts. – Kopiez/Brink (1999), S. 40ff. 326 Alkemeyer kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, indem er die ostentativ zur Schau gestellte Vulgarität von Fangesängen als Provokation gegen bürgerliches Publikum deutet. Die provokaten Inszenierungen seien folglich Abgrenzungen von der legitimen Kultur und befördern das Wir-Gefühl. – Alkemeyer (et al.) (2008), S. 96f. 327 Canetti (2001), S. 13ff. 141 der Gesänge mit in eine räumliche Beteiligung gezogen werden. Das Verhalten meines Begleiters, der ab und an mitgesungen hat, dann aber oft mittendrin wieder abbrach und sich eher auf analytische Kommentare verlegte, zeigt, dass das Verhältnis zwischen Subjekt und Gruppe auf der „Geraden“ deutlich distanzierter ist als in der „Kurve“. Der eher ruhigere Klangraum um meinen Begleiter herum beteiligte ihn ebenso wie wechselweise auch die angrenzende „Kurve“ als Feld der Bedeutung. Seine Kommentare wiederum zeigen, dass ebenso sehr das Spielgeschehen an sich die Aufmerksamkeit bindet und interagiert. Spiel-Räume als Räume vielfältigen sozialen Geschehens bilden durch ihre diversifizierten Interaktionsstränge und -ansprachen Handlungsmischformen heraus. Dabei entscheidend sind Schwellenwerte der (Be-)deutung. Dem Entstehen vermeintlich spontaner Fangesänge gehen verschiedene Aspekte der (Be-)deutung voraus. Um als Subjekt in einen Fangesang einzustimmen muss eine räumliche Beteiligung möglich sein. „Obwohl es ein Heimspiel des Bonner SC ist, sind fast mehr Fans der Sportfreunde Siegen als Bonner mit dabei. Die Gruppe von etwa 200 bis 300 Fans verteilt sich auf einen abgegrenzten Bereich in großer Entfernung zu den Bonner Fans auf der anderen Seite der Tribüne. Die Stimmung ist gut, obwohl die Siegener zurückliegen. Ich bin mit zwei Freunden da. Ab und an werden Lieder gesungen, es wird getrommelt und gepfiffen. Es gibt keinen Vorsänger, immer fängt irgendwo jemand spontan an und wir stimmen ein oder auch nicht. Manche der Lieder kenne ich nicht, manchmal erscheint mir die Situation unangemessen, manchmal singen meine Begleiter nicht mit und ich breche wieder ab. Manchmal setzt sich die Kleingruppe, in der der Gesang angefangen hat, nicht durch oder wird überstimmt, manchmal stimmen die meisten schon nach zwei Wörtern ein.“ Es wird deutlich, dass insbesondere Sportveranstaltungen wie Fußballspiele mikroräumliche Beteiligungsmuster haben, die sich fortpflanzen bzw. anstecken müssen, um zu einer massiven Gruppendynamik zu werden. SpielRäume mit hoher Teilnehmerzahl sind für uns unübersichtlich aufgrund einer massiven Interaktionsansprache aus unterschiedlichen Richtungen. Die Räume werden in unterschiedliche Klangräume und damit Felder der Bedeutung strukturiert. Um Mimesis erlebbar zu machen, muss der Raum von 142 allen Beteiligten ähnlich strukturiert werden, sodass wiederum Nachahmung nachgeahmt werden kann. Fußballstadien sind konkrete programmatische Orte, an denen Gemeinschaft erlebt wird. Der sich aufspannende Raum im gemeinschaftlichen Lust-Erlebnis wird durch materielle A-priori-Strukturen geleitet und kanalisiert. Das bedeutet auch, dass Stadienbauten in ihrer konkreten materiellen Erscheinung prinzipiell für Gemeinschaftserlebnisse gestaltet sind. Das heißt, dass Mimesis möglich ist. Ich möchte dies mit meinem visuellen Beispiel verknüpfen: der La-OlaWelle. Da Stadionbauten zumeist ellipsenförmig sind, kann dies als a-prioriStruktur gewertet werden, die eine solche „spontane“ Choreografie ermöglicht. Ebenso sind Stadien akustisch so gestaltet, dass sich Schall optimal ausbreiten kann um so Mimesis und Anschlussinteraktion zu erzeugen. „Wir stehen in der Südkurve ‚Auf Schalke‘. Die Schalker in Blauweiß führen gegen Werder Bremen, die Stimmung ist prächtig. Unaufhörlich singen wir, der Chant-Leader motiviert immer wieder dazu. Plötzlich fordert er auf laut ‚Schaaaalke‘ zu rufen, die Nordkurve antwortet: ‚SO4‘. Ich höre die Schallwellen von der gegenüberliegenden Kurve auf mich zukommen. Es kribbelt am ganzen Körper, Teil dieser Stimmung zu sein, und das, obwohl ich kein Fan dieses Vereins bin.“ Durch geschickte Akustikplanung gelingt es in modernen Stadien A-prioriStrukturen zu schaffen, die Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen oder optimieren. Alkemeyer beschreibt einen Optimalzustand: „Kein Blick kann mehr nach draußen dringen; der Schall des Torjubels geht nicht ins Leere, sondern hallt mit großer Wucht im Innern wieder.“328 Das Verhalten anderer wird besser erlebbar, sodass eine wechselseitige Nachahmung möglich wird. Die Mitgestaltung sowie das unmittelbare Miterleben einer Atmosphäre in einem sozialen Spiel-Raum stellt die Frage nach dem Zusammenhang des Gemeinschaftserlebens von Stimmung und der Bedeutung der spezifischen Räumlichkeit eines Orts, an dem sich die Masse versammelt. Welche Rolle 328 Alkemeyer (et al.) (2008), S. 92 143 spielt folglich die räumliche Beschaffenheit für das Gemeinschaftserleben? Simmel zeigt einen Unterschied verschiedener Orte auf, den er vor allem an auditorischen Qualitäten festmacht: „Man vergleiche ein Museumspublikum mit einem Konzertpublikum; die Bestimmung eines Gehörseindrucks [sic!], sich einheitlich und gleichmäßig einer Menschenmenge mitzuteilen, – eine keineswegs nur äußerlich-quantitative, sondern mit seinem innersten Wesen tief verbundene Bestimmung – schließt soziologisch ein Konzertpublikum in eine unvergleichlich engere Einheit und Stimmungsgemeinsamkeit zusammen, als die Besucher eines Museums.“329 Wie lässt sich dies näher erklären? Möglicherweise verliert die physische Beschaffenheit des Raums unter der Prämisse einer großen Gemeinschaft, einer Masse, an Bedeutung, da die Gruppe selbst aufgrund ihrer auditorischen Homogenität – in Zusammenhang mit ihrer Visualität – Atmosphäre konstituiert. Anders gesagt: Die homogene Gruppe bringt ihre Atmosphäre im Sinne eines gestalterischen Potenzials mit. Verspohl argumentiert, dass Stadien Orte der „Regie und Selbsterfahrung“330 sind. Die Masse übernimmt die Regie und ergötzt sich an der Selbsterfahrung. Mit Böhme kann man hier auf die Inszenierungskunst des Bühnenbildnertums verweisen, denn „Inszenierung [ist] zu einem Grundzug unserer Gesellschaft geworden [...]: die Inszenierung [...] von Sportereignissen [... und] von uns selbst“.331 Allerdings bezieht sich Böhmes Betrachtung der Atmosphären oftmals auffällig auf Räume der Einsamkeit und weniger auf Räume sozialen Geschehens. Die Atmosphäre eines Stadions hingegen hat leer eine völlig andere Qualität als bei Vollbesetzung.332 Aus diesen Gründen halte ich es für sinnvoll den Begriff der Atmosphäre, wie er in ästhetischen 329 330 331 332 144 Simmel (1992), S. 731 Verspohl (1976) zit. in Alkemeyer (et al.) (2008), S. 91 Böhme (2013), S. 110 Verlassene Vergnügungsstätten haben in ihrer Erscheinung zumeist eine bedrohliche Qualität. In einem Kriminalroman der „Father Brown“-Serie von G. K. Chesterton findet sich folgende Beschreibung: „Von allen gottverlassenen Müllhaufen in der Natur sind wohl solche Orte am herzzerbrechendsten, die wie der Musikpavillon [...] festlich gedacht waren und nun verlassen sind. Ich kann mir vorstellen, wie einen morbiden Mann das Gefühl überkommt, er müsse seinen Rivalen in der Einsamkeit und Ironie einer solchen Szenerie morden. Ich erinnere mich, wie [...] sich über mir eine riesige schweigende Konstruktion emportürmte, Sitzreihe um Sitzreihe, so gewaltig wie ein römisches Amphitheater und so leer wie ein neuer Briefkasten. [...] ich hatte das Gefühl, daß dort niemals mehr jemand glücklich sein würde.“ – Chesterton, Gilbert Keith (1991): Father Brown‘s Weisheit. Zürch: Haffmans Verlag. S. 184. Theorien verwendet wird, in Bezug auf Spiel-Räume, in denen das Gemeinschaftserlebnis im Vordergrund steht, zu überdenken. Möglich wäre es stattdessen von Gruppen-Aura333 zu sprechen oder einen Atmosphären-Begriff zu entwerfen, der dezidiert für soziale Vergemeinschaftungen nutzbar ist. Das Beispiel der Public Viewing-Arenen oder -Plätze macht dies weiter deutlich. Public Viewing (PV) ist ein Phänomen, das vornehmlich durch Lockerung von Vermarktungs- und Übertragungsrechten während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland bekannt geworden ist. In diesem Zuge wurden in Städten Public Viewing-Arenen einrichten. PV-Arenen sind zumeist temporäre Spiel-Räume, die oft genug fließende Übergänge in abwiechende Räume aufweisen, sodass es zu spontanen Aneignungsprozessen kommt. Mit wachsendem Zuspruch wurden allerdings mehr A-priori-Strukturen geschaffen, wie zum Beispiel Zugangskontrollen, zeitliche Einschränkungen und Regeln für den Konsum. „Der ansonsten recht menschenleere Museumsplatz in Bonn ist heute ein einziges schwarz-rot-gelbes Fahnenmeer. Es herrscht ein aufgeregtes Stimmengewirr, vereinzelte Gruppen singen. Alle starren auf den riesigen Bildschirm über den Köpfen, eine Live-Übertragung des EM-Finales Deutschland gegen Spanien. Die Stimmung ist gespannt, die meisten schauen stumm auf die Bilder. Ab und an wird kommentiert, geseufzt, geflucht. An meinem BierBecher nippend schaue ich dennoch konzentriert ‚für mich alleine‘ das Spiel. Dann, es ist die 33. Minute, der spanische Stürmer Torres trifft zum 1:0 – ein schönes Tor. Ein breites Raunen geht durch die Menge, wie ein tiefer Seufzer. Vereinzelt hört man Kraftausdrücke. Der Kommentator im Fernsehen kommentiert mit sachlicher, ruhiger Stimme. Spanien mit immer weiteren Torchancen, die deutsche Mannschaft unter Druck. Schließlich der Schlusspfiff und eine Welle enttäuschter Rufe: Die erhoffte gemeinsame Freude blieb aus, die große Gruppe verliert sich in Einzelgruppen, die das trostlose Gelände inmitten der dicken, starren Mauern der Museen langsam verlassen.