Die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE
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Fünf vor acht
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Ideologisch flexibel

Wladimir Putin als Faschist zu bezeichnen, wirkt attraktiv, ist aber unscharf. Der russische Präsident mixt sich seinen Nationalismus je nach Lage und Zweck zusammen.

Eine Kolumne von Michael Thumann

Faschismus sei also, was in Russland vorgehe. "Gibt es etwas an Russland, das nicht faschistisch ist?", fragte der amerikanische Historiker Timothy Snyder jüngst in der FAZ. In der New York Times analysierte er, dass Putin einen "Kolonialkrieg in der Ukraine" führe wie die Nazis im Zweiten Weltkrieg. Und deshalb, sagt er, sei nun Deutschland ganz besonders gefordert, sich dem Faschismus entgegenzustellen.

Was Snyder da vorbringt, geht über die historische Analyse weit hinaus, das ist Politik. Entsprechend groß ist das Echo. Snyder gibt viele Interviews, auch DIE ZEIT hat mit ihm gesprochen. Er ist nicht der Einzige, der die Faschismus-Analogie herstellt. Sie wirkt attraktiv, denn auf den ersten Blick weckt die Mischung von Massakern in Butscha und dem Führerkult um Putin böse Erinnerungen an Nazideutschland. 

Trotzdem bin ich immer etwas zurückhaltend, wenn das Faschismus-Etikett ausgepackt wird. In meiner Studentenzeit setzten Linke den Kapitalismus mit dem Faschismus gleich. Der rechtskonservative Historiker Ernst Nolte verortete den "Faschismus in seiner Epoche" im 20. Jahrhundert, und nur dort. Heute schlachtet Putin den Begriff aus und behauptet, er kämpfe in der Ukraine gegen den Faschismus. Es ist die zentrale Begründung für seinen Krieg. Snyder dreht sie jetzt einfach um: "Selber Faschist!" Begreifen wir so die Bedrohung der Welt durch Putin besser?

Keine klare Ideologie des Putinismus

Snyder ist sich der Unschärfe seines Arguments bewusst. Deshalb will er nicht sagen, "Putin ist wie Hitler", und weitet die Definition von Faschismus auf alle möglichen Spielarten aus. Er dehnt den Begriff ins Beliebige, sodass er sich auch auf Putin anwenden lässt. Nur passen meine Moskauer Beobachtungen nicht dazu. Ein paar Beispiele:

Mir sind hier noch keine quasi staatlichen Milizen über den Weg gelaufen, die regelmäßig andersdenkende Bürger terrorisieren und Geschäfte kurz und klein schlagen. Es gibt Morde und Verfolgung, nicht selten auch durch tschetschenische Täter. Putin selbst hat viele Uniformierte unter Waffen, aber keine lässt sich mit Hitlers SA oder Mussolinis Fasci di Combattimento gleichsetzen.

Ich erkenne keine klare Ideologie des Putinismus, die wie bei Hitler in einem Buch nachzulesen wäre. Putins dürftige Geschichtsaufsätze sind ein ungeniert abgeschriebenes Sammelsurium von Halb- und Unwahrheiten. Putin ist ideologisch flexibel, er spielt mit Ideologien. Sein Oberflächen-Konservatismus ist ausgeliehen. Sein Nationalismus wabert zwischen russischem Ethnonationalismus, Solschenizyns slawischem Dreifaltigskeitsnationalismus und chauvinistischem Imperialismus, der Tschetschenen und Jakuten zu Brüdern erklärt. Putin ist ein "neuer Nationalist", der sich seinen Nationalismus je nach Lage und Opportunität zusammenmixt, wie ich in meinem Buch Der Neue Nationalismus. Wiedergeburt einer totgeglaubten Ideologie beschreibe.

Ich sehe auch nicht den naziartigen "Totenkult", den manche in Russland erkennen wollen. Natürlich schaue ich mir die militanten Propagandasendungen an, die in TV-Animationen Atombomben auf Washington und London fallen lassen. Ich weiß von den Wehrkunde-Stunden in der Schule. Auch höre ich Putin von den Opfern im Zweiten Weltkrieg und von Helden sprechen, die vor langer Zeit für Russland gefallen sind. Aber ein Totenkult? Die Gefallenen im Ukraine-Krieg werden nicht geehrt und gefeiert, sondern versteckt und vergraben.

Zwiespältiges Verhältnis zum Krieg

Anders als Mussolini oder Hitler hat Putin ein zwiespältiges Verhältnis zum Krieg. Er führt dauernd irgendwelche Feldzüge, aber er überhöht den Krieg nicht als das Ziel menschlichen Daseins überhaupt. Das aber ist eine Säule faschistischer Ideologie. Stattdessen verpackt Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine als "Operation". Er redet nur vom "Krieg", wenn es gegen den Westen geht, und dieser Krieg braucht derzeit keine Soldaten, sondern Propagandisten.

Tatsächlich aber tut Putin in Russland so, als gebe es gar keinen Krieg. Er gibt Milliarden Rubel dafür aus, den Russen ein möglichst normales Leben mit gut gefüllten Regalen, vollen Restaurants und Sommerkonzerten vorzuspielen. Natürlich ist diese Inszenierung von Zivilität durch und durch gelogen, während die russische Armee die Ukraine verwüstet. Aber Putin scheut bisher die Generalmobilisierung, weil er weiß: Seine Russen wollen gar nicht kämpfen und auch keine Helden in der Ukraine werden. Das überlassen sie gern den tschetschenischen und burjatischen Brüdern aus anderen Reichsteilen.

Vieles, was Snyder in Russland diagnostiziert, passt auf ein verwandtes System: die Gewaltherrschaft eines Mannes. Eine Diktatur, die ihre Lehrmeister nicht in der Geschichte Italiens oder Deutschlands findet, sondern viele Traditionen der totalitären Sowjetunion wiederbelebt. Selbstverständlich abzüglich westlicher Zutaten wie Sozialismus und Marxismus. Die Verbrechen in der Ukraine, die massenhaften Denunziationen von Russen durch Russen, die Nutzung von Straflagern und Deportationen als Mittel der Politik und die Zerschlagung der russischen Zivilgesellschaft zeigen, wo Putins Vorbilder sind. Die russische Geschichte bietet sehr viele Beispiele von Repression und Verbrechen. Putin hat die demokratischen Ansätze Russlands der Neunzigerjahre entsorgt und folgt dem historischen Pfad seiner ultraautoritären Vorgänger. Den Faschismus benutzt er nur – als Propaganda-Keule gegen seine Feinde.

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Wir sind Fünf vor acht

Fünf vor acht ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Petra Pinzler und Matthias Naß sowie Heike Buchter, Andrea Böhm, Lenz Jacobsen und Mark Schieritz.

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