Von Hitler »getäuscht«, »verführt« oder »überrumpelt«?
Das Ermächtigungsgesetz im deutschen Geschichtsbewusstsein – eine Bilanz im Jahr 60 der Freiheit
Die Weimarer Republik:
eine Demokratie ohne Demokraten; ein Parlament, das Hitler durchwinkte;
Parteien, unfähig zu demokratischem Denken, die sich für Hitlers
Ermächtigungsgesetz »gewinnen« ließen... Warum aber, so der Autor, der die
historischen Fakten durcharbeitet, gibt es sechzig Jahre später immer noch eine
Vielzahl von Historikern und Schulbuchautoren, die diese Vorgänge verzerren,
verniedlichen, mystifizieren oder schlicht: den Sachverhalt dieses Bankrotts
der Demokratie nicht darstellen?
Es war ja alles kaputt.« Mit
dieser Standardformel erinnert sich die Kriegsgeneration an das Ende und an den
Neuanfang zugleich, der unter dem Begriff »Stunde null« eine wirtschaftliche,
gesellschaftliche wie politische tabula rasa suggerierte, auf je eigene
Weise in Ost- und Westdeutschland, als sei eine Welt unter- und gleich daraus
eine neue hervorgegangen, die in beiden Teilen Deutschlands nicht zufällig mit
Anleihen an religiöses Vokabular zelebriert wurde: Auferstanden aus Ruinen ...
Wirtschaftswunder ... Der Blick auf den Untergang, wie er sich in letzter Zeit
nicht erst durch den gleichnamigen Film wieder aufdrängt, knüpft an den
Opfer-Diskurs der Schulddebatte nach 1945 an, als sich die Deutschen in erster
Linie als Opfer der Geschichte sahen: als erste Opfer Hitlers (vor anderen)
sowie im größeren historischen Rundumschlag als Opfer einer geschichtlichen
Tragik (vgl. Eberan, siehe Bibliografie), in der man freilich nur
nationalistische Geschichtsmythen von der besonderen geografischen Lage,
politischen Rolle oder historischen Entwicklung Deutschlands in Europa
umzuwerten und aus der Vorsehung ein Verhängnis zu machen brauchte, beides
vereint im Schicksalshaften, das man ebenso erleiden wie erdulden musste, wie
in Friedrich Meineckes »Frage nach den tieferen Ursachen der furchtbaren
Katastrophe, die über Deutschland hereingebrochen ist« (S. 9). So gesehen
könnte man fast sagen, dass man sich mit der Verhängnis-Idee zweimal
»befreite«: zuerst aus der Verantwortung zum Widerstand, dann von der
Rechtfertigung für diese Haltung. Die Nähe in der Distanzierung kommt auch in
der Dauerhaftigkeit von NS-Vokabeln wie »Machtergreifung« und »Kriegsausbruch«
zum Ausdruck, sogar in Erklärungen des Nationalsozialismus selbst, etwa er sei
Konsequenz von »Entartungserscheinungen deutscher Politik seit dem 19.
Jahrhundert« bei Karl-Dietrich Bracher (S. 48). Man erinnere sich, wie schwer
es Richard von Weizsäcker hatte, dem »Zusammenbruch« den Begriff der Befreiung
in der öffentlichen – genauer eigentlich: offiziellen – Debatte
entgegenzustellen. Wenn diesmal nun unmittelbar vor und nach dem 8. Mai in den
Medien sowie in kultusministeriellen Erlassen für die Schulen doch noch
verstärkt daran erinnert werden sollte, welches von Deutschen verursachte
Grauen damals zu Ende ging, so ist dies wohl der Rückkehr der Gespenster der
Vergangenheit in Gestalt der NPD zu verdanken, abgesehen von dem seit langem
geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin.
Nun sind wohl auch alle
»historischen Orte« des Nationalsozialismus verfilmt, nur die Kroll-Oper, also
das Ermächtigungsgesetz, nicht. Auch in der politisch-historischen Debatte befindet
es sich in einer Art Niemandsland zwischen »Machtergreifung« und »Gleichschaltung«,
die Historikerstreits haben es links liegen lassen. Sicher war das
Ermächtigungsgesetz nicht der historische Augenblick, an dem alles noch hätte
verhindert werden können, aber eine historische Entscheidung, durch die
vielleicht manches einen etwas anderen Weg hätte nehmen können, ein Scheideweg
jedenfalls für die damaligen Demokraten. Welche Demokraten, mag man da fragen.