“ 333 „Aura“ ist griechisch (αύρα) und heißt soviel wie „Hauch“. Ein anderer Begriff könnte auch die Gruppensphäre sein. Erste Vorschläge dazu konnte ich bereits in einem religionsgeographischen Zusammenhang auf dem Geographentag in Passau 2013 sowie in Zusammenarbeit mit Friedlind Riedel im Historisch-Geographischen Kolloquium an der Universität Bonn im Oktober 2013 vorstellen. Eine Publikation ist in Vorbereitung. 145 Räume, die aufgrund einer Veranstaltung ihrer eigentlichen Funktion, städtebaulicher Einbindung oder Nutzungsform enthoben werden, gewinnen ihre Atmosphäre durch die Masse an Besuchern. Der triste Museumsplatz in Bonn wird während eines Public-Viewing-Ereignisses zum Ort der Hoffnung, Freude und Enttäuschung; die idyllisch-ruhigen Rheinauen werden aufgrund des Rheinkultur-Musikfestivals zu einem Massenspektakel der jugendlichen Freiheiten und Emotionen; ruhige Einkaufs- und Geschäftsviertel werden durch Demonstrationszüge zu den harten Pflastern von politischer Wut und Aggression. Atmosphären im Sinne von Gruppen-Auren sind also durchaus typisch für spiel-räumliche Programmatiken.334 Insbesondere Demonstrationen politischer Art wie Umzüge, Aufmärsche, Kundgebungen, Blockaden und Streiks zeigen, wie die Gruppen-Aura und somit das Raumerleben vom jeweiligen Wir-Gefühl bestimmt ist. Dies möchte ich im Folgenden an der Gegenüberstellung von Protestierenden und der Ordnungsgewalt, der Polizei, aufzeigen. 9.3 Gehorchen und (Über-)Hören: Ziviler Ungehorsam und Protestbewegungen Gehorsam leitet sich von Hören ab, es ist das Hören auf jemanden. Diese Hörigkeit gegenüber der Obrigkeit ist eine Pflicht, die Gesellschaftsordnungen innewohnt. Wenn allerdings die Bürger etwas ungehörig finden, dann wollen sie auch ihrem Unmut Gehör verschaffen, zum Beispiel durch Demonstrationen im öffentlichen Raum. Lautstark protestieren Bürger in Straßenumzügen und Kundgebungen gegen und für bestimmte Dinge und Sachverhalte. Dabei stellt sich die Frage, bei wem sie sich eigentlich Gehör verschaffen wollen. Demonstrationen im öffentlichen Raum werden meist von der Polizei, der Staatsgewalt, begleitet. In gewissen Fällen wird die Demonstration einer Gruppe auch von der Gegendemonstration einer anderen Gruppe begleitet. Zum Beispiel sind rechtsextreme Aufmärsche fast immer von Gegendemonstrationen begleitet. Für gewöhnlich ist die Polizei allerdings das „Gesicht“ des 334 Vgl. diesen bemerkenswerten Essay zu Klangsphären und Protesten im urbanen Raum aus Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie: Rodríguez Giralt, Israel/López Gómez, Daniel/ Garcia López, Noel (2009): Conviction and commotion. On Soundspheres, Technopolitics and Urban Spaces. S. 179–195. In: Farías, Ignacio/Bender, Thomas (Hrsg.) (2009): Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies. Abingdon, New York: Routledge. 146 Staates, gegen den in vielen Fällen demonstriert wird. Die Polizei ist somit einerseits übergeordneter Akteur, der die Einhaltung von Ordnung (und Apriori-Strukturen) gewährleistet. Auf der anderen Seite sind die Polizei, und damit vielmehr die Individuen, auch auf einer inhaltlichen Ebene beteiligt. Die laut kundgetane Botschaft des Protests wird von Passanten und Anwohnern gehört, vor allen Dingen aber von Polizisten. Das Kundwerden der Botschaft ausgewählter Sprecher geschieht entweder durch technische Amplifikation mit Megaphonen oder auch im Rahmen des Sozialampflikation „Human microphone“, indem Nahestehende die Botschaft des oder der Sprechenden laut wiederholen und sich die Botschaft somit räumlich ausbreiten kann. Die Polizei ist von ihrem Wesen und ihrer Aufgabe her dazu angehalten, sich nicht inhaltlich zu beteiligen und neutral zu bleiben. Das bedeutet zum einen die Provokation zu überhören, zum anderen für Gehorsam zu sorgen. Die demonstrierende Gruppe hingegen tut alles in ihrer Macht Stehende um sich Gehör zu verschaffen und eine ähnliche Zusammengehörigkeit, wie die Polizei sie aufzeigt, zu zeigen. Sie verhält sich (in freiheitlichen Demokratien geduldet) ungehorsam. Folgende Erfahrungen konnte ich im Zuge der Marburger Studentenproteste gegen die Einführung der Studiengebühren im Mai 2006 machen: „Wir reihen uns an der Kreuzung Erlenring/Weidenhäuser Straße in den Protestzug ein. Tröten, Pfeifen, Trommeln – die Klanggewalt des Zuges ist immens, die Innenstadt völlig lahmgelegt. Es fühlt sich an wie eine riesige Party, das Wetter ist gut, die Stimmung ausgelassen. Die Route des Zugs wird gelenkt durch menschliche Barrikaden des Polizeipersonals, hier und da gibt es vereinzelte Versuche durchzubrechen. Sprechchöre aufseiten der Demonstranten, das abwartende Schweigen der Polizisten, noch nicht einmal ihre Hunde bellen. Später die Besetzung der Bundesstraße 3 und wieder Sprechchöre: ‚Wir sind friedlich, was seid ihr?‘ und Gesänge auf der Straße, ab und an ein Gitarrenspieler und immer wieder Tröten und Pfeifen. Hektische Rufe der Polizisten diesmal, verzerrte Stimmen energischer Polizisten aus Funkgeräten, sich entfernende und dann wieder von anderer Seite näher kommende Sirenen, regelmäßige Aufrufe zur Räumung durch Megaphone, absagende Antworten darauf aus anderen Megaphonen.“ 147 Das klangliche Spektrum der Polizei ist dabei allerdings relativ gering. Klassische Trillerpfeifen, Megaphone und Sirenen sind die traditionellen Klänge der Polizei. Fast jede Demonstrationgruppe wartet aber mit ebensolchen Klängen auf. Lärmwaffen oder Schallkanonen, wie sie zum Beispiel gegen Piraten eingesetzt werden, sind in Deutschland zum Einsatz gegen Demonstranten nicht erlaubt.335 Vielen Demonstranten sind aber andere Geräusche bekannt, die die Macht der Polizei ausdrücken: das Sprühgeräusch von Wasserwerfern sowie Pfefferspray, das Bellen von Hunden, die Fahrzeugund Hubschraubergeräusche, das stumpfe Geräusch beim Abschuss von Gummigeschossen, Schreckschüsse. Hinzu kommt aber auch das zu den Demonstranten in Kontrast stehende Schweigen der Beamten, die Stille, die einkehrt, wenn Straßen geräumt werden. Die Klangkulisse der Demonstranten, bestehend aus Instrumenten, Megaphonen, Radios und Sprechchören, verliert im Laufe der Demonstration oftmals ihre thematischen Botschaften. Dies wird ersetzt durch direkte Ansprachen an die Polizei, durch Irritationen, Provokationen oder Kommentare. „Der Demonstrationszug der Studiengebührengegner in Marburg am heutigen Tage sieht sich mit einem massiven Polizeiaufgebot konfrontiert. Da die Polizei in den Tagen zuvor die Besetzung der Bundesstraße 3 nicht hatte verhindern können, sah sie die Chance die Demonstrierenden unter Kontrolle zu kriegen nur darin, das Aufgebot zu verstärken. Der Zug heute ist relativ entspannt, bis plötzlich ein Ruf die Runde macht und dann von der ganzen Gruppe der Protestierenden aufgegriffen wird: Autobahn, Autobahn, Autobahn! Die Polizei reagiert sofort, sie rennen, formieren sich, sind nervös und hektisch. Dabei hat irgendjemand nur einen Spaß machen wollen mit diesem Ruf. Die Gruppe feiert die plötzliche Hektik der Polizei, die eine erneute Besetzung der umgangssprachlich als ‚Autobahn‘ bezeichneten Bundesstraße fürchtet, frenetisch.“ In den USA bzw. auf Demonstrationen im internationalen Kontext werden direkte Polizeieingriffe wie Festnahmen oftmals von Sprechchören wie „the whole world is watching“ begleitet. Diese Sprechchöre sprechen auch darauf 335 Vgl. Koch, Moritz (2008): Aufrüstung auf den Weltmeeren: Mit Schallkanonen gegen Piraten. Süddeutsche Zeitung. URL: https://www.sueddeutsche.de/panorama/661/319533/text/ (Zugriff: 31. Juli 2010). 