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Erik Simon

Die unbekannten Strugazkis

Arkadi Strugazki (1925–1991) • Boris Strugazki (*1933)

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Die Strugazkis haben ihre professionelle Laufbahn als SF-Autoren in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren begonnen – mit einem Roman (Das Land der Purpurwolken, in der deutschen Ausgabe in Atomvulkan Golkonda umbenannt; die Unart, gute Titel durch »SF-mäßige« zu ersetzen, grassierte nicht nur im Westen) und knapp zwei Dutzend Erzählungen, darunter zwei längeren (»Aus anderen Sphären« und »Der Weg zur Amalthea«). Während aber später Roman auf Roman folgte, blieben die beiden Erzählungsbände der Strugazkis – Sechs Streichhölzer und Der Weg zur Amalthea, beide 1960 erschienen, jahrzehntelang ihre einzigen, und im Vorwort zu einer 1968 erschienenen englischsprachigen Anthologie teilten die Strugazkis mit, »Von Wanderern und Reisenden« (1963) sei ihre bis auf weiteres letzte Erzählung, da sie sich nunmehr für Themen interessierten, die im Rahmen einer Kurzgeschichte nicht behandelt werden könnten. (Ich halte »Von Wanderern und Reisenden« nach wie vor für die beste von den frühen Erzählungen und habe es immer bedauert, dass die Autoren ausgerechnet damit aufgehört haben.) Ein Teil der frühen Erzählungen wurde übrigens von vornherein mit Blick auf eine Verwendung im Episodenroman Rückkehr (1962) geschrieben, andere wurden 1967 nachträglich in die erweiterte Fassung Mittag, 22. Jahrhundert einbezogen. Erst in den Achtzigerjahren haben die Strugazkis wieder ein paar kürzere Texte veröffentlicht, darunter aber nur einen, den man von Umfang und Form her eindeutig als SF-Erzählung einordnen kann, die von Arkadi allein niedergeschriebene, außerordentlich starke Geschichte »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984).

In den späten Achtzigerjahren setzte allerdings auch eine Entwicklung ein, deren Motor ganz offensichtlich das russisch-sowjetische Fandom war und die den Lesern weitere Strugazki-Erzählungen bescherte: die Öffnung der Archive. Zunächst betraf das nur einige wenige Texte, die die Strugazkis als Nebenwerke betrachteten, insbesondere »Unruhe«, die völlig abgeschlossene und sehr gut lesbare erste Fassung des Verwaltungs-Stranges in Die Schnecke am Hang, die den Roman in die »Welt des Mittags« integrierte, während ihn die inhaltlich und stilistisch völlig andere zweite Fassung davon ebenso eindeutig ausschließt. Motive aus der ersten Fassung haben die Strugazkis später (in anderem Kontext) in Die Wellen ersticken den Wind aufgegriffen, sodass »Unruhe« in zweifacher Hinsicht quasi »verbraucht« war.

Inzwischen sind in Russland drei verschiedene Werkausgaben der Strugazkis erschienen, jede vollständiger als die vorhergehende, und man beginnt – vorerst noch ganz vage und unverbindlich – Projekte für eine »akademische Werkausgabe« zu diskutieren, die wahrscheinlich auch die wichtigsten verschiedenen Fassungen wenn nicht komplett enthalten, so doch auf sie hinweisen soll. (Schon seit der zweiten Werkausgabe erscheinen nebeneinander Die Schnecke am Hang und »Unruhe« sowie die beiden stark divergierenden Hauptvarianten des Märchens von der Troika.) Den Herausgebern der dritten Werkausgabe (elf voluminöse Bände 2000–2001 und seither ein Ergänzungsband) ist es gelungen, mit Hinweis auf die angestrebte Vollständigkeit und auf das berechtigte Interesse auch an unfertigen Werken, die den Werdegang der Autoren erhellen, Boris Strugazki zur Freigabe weiterer Arbeiten zu bewegen, die die Strugazkis seinerzeit verworfen hatten. Die bei dieser jüngsten und wohl letzten Sichtung der Archive zum Vorschein gekommenen Texte haben in der Tat alle die eine oder andere Schwachstelle, allerdings Schwächen von ganz verschiedener Art. Da finden sich völlig komplette Erzählungen wie Arkadi Strugazkis älteste erhaltene SF-Texte »Wie Kang starb« [verfasst 1946] und »Das vierte Reich« [1952], denen man ihr Alter und die Entstehungszeit denn doch sehr deutlich anmerkt; Geschichten, die wie erste, abgelegte und nicht vervollkommnete Fassungen wirken und die es Boris Strugazkis Kommentar zufolge auch sind; frühe Fassungen oder Fragmente von Werken, die später völlig neu geschrieben wurden (ein verworfener Anfang zum Atomvulkan Golkonda, ein Vorläufer zum Weg zur Amalthea, ein nicht verwendetes Kapitel zu Praktikanten); und schließlich sind da Texte, die geschrieben zu haben manch ein anderer Autor froh wäre, die aber den Strugazkis einfach nicht originell und gehaltvoll genug waren, etwa Boris Strugazkis Erzählung »Die Rückkehr«, die nichts mit dem gleichnamigen Roman zu tun hat, sondern eine Übung in der Machart traditioneller Unheimlicher Phantastik ist.

Etwas mehr als eine gelungene Fingerübung, aber doch in erster Linie ein Stilexperiment ist »Sandfieber«: das erste abgeschlossene, von beiden Strugazkis gemeinsam verfasste Werk, vermutlich aus dem Jahre 1956 (Boris Strugazki macht dazu nur indirekte Angaben). Sie schrieben es aufs Geratewohl, indem sich beide ohne vorher abgesprochenen Plan beim Schreiben abwechselten. Der fragmentarische Charakter rührt wohl von den zahlreichen losen Enden und dem offenen Schluss der Geschichte, die sich hier von selbst ergeben haben; in späteren Romanen freilich haben die Strugazkis das ganz bewusst als Stilmittel eingesetzt. Die Stimmung erinnert – trotz des Raumschiffs – weniger an SF-Vorbilder als vielmehr an exotische Abenteuerliteratur. (Boris Strugazki nennt Jack London; mir fallen Kipling und Alexander Grin ein.) Es ist diese Atmosphäre, die den Text heute noch lesenswert macht.

Die Erwähnung eines »Landes der Purpurwolken« lässt erkennen, dass die Gedanken der Strugazkis damals schon um ihren ersten Roman kreisten; die Abenteurer finden sich später – nicht aus Binnen-, sondern aus Außensicht geschildert – in dem auf der Venus spielenden Kapitel zu Praktikanten wieder, das (aus eher himmelsmechanischen Gründen) ebenfalls verworfen wurde und in das »Bamberga«-Kapitel mündete. Die »Juden an den Sinaiwänden« hält Boris Strugazki heute für einen Irrtum der Autoren (»der eine kaum über dreißig, der andere kaum über zwanzig, beide Komsomolzen, Atheisten, hatten nie eine Bibel in der Hand«), aber der Desperado, der das sagt, braucht es wirklich nicht genauer zu wissen.

© 2004 by Erik Simon

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Siehe auch
[Story] »Sandfieber« von Arkadi & Boris Strugazki
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