Der Untergang der
Demokratie – wann und wie ...?
»Demokratie ohne Demokraten«
ist – mit oder ohne Fragezeichen – eine omnipräsente Charakterisierung der
Weimarer Republik und fast schon eine Variante der Kollektivschuldthese, die
den Untergang rückblickend als vorprogrammiert betrachtet. Klar, wer kennt
nicht die Karikatur, bei der jeder einen Buchstaben der R-E-P-U-B-L-I-K
hochhält? Als wäre die Weimarer Republik, also ihre Verfassung, besser gewesen
als ihre Repräsentanten, die Abgeordneten, die Parteien ... So wird in einem
Schulbuch Heinrich August Winkler über den Bruch der Großen Koalition unter
Kanzler Müller (SPD) zitiert: »Die parlamentarische Demokratie zerbrach fünf
Jahre später (= 1930) daran, dass sie das Gros der Machteliten gegen sich und
die demokratischen Parteien nicht mehr entschieden hinter sich hatte.« (Weimar
1918–1933, S. 609, vgl. Forum Geschichte 4, S. 61) Von einer anderen
Warte aus stellt Reinhard Kühnl gleichfalls fest, dass »1930 die politische
Transformation in die Diktatur begann« (S. 206). Doch das winklersche Ideal von
»parlamentarischer Demokratie« hat wenig mit der Realität der Weimarer
Verfassung zu tun, die ja gerade die Möglichkeit einer Regierung ohne
parlamentarische Mehrheit vorsah: Die Zentrumspartei unter Brüning griff genau
das auf, was die Verfassung ihr dafür anbot. Wieso soll also die Republik
demokratischer als ihre Repräsentanten gewesen sein? Außerdem »zerbrach« die
parlamentarische Demokratie in der Ära Brüning 1930–32 nicht, da die SPD seine
Minderheitenregierung tolerierte und damit eine Politik, die sie in einer
Regierungsbeteiligung nie ihren Wählern hätte verkaufen, eine andere aber nicht
hätte durchsetzen können. Vor allem jedoch wird in dieser Sichtweise das
entscheidende Fehlverhalten der Demokraten auf 1930 (Beginn der
Präsidialkabinette) fixiert, während das Ermächtigungsgesetz 1933 als fast bedeutungslos,
weil alternativlos erscheint: »Die seit dem Bruch der Großen Koalition 1930
vollzogene Selbstausschaltung des Reichstages sollte legitimiert werden«,
resümiert es Karl Dietrich Erdmann im Standardwerk der deutschen Historiker (S.
84), und so sehen es auch fast alle anderen Autoren gängiger Handbücher, wobei
sich dann für den Untergang im engeren Sinne eher die »Machtergreifung« Hitlers
(Ernennung zum Kanzler durch Hindenburg am 30.1.1933) als das entscheidende
Datum in den Vordergrund schiebt, übrigens entsprechend der Zäsur, wie sie die
Nazis selbst sahen.
Zwei konträre Positionen
markieren die Spannbreite der Analysen zur »Machtergreifung«: Gegen Sebastian
Haffners These »Hitler war kein Betriebsunfall« stellt Eberhard Jäckel die
Gegenthese vom »GAU der deutschen Geschichte« und sieht die Schuld im »menschlichen
Versagen« der monarchistischen Koalitionspartner Hitlers. Zur Reichstagswahl
vom 5. März betont Jäckel, dass es keine Mehrheit im Volke für Hitler gegeben
habe, aber das Versagen der demokratischen Abgeordneten ist für ihn kaum eine
Überlegung wert. Doch auch Sebastian Haffner, der umgekehrt mit großer Empathie
nachvollzieht, wie die Demokraten resignierten, weil sie das Volk nicht mehr hinter
sich hatten, entlässt die Abgeordneten auf seine Weise aus ihrer Verantwortung
und schafft beim Leser fast so etwas wie Verständnis dafür. So treffen sich die
beiden konträren Ansätze gleichwohl an einer gemeinsamen Schnittstelle.