148 an, dass nicht nur seitens der Polizei (zur Identitätsfeststellung zum Beispiel), sondern vor allen Dingen seitens der Demonstranten die Aktionen und Eingriffe der Polizei gefilmt und über das Internet verbreitet werden. Bei den Demonstrationen nach der Wahl im Juni 2009 im Iran zum Beispiel bedienten sich die Protestierenden mobiler Technologien wie Mobiltelefone und Internet-Applikationen wie beispielsweise Twitter und youtube, um gegebene Strukturen zu unterlaufen und lokale Ereignisse global begreiflich zu machen. Das Wir-Gefühl der jeweiligen Gruppe, also der Protestierenden und im Kontrast dazu der Polizei, bestimmt den Klangraum und damit auch die GruppenAura. Das Raumerleben ist folglich von der Gruppenzugehörigkeit abhängig, einem auf die Gruppe bezogenen „Innen“ und „Außen“. Abschließend dazu das Erlebnis der Rektoratsbesetzung im Mai 2006 in Marburg durch Studenten: „Das Rektoratsgebäude ist besetzt. Es heißt, dort werde heute eine gute Party steigen. Einlass ins Gebäude unter Vorlage des Studentenausweises. Drinnen, das Gebäude kaum wiederzuerkennen. Die biedere Atmosphäre des Foyers ist in eine schwitznasse, dröhnende Partymeile verwandelt. Ethnopop aus großen Boxen, scheppernde Glasscheiben und gröhlende Studenten. In den ruhigeren, verwinkelten Fluren kleine Gruppen, die mit angeregten Stimmen diskutieren. Laptop-Parties, schnarchende Studenten in Schlafsäcken vor Glastüren. Die Besetzung ermöglicht ein buntes Programm verschiedener Interessen. Wir hier drinnen, die anderen dort draußen. Wir die Guten, die anderen die Bösen.“ 9.4 Eskalation, Efferveszenz und das Erlebnis „Raum“ Fußball-Fans und Demonstranten haben gemein, dass sie sich anstacheln lassen, seien es Teile der Gruppe wie im Fußball die sogenannten „Aggro Leaders“ (Gewaltanstifter), „Nutters“ („Irre“; Rolle der furchtlosen Narren), „Hooligans“ (gewaltbereite Fans) und „Rowdies“ (Gruppenmitglieder, die sich noch beweisen müssen).336 Dieses Sich-gegenseitig-Anstacheln oder das 336 Diese Typologie geht zurück auf Schmidt, Thomas (1983): „Weine nicht, wenn ein Törchen fällt...“. S. 98ff. In: Buchholz, Michael B. (et al.) (Hrsg.) (1983): Schreien: Anstöße zu 149 Gären vollzieht sich durch Fangesänge im Fußball sowie Sprechchöre bei politischen Demonstrationen. Ein Erklärungsansatz der kollektiven Steigerung – die nicht zwangsläufig zu eskalierender Gewalt führt, sondern ein generelles Phänomen von Gemeinschaftserlebnissen ist – findet sich bei Émile Durkheim in seinen Untersuchungen zu religiösen Ritualen, wenn er schreibt: „Es gibt Umstände, unter denen dieses stärkende und belebende Handeln der Gesellschaft besonders deutlich ist. Innerhalb einer Ansammlung, die eine gemeinsame Leidenschaft erregt, haben wir Gefühle und sind zu Akten fähig, deren wir unfähig sind, wenn wir auf unsere Kräfte allein angewiesen sind.“337 Dieses Phänomen der Efferveszenz (Gären, Schäumen, Brodeln) ist abhängig vom Hören sowie der Möglichkeit des Sich-Gehör-Verschaffens. Auch diesbezüglich findet sich bei Durkheim ein Zitat, das genau diesen Aspekt des „Einklangs“ beschreibt: „Damit dieser Verkehr auch zu einer Kommunion wird, d. h. zu einer Verschmelzung aller Einzelgefühle zu einem Gemeingefühl, müssen die Zeichen, die sie ausdrücken, selbst wieder in einem einzigen und alleinigen Zeichen verschmelzen. Beim Erscheinen dieser Verschmelzung fühlen die Individuen, daß sie im Einklang stehen und eine moralische Einheit bilden. Stoßen sie denselben Schrei aus, sprechen sie dasselbe Wort und machen sie dieselben Gesten in bezug auf denselben Gegenstand, dann sind sie und fühlen sie sich im Einklang.“338 Dieses Gemeingefühl nimmt folglich Bezug auf den vorgeschlagenen Begriff der Gruppen-Aura, die sich „fühlen“ lässt. Wenn das Gemeinschaftserlebnis von eben jener Gruppen-Aura getragen wird, welche Rolle spielt dann noch der Raum für das Erlebnis? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre, dem Raum stärker eine ordnende Funktion zuzuweisen, ihn als Aktionsraum zu denken. Knoblauch einer therapeutischen Kultur. München: Chr. Kaiser Verlag. Seine Typologie scheint sich stark an den englischen Fußball in den 1980er Jahren anzulehnen und muss nicht zwangsläufig heute noch in Deutschland eine Entsprechung finden. Wesentlich an dieser Stelle ist aber der Hinweis auf die verschiedenen Rollen und Motivationen der jeweiligen Gruppenmitglieder. 337 Durkheim, Émile (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 289 338 Durkheim (1981), S. 315 150 spricht in diesem Zusammenhang von „Raumverteilung“, obschon er das als Manifestation wechselseitiger Kommunikation der gemeinschaftlichen Efferveszenz versteht.339 Raum könnte folglich als eine Art Katalysator verstanden werden, der Dynamiken beschleunigen oder bremsen kann. Oder anders gesagt: Der Raum macht Gemeinschaftserlebnisse möglich oder schränkt sie ein bzw. verhindert sie. Dies rückt den Fokus wieder sehr stark auf A-priori-Strukturen, die Sicherheit (im Sinne des Englischen „safety“) und Ordnung gewährleisten sollen. Sie ermöglichen mitunter das Überleben im Erleben. Dabei gilt auch, dass Klänge als A-priori-Strukturen nicht zwangsläufig funktional sein müssen. Vertraute Klänge, Geräuschkulissen, an die wir bereits gewöhnt sind, die aber nicht zum Gemeinschaftserlebnis gehören, können ebenso intervenieren. „Die International Student Union der UCLA hatte zu einem LagerfeuerAbend geladen. So trifft man sich an der Dockweiler State Beach, an welcher Lagerfeuer erlaubt sind. Es ist im Prinzip eine gemütliche Runde mit Barbecue und Bier; zwanzig bis dreißig Leute genießen die untergehende Sonne, gute Musik und interessante Gespräche. Doch etwas stört die Gemütlichkeit, trübt die Stimmung und nimmt die Motivation den Abend hier lang werden zu lassen: Es ist der Lärm der ständig einfliegenden Flugzeuge. Der Dockweiler State Beach liegt zwischen Pazifik und dem Los Angeles International Airport, sodass die Flugzeuge relativ tief über den Strand fliegen.“ An diesem Beispiel wird deutlich, wie eine vermeintliche Idylle (Klänge des Strandes, Lagerfeuer, entspannte Gesprächsatmosphäre, leichte Feierstimmung) durch eine andere Geräuschkulisse (einfliegende Flugzeuge) überlagert wird. Zwar sind diese das Gemeinschaftserlebnis überlagernden Geräusche keine A-priori-Strukturen im eigentlichen Sinn, dennoch erweist sich Raum als intervenierende Kategorie: Der Ort des Strandes ermöglicht kein vollständiges Lust-Erlebnis. Für Gemeinschaftserlebnisse spielt der Raum nur eine nachgeordnete Rolle. Die Atmosphäre eines Raumes wird völlig von der Gruppen-Aura übertrumpft, der Raum ist eine katalysierende Kategorie und verbessert oder ver339 Knoblauch (2000), S. 43 151 schlechtert das Erleben lediglich. Dies erklärt, wie es durch Gruppen – hier mag Canettis Phänomenologie der Masse hilfreich sein340 – zu räumlichen Aneignungsprozessen kommen kann. Folglich ist es irrelevant, wo gewisse Events, deren dynamisches Lust-Erlebnis durch Mimesis und Efferveszenz maßgeblich beeinflusst werden, stattfinden. Vielmehr zählt dabei, wie viele Teilnehmer das Event hat und in welcher Weise der Raum das Erlebnis katalysiert. Die Katalysatorfunktionen, die der Raum aufweist, sind unterschiedlicher Natur. Für das Hören sind Überlegungen zur Akustik, zu Standorten von Beschallungsanlagen für Musik, zur Dichte von Signaltönen, zur akustischen Trennung eines Innen und Außen etc. Ansatzpunkte für Planung und Forschung von Orten für Gemeinschaftserlebnisse. Ein Musikfestival mit unbegrenzter Aufnahmefähigkeit an Besuchern, aber mit strengen Auflagen bezüglich der Lautstärke sollte sich Gedanken über eine Besucherzahlbegrenzung machen, obwohl der Platz es rechtfertigen würde. Die Zuhörer in den hinteren Reihen würden zweifelsohne nach vorne drängen, da sie das Gefühl haben zu wenig zu hören.341 Eine PV-Arena muss keine Altstadtkulisse haben, sondern im Rahmen eines angemessenen Crowd Management342 vor allem ein adäquates Platzangebot und eine gute infrastrukturelle Anbindung. Die räumliche Trennung und Gruppierung von gewaltbereiten Fußballfans kann mimetische Effekte und Efferveszenz nachhaltig abkühlen. In Abschlusskapitel über Anwendungsbezüge werde ich dies weiter darstellen. 340 Vgl. Runkel/Pohl (2012) 341 Es ist ferner festzustellen, dass vor allen Dingen jüngere Zuhörer – insbesondere bei OpenAir-Festivals – mit wenig Festival-Erfahrung ihre Hörwahrnehmung bei Konzerten mit ihrer heimischen Musikanlage bzw. Kopfhörern vergleichen. Ambrose (2001, S. 154) schreibt über das Roskilde-Festival 1999: “Some people say that the cause of the intense surges and crushes was the bad quality of the sound coming from the delay towers designed to give a decent sound to those at the back of the crowd. According to this theory people moved forward to hear better. Another witness says that even up front the sound was ‘all treble and too quiet. It sounded so wrong’. But complaints about poor sound quality are part and parcel of the middle-of-the-road rock gigs. You don‘t hear punk rockers complaining about the quality of the sound too often. Folk who attend gigs like Roskilde tend to be very occasional concert goers, content with the sound of their CDs on domestic rack systems in their suburban homes but unfamiliar with the rough and ready raw sound of live music blasting out at you in a field in the middle of nowhere.” 