Wie die Mehrheit für das
Ermächtigungsgesetz zustande kam, ist für einige Historiker dagegen gar kein
Problem: Laut Michael Stürmer dadurch, »dass die Mandate der
KPD-Reichstagsabgeordneten, die verhaftet oder untergetaucht waren, nicht
gezählt wurden« (S. 442 f.), Entsprechendes erfährt man zur Vorbereitung aufs
Abitur im Kompakt-Wissen Geschichte Abitur: »Zur Verabschiedung des
›Ermächtigungsgesetzes‹ mit 2/3-Mehrheit wurden abwesende Abgeordnete als nicht
stimmberechtigt gezählt. Die Regierung hatte damit Parlament und Weimarer
Verfassung ausgeschaltet.« (S. 78). Dann bräuchten wir ja nicht mehr darüber zu
diskutieren! In Wahrheit ging es natürlich nicht um die Absenz der verhafteten
oder untergetauchten Kommunisten, sondern um die Präsenz der Bürgerlichen und
deren Verhalten: Auch alle anwesenden Abgeordneten von KPD und SPD hätten
zusammen nicht mehr als 31 Prozent repräsentiert. So hatte das bürgerliche
Lager die Entscheidung in der Hand und es entschied sich geschlossen für
Hitler, selbst den minoritären Gegnern im Zentrum, der Bayerischen Volkspartei
und den kleinen liberalen Fraktionen war die Einhaltung der Fraktionsdisziplin
in diesem Falle wichtiger als die Stimme ihres damit wertlos gewordenen
Gewissens.
… und warum?
Zwischen den beiden
Extrempositionen wird gleichwohl nach Erklärungen für das Ermächtigungsgesetz
gesucht und dafür mag folgendes Schulbuchzitat stehen: »Mit einer Mischung aus
staatlicher Gewaltanwendung, Drohungen und Versprechungen gelang es ihm
(=Hitler, W. G.) am 23. März 1933, mit Zustimmung der bürgerlichen
Fraktionen, aber gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, das so genannte Gesetz zur
Behebung der Not von Volk und Reich (›Ermächtigungsgesetz‹) beschließen zu
lassen.« (Forum Geschichte 4, S. 74) In der einschlägigen Literatur
variiert allenfalls der Vokabelreichtum von Lockung bis Täuschung,
von Terror bis Zwang in der Benennung dieser beiden Faktoren,
denen noch ein dritter hinzugefügt wird, nämlich dass eine Ablehnung des
Ermächtigungsgesetzes Hitler auch nicht gehindert hätte, »sich die gewünschten
Vollmachten wenn nötig mit Gewalt zu nehmen« (Hofer, S. 46). So ging es im
Rückblick für die einen um gar keine freie Entscheidung mehr, für andere
eigentlich um gar keine Entscheidung ... Symptomatisch für das Dilemma
um die Frage, wie bedeutend das Ermächtigungsgesetz nun war, ist sicherlich
Martin Broszats Formulierungsakrobatik: »Unter diesen Umständen kam dem
Ergebnis der Abstimmung nicht mehr eine machtpolitisch entscheidende, sondern
nur noch eine formale, im Hinblick auf die von der NS-Führung erstrebte
Anerkennung der Legalität ihres Vorgehens aber doch sehr wesentliche Bedeutung
zu.« (Der Staat Hitlers, S.114, Hervorh. W. G.)
Die Erklärung des
Abstimmungsverhaltens der bürgerlichen Abgeordneten folgt jedoch weitgehend
deren eigenen Rechtfertigungen. So erscheinen die Argumente des
Zentrumsvorsitzenden, des Prälaten Kaas, als »durchaus einleuchtend, aber
gleichwohl verhängnisvoll« (Thamer, S. 43): nämlich »das Ermächtigungsgesetz
ändere nichts an der Herrschaft Hitlers«, »weite Teile der Basis der Partei
verlangten nach einem besseren Verhältnis zur NSDAP« und »man wolle nicht noch
einmal in die Rolle des Reichsfeindes geraten« wie zu Beginn des Kaiserreichs
nach 1871. Die Einfühlung in die damalige Lage geht so weit, dass den
Zentrumsabgeordneten eine ehrliche (Selbst-)Täuschung konzediert wird: Sie
»lieferten sich ... den nationalsozialistischen Forderungen aus, um wenig
später erkennen zu müssen, dass deren im Gegenzug abgegebene Versprechungen
nichts wert waren.« (Benz, S. 22, Hervorh. W. G.). – Dagegen ist zu
fragen: Warum erst später? Und warum waren die Argumente Kaas’ einleuchtend?
Dieselben Historiker, Thamer und Benz, analysieren zuvor sehr treffend, dass
Hitler selbst spätestens seit der Reichstagsbrandverordnung und vor allem durch
die Absetzung sämtlicher Landesregierungen noch vor dem 24. März
seine wirklichen Absichten offenbart hatte, nämlich keinerlei Rücksicht zu
nehmen, aber den legalen Schein wahren zu wollen.
Wie wir wissen, brachte
Hitler das Ermächtigungsgesetz erst ein, als er sich der Zweidrittelmehrheit
sicher war. Verhandlungen mit dem Zentrum waren schon nach dem 30. Januar
aufgenommen worden, anfangs allerdings ohne Ergebnis. Versprochen wurde dem
Zentrum nun, dass die katholische Kirche und ihre Einrichtungen unangetastet und
die dem Zentrum nahe stehenden Beamten im Amt blieben – und mehr noch, glaubt
man dem Rückspiegel 4, aber auch der Enzyklopädie des
Nationalsozialismus, versprach Hitler, sogar die Grundrechte wieder
herzustellen!
Von allen Autoren werden die
beiden Standardargumente Verlockung/Täuschung und Zwang/Terrorisierung
miteinander verknüpft, dabei schließen sie sich doch gegenseitig aus: Wen der
Terror Hitlers einschüchterte, der konnte doch wohl nicht gleichzeitig an seine
Versprechungen glauben! Das Argument der Einschüchterung durch die Präsenz der
SA vor Ort in der Kroll-Oper ist insofern nicht stichhaltig, als die Mehrheit
der Zentrumsfraktion für sich die Entscheidung schon vorher getroffen und
diesbezüglich noch einmal Gespräche mit Hitler geführt hatte; vor allem hatte
sie sich bereits seit Wochen grundsätzlich mit der Idee einer Ausschaltung des
Reichstages – zeitlich befristet, gewiss – angefreundet, und zwar so sehr, dass
nicht einmal die Brüskierung durch Hitler, der die ohnehin vagen Versprechungen
nicht wie vereinbart schriftlich gab, sie zu erschüttern vermochte. »Dass das
Zentrum dem Ermächtigungsgesetz zustimmen werde, hielt der Kanzler bereits nach
dem ersten Gespräch vom 20. März für sicher.« (Winkler, Der Weg ...,
S. 902) In seiner Rede dazu beschwor der Zentrumsvorsitzende Kaas das
»nationale Verantwortungsgefühl« und den »großen Sammlungsgedanken«, den seine
Partei »schon seit langem und trotz aller vorübergehenden Enttäuschungen mit
Nachdruck und Entschiedenheit vertreten« habe, notwendig sei jetzt »eine
rettende Tat«, um die »Fortführung des nationalen Aufstiegswerkes zu sichern,
die Wiederherstellung eines geordneten Staats- und Rechtslebens zu
beschleunigen ...«(1)
So verschleiert die
Argumentation Täuschung und Terror – Letzteres ultimativ formuliert von dem
damaligen liberalen Abgeordneten und späteren FDP-Vorsitzenden Reinhold Maier
im Rückblick 1947: »Wir haben auch den Neinsagern das Leben gerettet«(2) –,
dass die Entscheidung schon zuvor gefallen war und zuvor auch hätte anders ausfallen
können: Wenn das Zentrum als die Fraktion, auf die es nicht nur wegen der
Stimmenzahl ankam, sondern auch weil sich die kleineren Fraktionen nach ihr
richteten, von vornherein Hitler ihr Nein statt ihr Ja signalisiert hätte,
hätte Hitler das Gesetz mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht erst
eingebracht.