342 Runkel/Pohl (2012) 152 9.5 Exkurs: der Raum des Familiären Bei der Frage, wo wir Gemeinschaft erleben und in welchem Zusammenhang dies mit dem Raum steht, ergibt sich noch ein wesentliches Beispiel: der Raum des Familiären.343 Dieser Raum wird zumeist in Verbindung mit einem Haus als Heimstätte, in der gewohnt wird erfahren. Das Haus, das sich bei Bollnow idealisiert als Raum der Geborgenheit findet344, stellt auch eine wesentliche Funktion der Vergemeinschaftung dar. Im Wohnen ist Frieden, das Haus ist die Umfriedung. Es wird ein „Außen“ und ein „Innen“ voneinander getrennt. „Das ist der Bereich der Ruhe und des Friedens, in dem der Mensch seine ständig wache Aufmerksamkeit auf eine mögliche Bedrohung aufgeben kann, ein Raum, in dem der Mensch sich zurückziehen und sich entspannen kann. Diesen Frieden dem Menschen zu geben, das ist die oberste Aufgabe des Hauses. Und so sondert sich der Raum der Geborgenheit von dem Raum der Bedrohtheit.“345 In diesem Raum der Geborgenheit ist der Mensch nicht allein; er ist mit den Seinen, der Familie. Außen vor bleiben die anderen, die Fremden.346 Bei Bachelard finden sich die „glücklichen“ und „geliebten“ Räume, die gegen außen verteidigt werden müssen.347 Für Bachelard ist das Haus der Anfang aller Träumereien. Die klaren Erinnerungen verlieren sich in Träumen. Dabei weist Bachelard, in Rückgriff auf William Goyen, auch auf die Unwirklichkeit des Wirklichen hin: Das Haus, das zum Heim wird, wird in uns zu dem, wie es erscheint.348 343 Ausdrücklich seien hier Haus- und Wohngemeinschaften eingeschlossen, die sich nicht über verwandtschaftliche Beziehungen formiert haben. 344 Dabei soll hier aber weder übersehen noch unterschlagen werden, dass das Heim für viele eben nicht per Definition ein Ort der Ruhe und des Friedens (gewesen) ist, sondern vielmehr von Ablehnung, Schmerz und Gewalt durchzogen sein kann. Die Darstellung in diesem Exkurs bezieht sich folglich auf eine bestimmte Erfahrung des Heims zu Bedingungen, die einem Großteil der Weltbevölkerung nicht zur Verfügung stehen. Vgl. Hasse, Jürgen (2009): Unbedachtes Wohnen: Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft. Bielefeld: Transcript. Vgl. zudem zur Problematik des Begriffs „home“ aus feministischer Perspektive: Massey, Doreen (1994): Space, place, and gender. S. 157–173. Oxford: Blackwell. 345 Bollnow (2004), S. 130 346 Bollnow (2004), S. 131 347 Bachelard (2007), S. 29 348 Bachelard (2007), S. 76f. 153 Das Heim mag verortbar sein durch Ausgrenzung des Fremden.349 Der familiäre Raum als Ort sozialer Rituale ist mit dem Heim dialektisch verbunden. Die Kraft der Gemeinschaft besteht, wie wir bei Durkheim gesehen haben, in den Ritualen.350 Der familiäre Raum ist ritueller Handlungsraum und bildet typische Orte aus. Wenn wir uns an die Klänge des familiären Raumes erinnern, dann erinnern wir uns an die Räume sowie an die Rituale. Wir erinnern uns an das Klingen und Klirren des Abendbrots, an die Klänge mütterlicher und väterlicher Tätigkeiten in ihren jeweiligen Zimmern, wir erinnern uns an das Ticken der Standuhr nachts, wir erinnern uns an das Auspacken der Geschenke um den Weihnachtsbaum und an die Spieluhren, die jedes Jahr zu bestimmten Anlässen aufgezogen werden. Wenn wir uns an den familiären Raum erinnern, dann erinnern wir uns zwangsläufig an die familiäre Gemeinschaft. Der rituelle Lebensraum der Familie ist nicht ortsgebunden in seiner Wirklichkeit, sondern nur in seiner Unwirklichkeit, sprich in der Erinnerung. Die Erfahrung der Gemeinschaft, das Gemeinschaftserleben, weist dem Raum zumeist nur sekundär und a posteriori eine Bedeutung zu. Ähnlich einer Gruppen-Aura ist der familiäre Raum von einer Atmosphäre bestimmt. Dabei ist das Heim mehr als das Haus und die Familie als Hausgemeinschaft mehr als die Summe der einzelnen Mitglieder und Mitarbeiterinnen. 349 Hierbei ist aber dezidiert das Atmosphärische des Wohnens angesprochen, das heißt der sozialen und emotionalen Dimension des Heims. 350 Vgl. Audehm, Kathrin/Zirfas, Jörg (2001): Familie als ritueller Lebensraum. S. 37–116. In: Wulf, Christoph (et al.) (Hrsg.) (2001): Das Soziale als Ritual – Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen: Leske+Budrich. 154 10 Die Stille „Denn der Raum des Geistes, dort wo er seine Flügel öffnen kann, das ist die Stille.“ Antoine de Saint-Exupéry, Ein Lächeln ist das Wesentliche Es ist nicht still. Nicht hier, nicht an diesem Schreibtisch. Ich kenne keinen Ort, den ich aufsuchen kann, um dieses Kapitel in der Stille zu schreiben. Den Epilog, den Kontrapunkt. Ich schreibe nachts. Dann, wenn die Straßen der Stadt verstummen, dann, wenn alles schläft. Die Nachtruhe. Das ist nicht die Stille. Ich höre noch abbiegende Autos, das Grollen eines herannahenden Gewitters, das Rascheln des Strauchs vor meinem Fenster, verhallende Schritte irgendwo in meinem Viertel. Ute Guzzoni schreibt: „In der Nacht sind viele Geräusche, weil sie nicht vom Sehen gestützt, jedenfalls begleitet werden, auffälliger, selbstständiger wahrnehmbar. Zugleich gewinnen sie dadurch eine besondere räumliche Qualität.“351 Ich höre mich selber. Das Kratzen meines Stiftes auf dem Papier, meinen Herzschlag, ein leichtes Rauschen im Ohr. Ich höre meine Erinnerungen in mir fortklingen, den Nachhall all der Erlebnisse, die ich heute hatte. Was ist die Stille und vor allen Dingen, wo ist die Stille? Wie verhält sich nun die Stille – und an dieser Stelle lassen wir Ruhe noch synonym dazu stehen – zur Abwesenheit von Geräusch? In den Ruheräumen von Kurbädern und ihren Wellness-Bereichen hört man ein Flüstern der Gäste, vielleicht ein Brummen oder ein Summen einer Klimaanlage, einer Lampe, Betriebsgeräusche. Doch es ist ruhig, es ist wenig Bewegung. Geräusch verweist immer auf Bewegung352, Ruhe ist zurückgenommene Bewegung, Stille ist die Abwesenheit von Bewegung. Geräusche und Klänge sind der Erfahrung stets präsentisch.353 Verweist Stille im Umkehrschluss 351 Guzzoni (2010), S. 84 352 „[...] the auditory world is one of ‚flux‘ [...]“ – Ihde (2007), S. 57 353 Ihde (2007), S. 81 155 auf Geräusch? Ich bin unschlüssig, denn: Unterbricht Geräusch die Stille? Oder unterbricht die Stille Geräusch? Wie könnte Stille stille sein, gäbe es nicht das Geräusch? Absolute Stille kenne ich nicht. John Cages stellte bekanntlich fest: „Es gibt keine Stille die nicht mit Klang geladen ist.“354 Stille ist immer relativ gegeben; Ihde schreibt: “The enigma of silence is in how it is ‚given in absence’”355. Das akustische Vakuum der Tonstudios und Schallkammern ermöglicht nicht die Erfahrung absoluter Stille. Still ist es, wenn kein Leben da ist.356 Die Hörwahrnehmung ist an Bewegung, an Leben geknüpft. Wir nehmen im Hören keine Stillleben wahr, keine natura morta. Jemanden zum Schweigen zu bringen, ihn still zu machen, ist ihn mundtot machen. Ein Schweigegelübde ist ein Verzicht auf Reden. Eine Schweigeminute auf einer Massenveranstaltung ist ein Innehalten vor dem Sturm. Schweigeminuten lösen sich dadurch auf, dass die Menschen wieder Geräusche machen. Man „darf“ wieder husten, man raschelt mit der Kleidung, flüstert etwas zum Nachbarn. Ist uns das Schweigen unangenehm? Schweigen kann unterschiedliche Gestimmtheiten haben, der Raum kann leer und gleichzeitig erfüllt vom Schweigen sein.357 Ebenso wie das Schweigen hat die Stille viele Dimension. Niemand erlebt die Stille wie der andere. Zwar können wir Stille intersubjektiv erfahren, wir können uns darüber verständigen. Stille spielt eine Rolle in der psycholinguistischen Kommunikation und soziokulturellen Interaktion.358 Beschreibungen hingegen sind schwierig. Oftmals benutzen wir Adjektive oder Begriffe, um Stille zu umschreiben. Der Musikpädagoge Ernst Klaus Schneider spricht von „Wort-Cluster“, die Natur- und Raumerfahrungen ausdrücken wie 354 Cage (2012 [1961]), S. 48 355 Ihde (2007), S. 109 356 Hier lässt sich an Heidegger denken: „Ein ‚ist‘ ergibt sich, wo das Wort zerbricht.“ – Heidegger, Martin (1985 [1959]): Gesamtausgabe, I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Band 12: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. S. 204. 357 Guzzoni, Ute (1999): Nichts. Bilder und Beispiele. Düsseldorf: Parerga. S. 17f. 358 Bruneau, Thomas J. (1973): Communicative Silences: Forms and Functions. In: The Journal of Communication, 23, S. 17–46. 156 „Nacht“ oder „Äther“. Ebenso benennt er Haltungen wie das „Lauschen“ oder das „Sich-versenken“.359 Semantisch ist Stille mit ähnlichen Phänomenen verknüpft, zum Beispiel mit Ruhe. Jürgen Hasse beschreibt Ruhe als eine Befindlichkeit.360 Stille setzt für ihn Ruhe voraus, sie bilden eine dialektische Einheit. Ruhe ist nicht hörbar und dementsprechend für eine Betrachtung der Stille an sich weniger interessant. Allerdings können wir unter Berücksichtigung der Ruhe als Voraussetzung für Stille das Wesen der Orte, die Stille verheißen, in einem leiblichen Verständnis als ruhig beschreiben. Hasse zeigt auch auf, dass Stille eine Haltung sein kann sowie – in Rückgriff auf romantische Dichter – eine Eigenschaft der Natur. Schließlich umschreibt er die Stille – im Rückgriff auf Hermann Schmitz – auch als eine Atmosphäre.361 Ist die Stille unangenehm? In der Literatur wird die Stille oft als bedrohlich geschildert.362 Schafer berichtet von einer umfassenden Literaturanalyse wie folgt: “[...] I am struck by the negative way in which silence is described by modern writers. There are few felicitous descriptions. Here are some of the modifiers employed by the most recent generation of writers: solemn, oppressive, deathlike, numb, weird, awful, gloomy, brooding, eternal, painful, lonely, heavy, despairing, stark, suspenseful, aching, alarming. The silence evoked by these words is rarely positive. It is not the silence of contentment or fulfillment.”363 Haben wir Angst vor der Stille? Wovor fürchten wir uns? Warum fürchten wir die Stille? Oder fürchten wir uns vor dem Ausbleiben einer Interaktion, die die Stille beendet? In der Literatur findet man die furchterregenden, un- 359 Schneider, Ernst Klaus (2001): Stille-Erfahrung und Musik. S. 191. In: Ehrenforth, Karl Heinrich (Hrsg.) (2001): Musik – unsere Welt als andere. Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch. Würzburg: Königshausen & Neumann. 360 Hasse (2005), S. 335ff. 361 Hasse (2005), S. 62, S. 336f. 362 Das muss nicht immer so gewesen sein. Wenn Lärm das Gegenteil von Stille ist, dann bringt uns die Etymologie von Lärm auf eine interessante Spur: „Lärm“ entstammt dem Französischen „alarme“, das „zu den Waffen“ („à l‘arme“) bedeutet. Wenn Stille das Gegenteil von Lärm ist, dann müsste Stille „friedlich“ sein. – Lachmann, Frank (2009): Stille in positiver Funktion. Ein kurzes Plädoyer für einen anderen Umgang mit Nichtton. S. 295. In: Spehr, Georg (Hrsg.) (2009): Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen. Bielefeld: Transcript. 363 Schafer (1994), S. 146 157 heimlichen Geräusche, welche die Stille durchbrechen und sich in den Raum zeichnen.364 Wenn absolute Stille sich durch Nicht-Lebendigkeit definieren lässt, dann würden wir die Stille so sehr fürchten wie den Tod. Wenn Eremiten die Stille aufsuchen, dann ist dies die Kontemplation von Leben und Tod. Die relative Stille, die wir erfahren können, ist immer ein Zwischenraum der möglichen Kontemplation. Doch Stille ist nicht stets furchtsam, sondern kann ebenso von anderen starken Gefühlen als auch Leidenschaften getragen werden. Bruneau bringt dies auf den Punkt: “Silence is the language of all strong passions: love, anger, surprise, fear.”365 Stille als Gegensatz zu skizzieren, das war mein erster Gedanke, das Erlebnis der Stille als die Kontrasterfahrung zur hektischen und lärmenden Welt. Klöster wie die benediktinische Abtei Maria Laach bieten sich als Oasen der Stille an. Es sind Kurzurlaube der Besinnung. Der Film „Das große Schweigen“ von Philip Gröning über das Leben im Kartäuserkloster zeigt eindrucksvoll, wie ein Leben in Stille aussieht und wie es sich anhört. Der Kartäuserorden versteht sein Schweigen als Zeichen gegen und für die laute Welt. Im Schweigen entsteht ein Möglichkeitsraum für „Ungeahntes, Erhofftes oder gefürchtet Drohendes“366. Doch je mehr ich über die Stille nachdenke, in mich hineinhorche, desto klarer wird mir, dass das Erlebnis der Stille ein Phänomen ist, das sich nicht als Kontrast von den Klängen, denen ich nachgespürt bin, denken lässt. Die Stille schließt all das ein. Gäbe es die Klänge nicht, würden wir nicht die Stille kennen. Sie wäre uns nicht bedeutsam, sie würde uns noch nicht einmal fürchten lassen. Gäbe es die Stille nicht, würden wir uns in den Klängen des Lebens nicht zerstreuen. Die Stille ist machtvoll, sie diktiert die Klänge. Auf diesem phänomenologischen Pfad komme ich somit zur gleichen Erkenntnis wie Jürgen Hasse, wenn er schreibt: „Dem ‚Nichts‘ der Stille kommt eine ganz eigene Qualität zu, die nicht als defizitäre Qualität erlebt wird. Daß es sich bei Stille um etwas handelt, das selbst in der Gleichzeitigkeit hörbarer Geräusche noch ‚da‘ ist, kennzeichnet ihren ganz eigenen Charakter.“367 364 365 366 367 158 Guzzoni (2010), S. 87f. Bruneau (1973), S. 34 Guzzoni (1999), S. 17 Hasse (2005), S. 62 Hasse betont, dass das „Nichts“ durch konturierende Geräusche betont wird. Das Zwitschern der Vögel im Wald betont die Stille des Waldes. Stille kann also nicht negativ definiert werden, sondern umfasst in ihrer Qualität die Klänge umso mehr. Hasse betont hierbei das Alleinstellungsmerkmal des Gehörsinns insofern, als „daß die Abwesenheit eines sinnlichen Stoffes sich gerade als dessen charakteristisches Merkmal auszeichnet“.368 Stille wird auch dadurch erlebbar, dass andere Geräusche doch gleichzeitig noch wahrzunehmen sind. Wo sind die Orte der Stille, welche Typen von Stille kennen wir? Die peinliche Stille an Orten sozialen Miteinanders führt uns die Absurdität unseres Selbst vor. Die Grabesstille berührt uns genauso wie die Schweigeminute. Stille bremst uns in einen Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft hinein. Stillstehen heißt so zu tun, als gäbe es keine Zeit. Stille als Heterochronie und der stille Raum als Heterotopie? Bruneau weiß von Orten der Stille zu berichten: Kirchen und Klöstern369, Friedhöfen370, Gerichtssälen, Schulen, Bibliotheken, Museen, Krankenhäusern, Beerdigungsinstituten, Kriegsdenkmälern, Gefängnissen, Psychiatrien.371 Hinzu kommen aber ‚natürliche‘ Orte wie Wüsten, Steppen und der Wald oder auch die Tiefen des Ozeans. Ebenso können es technische Orte sein wie der schalldichte Raum im Tonstudio oder auch Orte, an denen wir zur Ruhe kommen, wie Wellness-Einrichtungen oder „sleep tanks“ für großstädtische Kurzzeiterholungssuchende. Diese Orte zeichnen sich durch die Abwesenheit von Geräusch aus, sie sind stille Orte im Sinne von abwesender Bewegung. Im Kloster ist die Kontemplation eine regungslose Versunkenheit. In den Wüsten oder vor allem Grassteppen gibt es nur den Wind, der über die karge Flora weht, die ihm kaum Angriffsfläche bietet. Diese Orte der abwesenden Bewegung treffen auf die Stille-Erfahrung. Diese Erfahrung eröffnet einen Raum des Geistes, der uns beunRUHIGT. Die Gedanken sind laut, die Selbsterfahrung unausweichlich. Mit Klängen lenken wir uns ab, das Ausbleiben dieser macht uns unruhig. Stille bzw. ruhige Orte machen uns unser Selbst bewusst. Wir machen die Fremderfahrung unseres 368 Hasse (2005), S. 62 369 Zur Stille an „heiligen Orten“ vgl. Pocock, Douglas (1996): The Galilee Chapel in Durham Cathedral. In: Transactions of the Institute of British Geographers, 21(2), S. 379–386. 370 Hasse (2005), S. 334ff. 371 Bruneau (1973), S. 41 159 Selbst. In diesem Raum des Geistes schrumpfen wir in eine Unermesslichkeit hinein. Rüdiger Liedtke beschreibt eine Erfahrung im Tonstudio: „[...] allein, in absolute Ruhe getaucht, von schalltötenden Wänden gefangen, umkreist von allumfassender Stille. Ich spüre, wie der Raum kleiner und kleiner wird, wie in mir ein Unwohlsein hochsteigt, wie sich die Kehle zuschnürt, wie der Mund immer trockener wird. Gedanken schießen mir durch den Kopf: Hier eingeschlossen zu sein ist schlimmer als in der Sauna oder in einem Fahrstuhl, hier gefangen, wirst du wahnsinnig, nach wenigen Stunden schon. Ich werde nervös, spüre meine feuchten Handflächen. Ich halte die Stille nicht mehr aus. Ich will raus ...“372 Diese Erfahrung der Klaustrophobie ist leiblich spürbar. Die eindringliche Stille löst den Raum nahezu auf. Ohne Bewegung ist kein Raum. Das Bewusstsein der Endlichkeit trifft in der Stille auf die Unendlichkeit. Der Raum des Geistes implodiert. Stille-Erfahrungen zeigen uns, wie sehr wir in uns ruhen können. Sie diagnostiziert unsere Abhängigkeit von den Klängen und unsere Sehnsucht nach Überblendungen. Sie hält uns an und auf. Die Stille ermöglicht, dass wir zu uns kommen. Sie ist Resonanzraum für unsere lauten Gedanken. Die Stille stellt die Strukturen in Frage. Die Stille ist darüber erhaben. Wenn wir nicht auf die Stille hören lernen und wenn wir sie nicht akzeptieren, so verlieren wir alle Klänge. Wie klingt das Leben? – In der Stille findet sich eine Antwort. 