Doch an entschuldigenden
Erklärungen für den Sündenfall der Demokraten fehlt es nicht; so heißt es im
Materialband zu einer Fernsehdokumentation von Rüdiger Proske, die
Nationalsozialisten ȟberrumpelten damit die in den Bahnen der
Rechtsstaatlichkeit denkenden Politiker« (S.457). Tatsächlich retten sich
gerade Filmdokumentationen mit der Empathie in den vermeintlichen oder echten
Fatalismus jener Monate, vermittelt durch die Macht der Bilder, aus dem Erklärungsnotstand,
deutlich kommt dies auch in der Verfilmung von Joachim C. Fests Hitler –
eine Karriere heraus. In der Tat kann man sich bei solchen Darstellungen
einem Sog der Resignation auch im Rückblick kaum erwehren. Wie man gleichwohl
nicht-resignativ über die Resignation schreiben kann, weil eine Alternative
aufzeigend, hat Alfred Andersch auf literarische Weise in der Passage seines
autobiografischen »Berichts« Die Kirschen der Freiheit bewiesen, wo er
beschreibt, wie nach dem Reichstagsbrand die SA das Münchner Gewerkschaftshaus
besetzte, während eine »Mauer aus Menschen« – Gewerkschaftlern,
Sozialdemokraten und Kommunisten – »mit der Faust in der Tasche geballt«
regungslos zusah, ein literarisches Zeugnis, das ich deswegen auch in den
Geschichtsunterricht einbaue; sein Fazit lautet:
»Dies wäre der Augenblick
des Aufstandes gewesen, der Deutschland vielleicht ein anderes Gesicht gegeben
hätte. ... Jetzt eine kleine Bewegung nur, ein einziger Schrei, und alles käme
in Gang: ... der Sturmlauf zum besetzten Haus, das Knattern von Gewehrsalven,
zusammenbrechende Körper, aber das Klirren von Fensterscheiben, die Eroberung,
der Sieg, die Tat. Sicherlich, es wäre nur ein kleiner Sieg gewesen, eine rasch
verwehende Tat, morgen ausgelöscht vom Orkan der Niederlage – aber er hätte
genügt, hätte den Staatsstreich in ein für alle sichtbares Blutbad verwandelt
und den Schein der ›Ordnung‹ zerstört.« (S. 35).
Das gleiche Fazit hat auch
Golo Mann als einer der wenigen von der Historikerseite gleichfalls schon in den
Fünfzigerjahren gezogen (damals wohl noch unter dem Eindruck des selbst
Erlebten): »Aber wenn es so stand« – Brünings Rechtfertigung, Hitler habe die
Macht ohnehin schon gehabt –, »dann wäre es doch besser gewesen, einen letzten
würdigen, wenn auch praktisch nicht mehr wirksamen Protest zu wagen, anstatt
gewalttätigem Umsturz jenen Schein der Reichskontinuität zu geben, an dem
Hindenburg und, wegen Hindenburg, auch dem Diktator so viel gelegen war. Die
Sozialdemokraten, jene von ihnen, die noch in Freiheit waren, dachten so.« (S.
822)
Doch es geht nicht nur um
die politische Moral.
Legal, illegal, ...?
Auf der Website www.geschichtsforum.de
diskutieren Geschichtsbegeisterte im Internet. Im vergangenen Dezember entstand
eine Diskussion über die Legalität von Hitlers »Machtergreifung«. Symptomatisch
ist die dort geäußerte Meinung: »Rein rechtlich war,
denke ich, alles legal, moralisch nicht, aber das ist keine juristische
Kategorie.« Mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Nürnberger Prozess, der
die Frage der auch nur formalen Legalität des Ermächtigungsgesetzes zu Recht
abschlägig beschieden hat, vermitteln fast alle Schullehrbücher und etliche
historische Standardwerke den Eindruck, das Gesetz sei zwar durch Druck und
Terror zustande gekommen, selbst aber verfassungsgemäß gewesen, weil mit
verfassungsändernder Mehrheit beschlossen: Es war »legal, wenn man so will«
(Haffner, S.236). Für das Oberstufenbuch Geschichte und Geschehen II war
sogar die ganze Gleichschaltungsphase vom Januar 1933 bis August 1934 »in formaler
Hinsicht legal« (S.16) auf Grund des Artikels 48 der Weimarer Verfassung
(Notverordnungen). Fast nirgendwo wird berücksichtigt, dass das
Ermächtigungsgesetz Hitler auch zu Gesetzen »ermächtigte«, die von der
Verfassung abwichen, also damit auch die Verfassung selbst abgeschafft wurde.