372 Liedtke, Rüdiger (1996): Die Vertreibung der Stille. Wie uns das Leben unter der akustischen Glocke um unsere Sinne bringt. München: dtv/Bärenreiter. S. 17 160 11 Anwendungsbezüge 11.1 Klangliche Gestaltung und Planung von Spiel-Räumen Atmosphären wahrnehmen, gestalten und mit ihnen leben – der Philosoph Gernot Böhme entwirft in seinem Essay ein Konzept der ästhetischen Bildung und zeigt im Zuge dessen das Potential der Atmosphärenforschung auf.373 Gleichermaßen können seine Argumente auch für die klangliche Gestaltung und Planung genutzt werden. Wie können wir anhand der Erkenntnisse über die Klänge in den Spiel-Räumen diese gestalten? Die Räume des Alltags, die gewöhnlichen Räume, werden zunehmend von Spiel-Räumen ver- und bedrängt. Spiel-Räume basieren nicht auf Bedürfnissen, die erfüllt werden müssen, sondern auf Bedürfnissen, die erfüllt werden können. Böhme spricht hierbei von „Bedürfnisse[n] nach Ausstattung, Inszenierung, nach Verbrauch als solchem [...;] charakterisiert [...] als ästhetische Ökonomie“. 374 In diesem Kontext bilden die schmalen Grate zwischen Ansprache und Störung Grenzlinien in unseren Alltagserfahrungen, da wir permanent diese Schwellen überschreiten und Beanspruchung erfahren. Wir treten aus Business-Lounges in geschäftige Arbeitsatmosphären, steigen aus musikalischen Klangräumen in öffentlichen Verkehrsmitteln in die Geschäftigkeit urbaner Räume, kehren nach Konzerterlebnissen in die Stille unserer Betten zurück. Diese Wechsel sind strapaziös und sorgen für kurzzeitige Orientierungslosigkeiten. Wir müssen uns zurechtfinden, uns auf Strukturen stützen können und diese nicht ständig im Erlebnis neu schaffen. Wie kann aber nun eine konkrete Gestaltung von Spiel-Räumen geschehen bzw. ihre kaum aufzuhaltende Implementation in die Räume alltäglicher Erfahrung möglichst sachte gestaltet werden? Wie kann es gelingen Erleb- 373 Böhme, Gernot (2007): Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten, mit Atmosphären leben: Ein neues Konzept ästhetischer Bildung. S. 31–43. In: Goetz, Rainer/Graupner, Stefan (Hrsg.) (2007): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München: Kopaed. 374 Böhme (2007), S. 36 161 nisse um ihrer selbst willen genießen zu können und Reizüberflutung sowie Sättigung zu vermeiden? Es ist nicht meine Intention an dieser Stelle Kulturkritik zu üben. Vielmehr erscheint es mir wichtig das Potential von Spiel-Räumen als Orte der Kreativität und Wissensbildung herauszustellen. Dabei spielen Klänge und ihre imaginativ-assoziative Kraft eine wesentliche Rolle. Während die Akustikplanung sich mit der technischen Umsetzung für das optimale Hören beschäftigt, die Lärmschutzplanung sich mit der technischen Umsetzung für das störungsfreie Hören beschäftigt, möchte ich aus der Mitte heraus für eine räumliche Klangplanung plädieren, die sowohl Erleben als auch Handeln unter Berücksichtigung einer Freisetzung kreativen Potentials als Ziele aufnimmt. Dies lehnt sich an ein ähnliches Plädoyer zur Anerkennung der Planungsrelevanz von „sonic effects“ durch Augoyard und Torgue an.375 Eine räumliche Klangplanung könnte sich auf drei Themenfelder konzentrieren, die ich im Folgenden kurz umreißen möchte. Zum einen interessiert natürlich die konkrete Gestaltung und Inszenierung von Spiel-Räumen als Klangräumen. Die in den Geistes- bzw. Sozialwissenschaften und vornehmlich in der Geographie angesiedelte Atmosphärenforschung ist dafür ein wesentlicher Ausgangspunkt. Die theoretische Beschäftigung mit Atmosphären innerhalb der Sozialwissenschaften könnte dann gewinnbringende Anwendungsbezüge aufzeigen, wenn konkrete Atmosphären zum Forschungsgegenstand werden.376 Klänge als Teilaspekte der sinnlichen Wahrnehmung von Atmosphären sind dabei nicht unkontrollierbare Phänomene, sondern wesentliches Gestaltungsmittel. Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Architekten, Geographen oder Soziologen377 kann dabei als Chance 375 Augoyard/Torgue (2005), S. 11ff. 376 Einen verhaltenswissenschaftlichen Versuch sich dem Thema „Stadionatmosphäre“ zu nähern hat Uhrich unternommen. Absurderweise mündet die Diskussion phänomenologischer Atmosphären-Begriffe in eine positivistische Messung von Atmosphären: Uhrich, Sebastian (2008): Stadionatmosphäre als verhaltenswissenschaftliches Konstrukt im Sportmarketing. Entwicklung und Validierung eines Messmodells. Wiesbaden: Gabler. 377 Diese Liste ließe sich leicht beliebig erweitern. Von besonderem Interesse erscheinen zudem die Musikwissenschaften: vgl. Herzfeld, Gregor (2013): Poe in der Musik. Eine versatile Allianz. Internationale Hochschulschriften, 590. Münster: Waxmann. In Bezug auf die Verbindung von Musik und Sozialgeographie Riedel, Friedlind/Runkel, Simon (2014, angekündigt): Understanding Churchscapes: Theology, Geography and Music of the Closed Brethren in Germany. In: Brunn, Stanley D. (Hrsg.): (2014, angekündigt) The Changing World Religion Map. Chapter 11: Culture. New York: Springer. 162 fungieren Spiel-Räume nutzerorientiert zu gestalten. Räumliche Klangplanung kann somit Bedürfnissen und Ansprüchen von Nutzern und Besuchern gerecht werden. Die in der Arbeit aufgezeigten Zusammenhänge von Klang und Raum münden damit in die Möglichkeit klanglicher Planung, wie sie seither lediglich durch die – zumeist kritisierte – „konsumsteigernde Manipulation“ durch Hintergrundmusik wie Muzak vorangetrieben wurde. Drohende Sättigungseffekte in Spiel-Räumen könnten durch eine phänomenologisch informierte Klangplanung vermieden werden. Wenn gemeinhin von einer Zunahme der Erlebnisintensität gesprochen wird, dann zeigt dies vor allem, dass es an Verständnis über Wirkungsweisen und Nutzeranforderungen mangelt. Eine Phänomenologie der Klänge im Raum muss nicht l‘art pour l‘art bleiben, sondern bietet konkrete Verständnishilfen für die Gestaltung und Inszenierung sowohl bereits bestehender als auch zukünftiger Spiel-Räume. Dabei gilt auch – wie Böhme korrekterweise bemerkt –, dass die Fähigkeit zur Wahrnehmung als auch zur Gestaltung von Atmosphären ebenfalls eine Befähigung ist „die Erzeugung von Atmosphären und die Manipulation, die dadurch geschieht, zu kritisieren“378. Die Atmosphärenforschung bietet folglich ein Potential zur Kritik bestehender Verhältnisse, in denen möglicherweise vermittels mikroräumlicher Affektmodulation missbräuchlicher Einfluss auf Menschen genommen werden kann. Zu Recht weist Böhme dabei auf mögliche „psychosomatische Verstimmungen“379 hin. Ein zweites sich daraus ergebendes Themenfeld ist die Bedeutung von Klängen für die Orientierung im Raum. Orientierung anhand von funktionalen Klängen ist ein wesentlicher Aspekt der Nutzeranforderung in Spiel-Räumen. Die bisherige Halbherzigkeit in der Planung funktionaler Klänge ist vor allen Dingen dem Mangel an Erkenntnis über die Bedeutung und Interpretation von Klängen durch Nutzer zuzuschreiben. Doch auch hier gibt es Ansätze aus den Bereichen der Klanggeschichte (z. B. die Rolle funktionaler Klänge in Religions- und Siedlungsgeschichte) und Design (z. B. Klänge und ihre Bedeutung für die Nutzung von Fahrzeugen). Eine Zusammenführung dieser Erkenntnisse auf Basis konkreter spiel-räumlicher Projektierung erscheint erfolgversprechend. Das in der vorliegenden Arbeit entwickelte Vokabular zum Verständnis des Verhältnisses von Klang und räumlichen Strukturen bietet sich als Grundlage an eine räumliche Klangplanung, die Aspekte der Orientierung und Wahrnehmung in Spiel-Räumen berücksichtigt, zu ermög378 Böhme (2007), S. 40 379 Böhme (2007), S. 39 163 lichen. Dies eröffnet Möglichkeiten für die Wegeplanung und für die Erfassung und Identifikation räumlicher Nutzungspotentiale. Ebenso kann auch eine funktional-klangliche Barrierefreiheit in den jeweiligen Spiel-Räumen gewährleistet und evaluiert werden. Das dritte Themenfeld beinhaltet Fragen der Sicherheitsplanung380, die eng mit der Orientierung verknüpft ist. Eine klangräumliche Planung kann zum Beispiel im Zuge von Crowd Management-Maßnahmen eine wesentliche Beziehungstechnik darstellen.381 Den Risiken, die bei großen MenschenAnsammlungen in erlebnisgesellschaftlichen Spiel-Räumen zu Tage treten, kann durch ein Verständnis über die Wirkung und Interpretation382 sowie dem bedarfsgerechten Einsatz von funktionalen Klängen begegnet werden. Auch hier gibt es in der Geschichte der Nutzung von Klängen zahlreiche Beispiele, welche den Erfolg klanglicher Sicherheitsmaßnahmen beweisen. Sirenen und Hörner sind zum Beispiel seit langem wichtige Klänge im Alltag. Die Erfindung von piependen Abstandsmessern beim Rückwärtsfahren in Autos minimiert das Risiko von Unfällen. Viele Klänge wurden aus der „Not“ heraus entworfen, wie die Geschichte des Bergbaus zeigt. Viele klangliche Erfindungen, die unseren Alltag maßgeblich beeinflussen, entstammen den Erfahrungen und Notwendigkeiten unter Tage. Akustische Maßnahmenplanung in Spiel-Räumen muss nicht zwangsläufig aus der Not heraus geboren werden. Klänge können aufgrund frühzeitiger Untersuchungen des Bedarfs präventiv und proaktiv entworfen werden. Das Beispiel der Brachialität auf Rockkonzerten, die tödliche Folgen haben kann, zeigt, dass in jüngster Vergangenheit die Sicherheitsplanung für solche Veranstaltungen immer wieder versagt hat.383 Aus TV-Serien, Spielfilmen und der Literatur ist das Beispiel des auf der Bühne sterbenden Schauspielers bekannt, da niemand unterscheiden kann, ob es gespielt oder echt ist. Ähnlich sind die Verwicklungen auf Konzerten, wenn das Erlebnis so dicht ist, dass 380 Sicherheit hier verstanden als „safety“, d. h. als Schutz vor nicht-intendierten, betrieblichen, technischen oder anderweitig gesundheitlichen Gefahrenquellen. Dies ist abzugrenzen von „security“, d. h. der Versicherheitlichung und Abwehr von intendierten Gefahren, denen deviantes Verhalten störungswilliger Akteure zugrundeliegt. 