Eine verfassungsändernde Mehrheit konnte sich nach dem Sinn der Verfassung
allerdings nicht selbst abschaffen, so wie generell niemand sich auf die Demokratie
(Mehrheitsprinzip) zur Abschaffung der Demokratie berufen kann. Wenn die
Verfassung also in Wort und Sinn gebrochen wurde, konnte sie keine weiteren
Schritte »legalisieren«, und der Bruch selbst, das Ermächtigungsgesetz, war
somit in keiner Hinsicht legal, auch formal nicht, sondern die Zustimmung zu
einer Diktatur, von der man, wie zumindest aus den »Verhandlungen« des Zentrums
mit Hitler hervorgeht, hoffte, dass man davon weitgehend verschont bliebe, wenn
man nicht ohnehin schon von der Notwendigkeit der Abschaffung der Demokratie
überzeugt war. Positiv unter den Lehrbüchern sticht hierzu Wir machen
Geschichte 4 heraus, wo klar der Verfassungsbruch benannt, allerdings in
der Erklärung dafür wieder auf die Verführungsthese rekurriert wird. Das
Stichwort »Verführung« knüpft allerdings wieder an die Schulddebatte nach 1945
an, bei der es als Argument diente, das »Führerprinzip« zum Zwecke der
Entschuldigung umzukehren: »Führer« und »Verführte«, so wie sich die ersten
alliierten Beobachter des befreiten Deutschland über die Standardausrede
»belogen und betrogen« wunderten, womit »der Deutsche ... unbedacht zugibt,
dass er irgendwann einmal an die Nazis geglaubt hat und ihnen gefolgt ist.«
(Lerner, S. 39).
Doch viele Schullehrbücher
ignorieren schlicht die Fakten: So bekommt das Ermächtigungsgesetz in einem
Oberstufenlehrbuch gar noch die Legitimation durch den Reichsrat, denn dieser
»ließ das Gesetz am selben Tag ohne Einwand passieren« (Buchners Kolleg Geschichte,
S. 403), während es in einem anderen Oberstufenbuch heißt: »Das Zentrum gab
sich wie alle bürgerlichen Parteien mit Hitlers Beschwichtigungen, der
Reichspräsident und die Länder würden unangetastet bleiben, zufrieden.« (Kursbuch
Geschichte, S. 416) Entsprechend meinen auch die Autoren der CD-Rom der
Shoa Foundation im politisch-historischen Teil, dass die »Bedenken des
Zentrums« durch später nicht eingehaltene Zusagen »ausgeräumt« wurden: »Sicherung
der Existenz der obersten Verfassungsorgane, der Länder ...« Das neueste Buch für die Klasse 10 meint sogar, die
»Vertreter der Länder« hätten dem Gesetz zugestimmt, und ignoriert damit auf
eklatanteste Weise, dass es diese »Ländervertreter« zu jenem Zeitpunkt
überhaupt nicht mehr gab. (Das waren Zeiten 4, S.55). Denn
einfach unter den Tisch fällt hier wie auch andernorts, dass zu diesem
Zeitpunkt bereits die letzte legitime, weil demokratisch gewählte Landesregierung
(Bayern) seit zwei Wochen abgesetzt und durch einen Reichskommissar ersetzt
worden war, folglich zwar die Länder noch existierten, der Reichsrat aber keine
Ländervertretung mehr darstellte, wie Hitler sogar bei seiner Rede zum
Ermächtigungsgesetz im Reichstag selbst ausführte: »Die Reichsregierung
beabsichtigt daher nicht, durch dieses Ermächtigungsgesetz die Länder
aufzuheben. Wohl aber wird sie diejenigen Maßnahmen treffen, die von nun ab
und für immer eine Gleichmäßigkeit der politischen Intentionen im Reich und in
den Ländern gewährleisten.« (Hervor. W. G.) (3)
Der lange Schatten Hitlers
(frei nach dem Titel von Richard Evans) wird im historischen Rückblick auf das
Ermächtigungsgesetz heute noch vom fahlen Licht – dem »Schein« im doppelten