381 Vgl. Runkel/Pohl (2012), S. 202 382 “[...] the scream of ‘Fire’, in a crowded theatre carries with it the experienced context, the sense of urgency heard in the sounding of the voice, and the alarm and imperative of the word.” – Ihde (2007), S. 200 383 Nach wie vor kommt es zu Schadensereignissen durch Crowd Surfing oder ähnliche Aktionen auf Konzerten, die sowohl den Ausführenden als auch Unbeteiligte betreffen. 164 der Zustand des Nachbarn entweder nicht erkannt wird oder ihm nicht geholfen werden kann. Ethnografische Kenntnisse über Szenen und Milieus könnten zum Beispiel Aufschluss geben über die Bedürfnisse, Absichten und das Verhalten von Besuchern bestimmter Spiel-Räume. Der Zusammenhang zwischen Klang und Raum darf dabei nicht „stiefmütterlich“ behandelt werden, wie die vorliegenden Betrachtungen zum Thema Musik im Raum klar zeigen. Der Effekt der Efferveszenz ist ebenso ein Beispiel zum Verständnis von Massendynamik. Klangliche Maßnahmen gehören dabei unmittelbar zum Instrumentarium der Prävention unerwünschter Dynamiken und Gewalt.384 Neben den drei skizzierten Themenfelder lassen sich sicherlich noch weitere Anwendungsbereiche, in denen Klänge eine wichtige Rolle in Spiel-Räumen übernehmen, identifizieren. Die Ausführungen sind nicht vollständig und ebenso können im Rahmen dieser Arbeit keine konkreten Handlungsempfehlungen formuliert werden. Doch es ist wichtig festzuhalten, dass eine Sensibilisierung des Ohres in der Gestaltung von Spiel-Räumen gewinnbringend und förderlich ist. Eine räumliche Klangplanung sollte zu einem wesentlichen Teilbereich jeglicher Bedarfsanalysen für die Gestaltung von Spiel-Räumen werden. 11.2 Klänge als Gegenstand der Raumforschung In der jüngsten Vergangenheit verlegte sich die Raumforschung sehr stark auf die visuellen Aspekte der Konstruktion von Erlebnisräumen. Eine Auseinandersetzung mit auditorischem „Theming“ von Erlebnisräumen durch klangliche Eventisierung oder räumliches Audio Branding findet sich kaum. Dabei ist die Beschäftigung mit Raum und Sinneswahrnehmung insbesondere aufgrund der Atmosphärenforschung wieder stärker in den Fokus gerückt worden. Nach wie vor überwiegt jedoch der Blick (!) auf die aus Bildern konstruierten Orte. Die Beschäftigung mit Klang eröffnet verschiedene Probleme, die eine intensive Auseinandersetzung damit bisher verhindert bzw. zumindest erschwert haben. Die Gefahr klangräumlicher bzw. klangökologischer Forschung besteht darin, dass sich bisher oft genug auf das eklektische Sammeln bloßer Umweltinformationen verlegt wurde. Die Rezeptionsforschung von Klängen krankte an dem grundlegenden Mangel sowohl theoretischer als auch metho- 384 Runkel/Pohl (2012) 165 discher Problemlösungsstrategien. Theoretisch bestand dieser Mangel insofern, als dass die Beschäftigung mit Klang durch divergierende Epistemologien und ihre spezifischen Menschenbilder erschwert wurde. Methodisch ergaben sich zum einen Probleme in den möglichen Ansätzen als auch in der Vermittelbarkeit von Klängen. Klangstudien sind somit innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen als auch buchstäblich geographisch an die Peripherie gedrängt, wie der französische Klang(raum)forscher Jean-Francois Augoyard einmal feststellte.385 In den letzten Jahren ist die Beschäftigung mit Klang aber in verschiedenen Disziplinen außerhalb der Musikwissenschaft angestiegen. Dies zeigt sich vor allem in zahlreichen Veröffentlichungen und der Entstehung neuer Studiengänge wie dwn interdisziplinären „Sound Studies“ an der Universität der Künste in Berlin. In der Einleitung wurden zudem bereits weitere Autoren genannt, die sich auch innerhalb der deutschsprachigen Geographie mit Klangforschung als auch Atmosphärenforschung befassen. 11.3 Die Phänomenologie innerhalb einer konstruktivistischen Geographie Die Phänomenologie könnte für diese Zwecke ein erster wichtiger Schritt sein, um die klanglichen Geographien zu „kartieren“ („Kartophonie“), zu deuten und aus ihren Kontexten hervorzuheben. In der deutschen Geographie fristet die Phänomenologie ein Schattendasein, wenn man von Ausnahmen wie Jürgen Hasse absieht. Der konstruktivistischen Sozialgeographie ist mit Thomas Luckmann entgegen zu halten, „dass es die Sozialwissenschaften zwar mit einem im menschlichen Handeln geschaffenen Gegenstand zu tun haben, welcher der Wissenschaft vorgegeben ist, dass jedoch menschliches Handeln aus Nichts nichts schafft.“386 Dies führt nach Luckmann zu zwei Betrachtungsweisen: zu einer erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung der Menschenwelt und ihres historisches Zustandekommens sowie der Suche 385 Hinweis erfolgte dankenswerterweise durch Justin Winkler in einem Telefongespräch am 08. August 2009. J.-F. Augoyard, der Begründer des Instituts CRESSON (Center for Research on Sonic Space and the Urban Environment) in Grenoble, behauptete einmal, dass dies in Paris wohl kaum möglich gewesen wäre. 386 Luckmann, Thomas (2008): Konstitution, Konstruktion: Phänomenologie, Sozialwissenschaft. S. 33–40. In: Raab, Jürgen (et al.) (Hrsg.) (2008): Phänomenologie und Soziologie – Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 166 nach Bewusstseinsleistungen, die die universale Struktur der Lebenswelt hervorbringen. Dabei steht der Phänomenologie eine unmittelbare Evidenz zur Verfügung: das eigene Bewusstsein. Nach Luckmann kann eine Sozialwissenschaft mit ihren objektiven Eigenschaften historischer sozialer Wirklichkeiten nur auf den Strukturen der subjektiven Orientierung in der Welt beruhen und durch die phänomenologische Reduktion Aussagen über menschliches Handeln ermöglichen.387 Das Menschenbild der konstruktivistischen Geographie lässt jedoch bisher keinen Raum für die Erweiterung eines „Akteur-Denkens“ durch einen „leiblich-sinnlich spürenden, vitalen Menschen“.388 Die nahezu triviale Abstraktion aller menschlichen Eigenschaften im handlungstheoretischen Modell des Menschen als Akteur forciert die Spaltung von Gefühl und Verstand. Wie Hasse aber aufzeigt, lässt sich Architektur zum Beispiel auf dem Hintergrund dieser Spaltung kaum verstehen. Der leiblich spürbare Raum verschwindet somit in einem „schwarzen Loch“ erkenntnistheoretischer Möglichkeit. Neben der materiellen, symbolischen und relationalen Eigenschaft von Räumen haben diese auch einen leiblichen Charakter. Wir erleben diese Räume! Die Beschäftigung mit Atmosphären betont folglich die Konkretisierung dieser Erlebbarkeit, wie sie schließlich auch für Klänge gilt. Die Gestaltung dieser Räume durch klangliche Planung wird durch das Erleben ermöglicht. Der sozialwissenschaftliche Diskurs wird weitgehend von einem Sensualismus dominiert, bei dem davon ausgegangen wird, dass „die sinnliche Wahrnehmung durch die bloßen Sinnesdaten“389 begründet werden kann. Sowohl unsere alltagsweltliche Erfahrung als auch die Ergebnisse phänomenologischer Untersuchungen zeigen aber deutlich, dass die „pathische Konstitution“ des Menschen nicht in Frage gestellt werden kann.390 387 Vgl. Dreher, Jochen (2008): Protosoziologie der Freundschaft. S. 295–306. In: Raab, Jürgen (et al.) (Hrsg.) (2008): Phänomenologie und Soziologie – Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 388 Hasse, Jürgen (2006): Der Mensch ist (k)ein Akteur – Zur Überwindung szientistischer Scheuklappen in der Konstruktion eines idealistischen Menschenbildes. In: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 10. Jg, Heft 2/2006, URL: https://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Wolke/deu/Themen/052/Hasse/ hasse.htm (Zugriff: 31. Juli 2010). 389 Friedrich/Gleiter (2007), S. 25 390 Hasse (2006), o. P.; Meyer-Sickendiek, Burkhard (2011): Gefühlstiefen: Aktuelle Perspektiven einer vergessenen Dimension der Emotionsforschung. S. 26–48. In: Lehnert, Gertrud 167 Ich möchte in Jürgen Hasses Plädoyer für eine (erneute) Hinwendung zu Gefühlen einstimmen. Eine Beschäftigung mit Gefühlen und Emotionen findet sich bereits seit einiger Zeit in der angelsächsischen Geographie.391 Die Auseinandersetzung mit Gefühlen zeigt das dialektische Verhältnis „zum einen zwischen dem Bewussten und dem Nicht-Bewussten und zum anderen zwischen dem Geistig-Abstrakten und dem Sinnlichen-Konkreten“.392 Hasse schreibt dazu: „Die Isolierung sozialwissenschaftlicher Theorie vom gelebten Leben strebt zumindest implizit das Ziel an, der sich aus diesen dialektischen Verstrickungen ergebenden Offenheit durch theoretische Einengung des Möglichen aufs Vorhersehbare (vorhersehbar Gemachte) zuvorzukommen. Im Unterschied zum Leben der Menschen gilt wissenschaftstheoretisch allein jene Wirklichkeit als forschungsrelevant, die sich als Summe rekonstruierbarer Elemente einer gedachten Rasterstruktur menschlicher Handlung gleichsam addieren lässt.“393 Die Bedeutung des gelebten Raumes kann durch eine Auseinandersetzung mit Gefühlen wieder betont werden. Der Klanggeograph Justin Winkler macht dies sehr schön deutlich am Beispiel der „Ergriffenheit“.394 Er schreibt: „Mit einem Begriff wie dem der Ergriffenheit kann ich mir den Menschen nicht mehr als einer Wahrnehmungsmaschine vorstellen, als ein bewusstloser Behälter für Wahrnehmungsdaten, als ein Wesen, für das ich die Terminologie der Kanäle, Schnittstellen oder Gigabytes verwenden konnte. Dazu ist der ergriffen wahrnehmende Mensch zu sehr der leiblich konkrete Mensch.“ Ein gewinnbringender Schritt für die Geographie könnte sein, die Phänomenologie als inspirierende Ergänzung wieder in die Forschung mit hineinzu nehmen. Mit diesem Brückenschlag, der unterschiedliche Methoden berücksichtigt und würdigt, könnten sich interessante Aspekte in einer Art „Paral- 391 392 393 394 168 (Hrsg.) (2011): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld: Transcript Verlag. Davidson, Joyce/Bondi, Liz/Smith, Mick (Hrsg.) (2005): Emotional Geographies. Hampshire, Burlington: Ashgate. S. 1 Hasse (2006), o. P. Hasse (2006), o. P. Winkler, Justin (1997): Ergriffenheit. Ein Aspekt der Landschaftswahrnehmung. Habilitationsvorlesung an der Universität Basel am 6. Februar 1997. URL: https://www.iacsa.eu/ jw/winkler_klang-licht-zeit_10-09-18.pdf (Zugriff: 02. Juni 2014). lelaktion“395 ergeben. Erleichtert würde dies vor allen Dingen durch das komplementäre Wesen der Phänomenologie.396 Der Weg dahin scheint aber zunächst noch lang, da die „Unbeweglichkeit“ der Forschungsansätze und ihrer Menschenbilder innerhalb der deutschen Geographie die Akzeptanz erschwert. Eine „Verstärkung“ durch weitere phänomenologische Arbeiten ist längst überfällig. 395 Dreher (2008), S. 297 396 Graumann, Métraux (1977), S. 28 169 12 Literatur Allesch, Christian G. (2008): Resonanz als Sinnbild ästhetischer Erfahrung. Vortrag im Rahmen des Braunschweiger Ästhetik-Kolloquiums „Resonanz“, 22. Mai 2008. URL: https://www.uni-salzburg.at/fileadmin/ oracle_file_imports/1751270.pdf (letzter Zugriff 21. Februar 2014). Alkemeyer, Thomas (unter Mitarbeit von Roman Eichler und Jens WonkeStehle) (2008): Fußball als Figurationsgeschehen. Über performative Gemeinschaften in modernen Gesellschaften. S. 87–111. In: Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hrsg.) (2008): Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs. Bielefeld: Transcript. Ambrose, Joe (2001): The Violent World of Moshpit Culture. London: Omnibus Press. Antos, Gerd (2009): Kulte, Kommunikation, Konsens-Inszenierungen. S. 117–126. In: Habscheid, Stephan/Knobloch, Christoph (Hrsg.) 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Für die Unterstützung bei der Erstellung dieser Arbeit danke ich vor allem Cornelia Fischer und Marcel Haldenwang für wertvolle orthographische Korrekturen. Zudem waren Lilian und Jan-Bert Lengen damals wichtige Ideengeber. Kritik, Anmerkungen und Inspirationen verdanke ich zudem Friedlind Riedel. Ebenso sei an dieser Stelle auch Dr. Swen Zehetmair gedankt, der mir seit 2009 ein guter Freund und wichtiger Kollege und Mentor gewesen ist. Darüber hinaus möchte ich auch bei Dr. Rashad Chichakly bedanken, der die Reise nach Syrien meisterlich organisiert hat und sie so zu einer außergewöhnlichen Erinnerung hat werden lassen. Dr. Christian Happ danke ich für das bereitwillige Überlassen seines zweiten Dauerkarten-Platzes im Müngersdorfer Stadion. Ich danke zudem Bayer 04 Leverkusen für ein glorreiches 2:1 gegen den Lokalrivalen. Außerdem den großartigen Musikern Ulrich Schnauss, Refused und Arvo Pärt, deren Musik in der einen oder anderen Weise in die Arbeit eingeflossen ist. 189 Wahrnehmungsgeographische Studien Herausgeber: Jürgen Hasse, Rainer Danielzyk, Ingo Mose Bisher sind in der Schriftenreihe folgende Titel erschienen: Jürgen Hasse, Rainer Krüger: Raumentwicklung und Identitätsbildung in der nordwestdeutschen Küstenregion – wahrnehmungsgeographische Untersuchung zur räumlichen Umweltqualität und ihrer Verbesserung. (Vorstudie zu einem Forschungskonzept). 1984, 311 S. – ISBN 3-8142-0092-6 Gerald Wood: Die Wahrnehmung sozialer und bebauter Umwelt – dargestellt an städtebaulichen Problemen der Großstadt Essen. 1985. 184 S. ISBN 3-8142-0142-6 – € 12,00 Eva Chai, Rainer Krüger, Dietrich Hagen: Heimat im Matscher Tal – eine kulturgeographische Untersuchung zu Alltag und Identität in einem abgelegenen Hochtal Südtirols, 1986, 502 S. – ISBN 3-8142-0157-4 Rainer Krüger: Die Geographie auf der Reise in die Postmoderne? 1988. 106 S. ISBN 3-8142-0295-3 – € 3,60 Rainer Krüger, Annette Pieper, Benjamin Schäfer: Oldenburg – eine Alltagsliebe? Vorstellungen über die Stadt als Lebensraum. 1989. 191 S. – ISBN 3-8142-0318-6 Jürgen Aring, Rainer Danielzyk: Krisenregion Ruhrgebiet? 1989. 409 S. ISBN 3-8142-0319-4 – vergriffen Peter Sedlacek [Hrsg.]: Programm und Praxis qualitativer Sozialgeographie. 1989. 158 S. – ISBN 3-8142-0302-X – € 3,60 Rainer Danielzyk, Rainer Krüger: Ostfriesland – Regionalbewußtsein und Lebensformen. Ein Forschungskonzept und seine Begündung. 1990. 112 S. ISBN 3-8142-0351-8 – € 6,20 Ilse Helbrecht: Das Ende der Gestaltbarkeit? Zu Funktionswandel und Zukunftsperspektiven räumlicher Planung. 1991. 218 S. – ISBN 3-8142-0364-X – € 8,70 Ingo Mose [Hrsg.]: Sanfter Tourismus konkret : zu einem neuen Verhältnis von Fremdenverkehr, Umwelt und Region. 1992. 200 S. – ISBN 3-8142-0421-2 – € 12,30 Jürgen Hasse: Ästhetische Rationalität und Geographie. Sozialräumliche Prozesse jenseits kognitivistischer Menschenbilder. 1993. 118 S. – ISBN 3-8142-0431-X – € 7,70 Rainer Krüger [Hrsg.]: Der Unterweserraum. Strukturen und Entwicklungsperspektiven. 1995. 384 S. – ISBN 3-8142-0529-4 – € 16,40 Rainer Danielzyk, Rainer Krüger, Benjamin Schäfer: Ostfriesland – Leben in einer „besonderen Welt“. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Alltag, Kultur und Politik im regionalen Maßstab. 1995. 367 S. – ISBN 3-8142-0502-2 – € 12,30 Stephan Lanz: Demokratische Stadtplanung in der Postmoderne. 1996. 253 S. ISBN 3-8142-0542-1 – € 8,20 Jürgen Hasse: Mediale Räume. 1997. 207 S. – ISBN 3-8142-0549-9 – € 9,30 Rainer Danielzyk: Zur Neuorientierung der Regionalforschung: ein konzeptioneller Beitrag. 1998. 519 S. – ISBN 3-8142-0623-1 – € 17,40 Jürgen Hasse: Bildstörung. Windenergie und Landschaftsästhetik. 1999, 328 S. ISBN 3-8142-0684-3 – € 14,40 Thorsten Hülsmann: Geographien des Cyberspace. 2000. 118 S. ISBN 3-8142-0756-4 – € 7,70 Wolfgang Zierhofer: Gesellschaft. Transformation eines Problems. 2002. 299 S. ISBN 3-8142-0803-X – € 21,00 Jürgen Hasse: Menschenbilder in der Humangeographie. 2003. 179 S. ISBN 3-8142-0826-9 – € 14,80 Claudia Wucherpfennig: Bahnhof – (stadt)gesellschaftlicher Mikrokosmos im Wandel. Eine „neue kulturgeographische“ Analyse. 2006. 261 S. ISBN 3-8142-2009-3 – € 20,00 Werner Bischoff: Nicht-visuelle Dimensionen des Städtischen – olfaktorische Wahrnehmung in Frankfurt am Main, dargestellt an zwei Einzelstudien zum Frankfurter Westend und Ostend. 2007. 332 S. – ISBN 3-8142-2073-4 – € 18,80 Katharina Fleischmann: Botschaften mit Botschaften. Von Raumbildern und einer Neuen Länderkunde. 2008. 332 S. – ISBN 3-8142-2108-3 – € 13,80 Ingo Mose: Wahrnehmung und Akzeptanz von Großschutzgebieten. 2009. 215 S. ISBN 3-8142-2147-2 – € 11,80 Egbert Daum: Subjektive Kartographie. Beispiele und sozialräumliche Praxis. 2011. 170 S. – ISBN 3-8142-2247-9 – € 16,80