Sinne – dieser »Ordnung« geworfen, der »legalen Revolution«, die Hitler
versprach und die man so gerne glauben wollte um das eigene Gewissen zu
überlisten. Die historische Forschung und mehr noch ihre didaktische Reduktion
in den meisten Lehrbüchern hat sich bislang kaum über die
Rechtfertigungsargumentation der Beteiligten erhoben, ob es um die Bedeutung
der Entscheidung geht oder um die Motive dafür, bis dahin, dass, wie zuletzt
gezeigt, schlichtweg die Fakten übergangen werden. Die Scheinlegalität des
Ermächtigungsgesetzes war für Hitler jedoch wichtig, weil für die konservativen
Eliten wichtig, auf die er zu jenem Zeitpunkt noch angewiesen war, ein offener
Staatsstreich 1933 wäre ja auch gegen Hindenburg und die Institution des
Reichspräsidenten geführt worden und damals von der Reichswehr nicht gedeckt
gewesen. Das Ermächtigungsgesetz ermöglichte es Hitler ja gerade erst, unter
Wahrung dieses legalen Scheins seine Koalitionspartner auszubooten.
So war das
Ermächtigungsgesetz auch von Bedeutung, wenn man nach historischer Schuld und
Verantwortung fragt und danach, wie und was aus der Geschichte zu lernen sei.
Wieso sollte man den Deutschen nach 1933 Mitschuld an den Verbrechen der Nazis
oder Mitverantwortung durch Wegsehen vorwerfen, wenn man bereits den letzten
Abgeordneten der Weimarer Republik, gewählten Repräsentanten demokratischer
Verantwortung, Verständnis dafür entgegenbringt, dass sie sich vom
»Nazi-Terror« haben einschüchtern lassen? Was drohte ihnen bei einem Nein im
Reichstag – oder besser noch im Vorfeld – im Vergleich zum Widerstand unter der
vollendeten Diktatur?
So beruhigen letztlich in
ihrer Tragik die beiden großen, immer wieder verfilmten Themen des
Widerstandes, das Attentat vom 20. Juli und die Weiße Rose, das historische
Gewissen in zweifacher Weise: durch ihr Geschehen wie durch ihr Scheitern, also
die vermeintliche Aussichtslosigkeit. Die jüngst gleichermaßen gelobten Filme
über Sophie Scholl und den Untergang treten in eine seltsame Parallelität
zueinander. In der Retrospektive scheint uns der Blick auf den Untergang
den Blick auf den Anfang zu ersparen, die Aussichtslosigkeit des Endes
überdeckt die Aussichten, dies zu verhindern. Denn so total und unausweichlich,
fatal im doppelten Wortsinne, wie das Ende des Nationalsozialismus 1945
erscheint im Rückblick auch das Ende der Weimarer Republik 1933.
Übergangsmythen, gleich den rites de passages in traditionalen Gesellschaften,
stehen, wie Wolfgang Fritz Haug hierzu sehr treffend bemerkt, als
»ritualisiertes Gedenken an Übergänge« (S. 175) im Zentrum der
Vergangenheitsbewältigung aber nicht unbedingt im Zentrum der Aufklärung.
1
Stellungnahme des Prälaten Dr. Kaas für das Zentrum, in:
Johannes Hohlfeld (Hrsg.): Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte
von 1848 bis zur Gegenwart, IV. Band, Die Zeit der nationalsozialistischen
Diktatur 1933–1945 – Aufbau und Entwicklung 1933–1938, Berlin/München
(Giersch & Co.), S. 36.
2
Maier, Reinhold: »Rede vor der Demokratischen Volkspartei
1947«, in: Wilhelm Hofmann: Reinhold Maier, Die Reden. Eine A uswahl.
Stuttgart 1982, S. 40, vgl. PSM-Data Geschichte (www.zum.de/psm).
3
Regierungserklärung Adolf Hitlers vom 23.3.1933, in Johannes
Hohlfeld (Hrsg.), a. a. O.
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(Cornelsen) 2000